Prinzip des kleinsten Zwanges
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[Bearbeiten] Gaußsches Prinzip des kleinsten Zwangs
Prinzip des kleinsten Zwanges (auch gaußsches Prinzip des kleinsten Zwanges) ist ein von Carl Friedrich Gauß aufgestelltes Theorem der klassischen Mechanik, wonach ein mechanisches System sich so bewegt, dass der Zwang zu jedem Zeitpunkt t minimiert wird.
Mathematisch wird der Zwang als Integral formuliert (a: Beschleunigung, F: Kraft, m: Masse). Der Pfeil über Größen bedeutet, dass die Größen gerichtet sind (Vektor):
Bei der Minimierung des Zwanges stehen alle mit den Zwangsbedingungen verträglichen Bewegungen zur Konkurrenz, bei denen zur Zeit t die Lagen und die Geschwindigkeiten übereinstimmen. Konkurrenz bedeutet, dass alle möglichen Bewegungen betrachtet werden - auch die, die wegen des Prinzip des kleinsten Zwanges in der Realität gar nicht auftreten.
In der runden Klammer stehen die Differenzen zwischen den Beschleunigungen der Massenelemente und den Beschleunigungen, die sie als freie Massen unter der Einwirkung der an ihnen angreifenden eingeprägten Kräfte erfahren würden. Das Prinzip lässt sich damit wie folgt formulieren:
bzw.
Die eingeprägten Kräfte dürfen explizit von der Zeit, vom Ort und der Geschwindigkeit der Masseelemente abhängen, nicht jedoch von deren Beschleunigung.
Das Prinzip des kleinsten Zwangs ist für sehr allgemein formulierte Zwangsbedingungen gültig. In diese können die Zeit, die Orte und Geschwindigkeiten der Masseelemente nichtlinear eingehen. Dadurch grenzt sich das Prinzip des kleinsten Zwangs zum Beispiel vom D'Alembertschen Prinzip der virtuellen Arbeit ab, bei dem in der einfachsten Fassung holonome Zwangsbedingungen gefordert werden.
[Bearbeiten] Beispiel
Gegeben ist ein Pendel mit 2 Punktmassen und masseloser starrer Stange (s. Bild). Die Kräfte Fe1 und Fe2 sind die eingeprägten Kräfte mit den Beträgen m1g und m2g. at1 und at2 sind die Tangentialbeschleunigungen der Massen m1 und m2, an1 und an2 die zugehörigen Normalbeschleunigungen. Der Zwang ist damit:
Bei der Bestimmung des Minimums für obigen Ausdruck ist zu beachten, dass die Variation der Normalbeschleunigungen wegen der gelenkigen Aufhängung verschwindet, während für die Tangentialbeschleunigungen gilt:
und
Somit wird
Wegen der Willkürlichkeit von folgt nach Kürzung des Faktors 2 die Bewegungsgleichung:
[Bearbeiten] Eine formale Interpretation
Im Folgenden wird eine Interpretation des Gaußschen Prinzips für ein allgemeines Punktmassensystem mit Zwangsbedingungen gegeben.
[Bearbeiten] Systembeschreibung
Gegeben seien Punktmassen mit den Massen mk > 0
. Die kartesischen Koordinaten der Punktmassen bezüglich eines Inertialsystems werden zu einem Vektor
zusammengefasst, wobei x3k − 2,x3k − 1,x3k jeweils zur k-ten Punktmasse gehören
.
Dazu passend wird die Massenmatrix definiert. Die eingeprägten Kräfte sind von der Zeit t, den Orten
und den Geschwindigkeiten
der Punktmassen abhängig und werden mit Hilfe einer vektorwertigen Funktion
dargestellt.
Die Bewegung des freien Systems würde also durch die Gleichung
beschrieben werden, wobei nun der Ort x(t) als zeitabhängige Funktion zu interpretieren ist und die erste bzw. zweite Zeitableitung sind.
Bei dem zu untersuchenden System sind jedoch zusätzliche Zwangsbedingungen gegeben
, die durch die Gleichung
mit einer vektorwertigen Funktion beschrieben werden.
Mit Hilfe des Gaußschen Prinzips soll die Bewegungsgleichung des Systems mit Zwangsbedingungen aufgestellt werden, die an die Stelle der Bewegungsgleichung für das freie System tritt.
[Bearbeiten] Interpretation des Gaußschen Prinzips
Das oben verbal formulierte Gaußsche Prinzip stellt nicht nur eine Optimierungsaufgabe dar, sondern eine ganze Familie durch die Zeit t parametrisierter Optimierungsaufgaben, denn der Zwang soll zu jedem Zeitpunkt ein Minimum annehmen (das ist einer der feine Unterschiede des Gaußschen Prinzips zum Prinzip der stationären Wirkung, bei dem die Wirkung S[x] ein von der gesamten Bewegung x abhängiges Funktional ist).
Zu jedem festen Zeitpunkt t konkurrieren alle zweimal stetig im Kurvenparameter τ differenzierbaren Kurven
die die Zwangsbedingung
erfüllen, an der Stelle τ = t durch den selben Ort
gehen und die selbe Geschwindigkeit
haben um das Zwangsminimum.
Zum Aufstellen einer Gleichung für die den Zwang minimierende Bewegung x wird eine im Abschnitt "Ein Hilfsmittel aus der Analysis für reelle Funktionen in einer reellen Veränderlichen" des Eintrages zur Variationsrechnung vorgestellte Methode verwendet.
Aus der Menge aller konkurrierender Kurven wird eine beliebige reell-parametrige Schar herausgegriffen, die nach dem Scharparameter α differenzierbar sei. Die Kurve für α = 0, also
, soll gerade mit der physikalisch ausgezeichneten Bewegung
übereinstimmen. Das heißt, dass zu jeder Zeit t der vom Scharparameter α abhängigen Zwang
an der Stelle α = 0 ein Minimum annimmt (die zweite Darstellung dient im Wesentlichen einer übersichtlicheren Notation). Hält man die Zeit t fest, so ist nur noch von α abhängig. Eine notwendige Bedingung dafür, dass diese Funktion bei α = 0 ein Minimum annimmt, ist, dass die Ableitung des Zwangs nach α bei α = 0 gleich null wird, also
Berücksichtigt man, dass diese Gleichung für jede beliebige gemäß den obigen Voraussetzungen gewählte Kurvenschar gelten muss, erhält man daraus die Bewegungsgleichung für das System mit den vorgegebenen Zwangsbedingungen.
Das wird im nächsten Abschnitt weiter ausgeführt.
[Bearbeiten] Übergang zum Jourdainschen Prinzip und zur Lagrangeschen Darstellung
Entsprechend der eben skizzierten Vorgehensweise werden nun die Bewegungsgleichungen in einer der Berechnung besser zugänglichen Form aufgestellt. Das dadurch entstehende Gleichungssystem wird auch als Jourdainsches Prinzip interpretiert.
Zunächst führt man die Differentation nach α in der letzten abgesetzten Gleichung weiter aus.
Hierbei wurde benutzt, dass viele Terme der inneren Ableitung wegen und
gleich null sind.
Um zu verdeutlichen, dass in der Klammer die linke Seite der Kräftebilanz für das freie System steht, wird noch die Massenmatrix M in die Klammer hinein gezogen.
Die mit den Zwangsbedingungen verträglichen Variationen der Beschleunigung erhält man durch Ableitung der Zwangsbedingung
nach τ an der Stelle τ = t und dann nach α.
Hier wurden der Übersicht halber die Argumente weggelassen. Bei der anschließenden Differentation nach α nutzt man wieder aus, dass für τ = t die Variationen von Ort und Geschwindigkeit gleich null sind und erhält die gewünschte Bedingung dafür, dass mit den Zwangsbedingungen verträglich ist:
Führt man in der letzten Gleichung und in der letzten Gleichung für für die Variation der Beschleunigung
das Zeichen δv ein und substituiert man (korrekter Weise) x(t,τ,α) | α = 0,τ = t = x(t) und
, so erhält man letztendlich aus dem gaußschen Prinzip die übliche Schreibweise für das Jourdainsche Prinzip der virtuellen Leistung:
Die physikalisch ausgezeichnete Bewegung verläuft gerade so, dass zu jedem Zeitpunkt t die Gleichung
für alle mit
erfüllt ist.
Das kann so interpretiert werden, dass zumindest in den Richtungen δv, in denen sich das System momentan frei bewegen kann, das System mit Zwangsbedingungen auch die Bewegungsgleichungen des freien Systems erfüllen muss.
Die Größen δv werden als virtuelle Geschwindigkeiten bezeichnet.
Für eine effektivere Berechnung kann man das vorstehende Gleichungssystem wie folgt in die Lagrangesche Darstellung überführen.
Mit der zweiten Gleichung wird ausgedrückt, dass die Menge aller zulässigen δv gerade der Kern der Matrix ist und die erste Gleichung besagt, dass
im orthogonalen Komplement dieser Menge liegt. Insgesamt erhält man also
Es gibt also einen (zeitabhängigen) Vektor , mit dem
gilt.
Eine Interpretation dafür ist, dass senkrecht zu den möglichen virtuellen Geschwindigkeiten δv beliebige Zwangskräfte wirken können.
[Bearbeiten] Herleitung des Prinzips der virtuellen Arbeit aus dem Jourdainschen Prinzip
Es ist möglich, dass sich die Einschränkungen für die virtuellen Geschwindigkeiten δv nicht direkt aus der Ableitung der Zwangsbedingung nach ergibt.
Ein gutes Beispiel dafür sind holonome Zwangsbedingungen, also Zwangsbedingungen der Form
H(t,x(t)) = 0
mit einer Funktion . Aus der Anschauung ist klar, dass die Zwangsbedingung für den Ort, die das System in eine bestimmte Bahn zwingt, auch die möglichen Geschwindigkeiten einschränkt.
Welche Zwangsbedingungen sich für die Geschwindigkeiten ergeben, sieht man, wenn man die Zwangsbedingungen für den Ort nach der Zeit ableitet:
Mit
kann man diese Zwangsbedingung auch in der für das Jourdainsche Prinzip passenden Form
schreiben. Rechnet man die partielle Ableitung nach in der einschränkenden Bedingung
für die virtuellen Geschwindigkeiten δv aus, so ergibt sich die Gleichung
Das heißt, die Zwangsbedingung für den Ort muss nach dem Ort abgeleitet werden.
Mit der neuen Bezeichnung δx statt δv (das ist wirklich nur eine Umbenennung; Namen sind Schall und Rauch...) ergibt sich die übliche Form des Prinzips der virtuellen Arbeit:
Die physikalisch ausgezeichnete Bewegung verläuft so, dass zu jedem Zeitpunkt t die Gleichung
für alle mit
erfüllt ist. Die Größen δx werden auch als virtuelle Verrückungen bezeichnet. Die Lagrangesche Darstellung des Prinzips der virtuellen Arbeit liest man mit aus der entsprechenden Gleichung des vorhergehenden Abschnittes ab:
mit
.
[Bearbeiten] Literatur
- Georg Hamel: Theoretische Mechanik. Springer-Verlag, Berlin, 1949.
- Werner Schiehlen: Technische Dynamik. Teubner Studienbücher, Stuttgart, 1986.