Wirtschaftsverfassung
aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Der Begriff Wirtschaftsverfassung wird mit unterschiedlichen Bedeutungsinhalten verwandt. Der Begriff entstammt an sich der Terminologie der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Dort wird er im Sinne der „Gesamtentscheidung über die Ordnung des Wirtschaftslebens eines Gemeinwesens“ verstanden.
Auch im rechtswissenschaftlichen Sprachgebrauch in Deutschland kommen dem Begriff unterschiedliche Bedeutungsinhalte zu. Früher wurde er meist als die Gesamtheit aller Normen des öffentlichen und privaten Rechts verstanden, in denen Regelungen zur wirtschaftlichen Ordnung enthalten sind. Heute hat es sich allerdings durchgesetzt, mit dem Begriff die Gesamtheit der wirtschaftsordnenden Rechtsnormen im Range des Verfassungsrechts zu bezeichnen. Insofern bedeutet der Begriff „Wirtschaftsverfassung“ in Deutschland die sich aus dem Grundgesetz ergebende rechtliche Grundregelung der wirtschaftlichen Ordnung.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes
Allerdings enthält das Grundgesetz anders als noch die Weimarer Reichsverfassung keinen Abschnitt, der explizit „das Wirtschaftsleben“ regelt (Art. 151 – 166 WRV). Auch mit der Aufnahme der Grundrechte der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG), der Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG) und der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) sollte dem Grundgesetz keine Wirtschaftsordnung mitgegeben werden. Diese wollte der Parlamentarische Rat der Zukunft überlassen. Auch die in Art. 15 GG geregelte Sozialisierung sollte daran nichts ändern. Gleichwohl wurde insbesondere in der Nachkriegszeit, aber auch noch heute, darüber gestritten, welche Wirtschaftverfassung das Grundgesetz enthält.
[Bearbeiten] Hans Carl Nipperdey
Hans Carl Nipperdey hat die These entwickelt, dass dem Grundgesetz die Wirtschaftsverfassung der Sozialen Marktwirtschaft zugrunde liegt. Er sah die in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Allgemeine Handlungsfreiheit als die Magna Charta der Marktwirtschaft, die durch das Sozialstaatsprinzip ergänzt das Grundkonzept der Sozialen Marktwirtschaft verfassungsrechtlich gewährleistet ist. Der Gesetzgeber müsse dies bei seiner Gesetzgebungsarbeit berücksichtigen und dürfe daher auch keine Gesetze schaffen, die der Sozialen Marktwirtschaft zuwiderlaufen.
[Bearbeiten] Ernst Rudolf Huber
Ernst Rudolf Huber stellte sich gegen Nipperdeys Konzept und behauptete, dem Grundgesetz liege das Konzept einer „gemischten Wirtschaftsverfassung“ zugrunde. Dies ergebe sich aus dem Gleichgewicht zwischen der in den Grundrechten gewährleisteten Offenheit einerseits und dem materiellen Systemabschluss durch andere Regelungen andererseits.
[Bearbeiten] Wolfgang Abendroth
Im Gegensatz zu den konservativen Staatsrechtlern hatte der sozialistisch orientierte Staatsrechtler und Politologe Wolfgang Abendroth versucht, die sozialstaatlichen Elemente des Grundgesetzes zu betonen. Durch die Sozialstaatsklausel werde nach seiner Ansicht der Gesellschaft die verfassungsrechtliche Möglichkeit eröffnet, „ihre eigenen Grundlagen umzuplanen“. Der Sozialismus könne daher auch unter dem Grundgesetz verwirklicht werden; wer dafür eintrete, verstoße nicht gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und dürfe daher auch nicht als angeblicher Verfassungsfeind verfolgt werden.
[Bearbeiten] Das Bundesverfassungsgericht
Das Bundesverfassungsgericht hat diese Ansätze früh verworfen und sich bereits in der Investitionshilfe-Entscheidung vom 20. Juli 1954 (BVerfGE 4, 7) dahingehend festgelegt, dass das Grundgesetz weder die wirtschaftspolitische Neutralität der Regierungs- und Gesetzgebungsgewalt noch eine nur mit marktkonformen Mitteln zu steuernde "soziale Marktwirtschaft" garantiert. Der Verfassungsgeber habe sich nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden. Daher spricht das Bundesverfassungsgericht von der „wirtschaftpolitischen Neutralität“ des Grundgesetzes.
[Bearbeiten] Weitere Entwicklung
Das Bundesverfassungsgericht hat seine Rechtsprechung der „wirtschaftspolitischen Neutralität“ größtenteils beibehalten und sie auch in der Mitbestimmungsentscheidung vom 1. März 1979 (BVerfGE 50, 290), in der es um die Verfassungsmäßigkeit des Mitbestimmungsgesetzes ging, im Wesentlichen bestätigt. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht schon in dieser Entscheidung nachdrücklicher noch als in der Investitionshilfe-Entscheidung darauf hingewiesen, dass die gesetzgeberischen Möglichkeiten zur Umgestaltung in den Grundrechten ihre Grenzen finden müssten.
Auch spätere Grundgesetzänderung, namentlich die 1967 mit Art. 109 GG eingeführte Möglichkeit der Globalsteuerung und auch die Entwicklung im Zusammenhang mit der deutschen Einheit und der europäischen Integration haben nach vorherrschender Ansicht an der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes nichts geändert.
[Bearbeiten] Literatur
- Peter Badura/Fritz Rittner/Bernd Rüthers, Mitbestimmungsgesetz 1976 und Grundgesetz, München 1977
- Ernst Rudolf Huber, Der Streit um die Wirtschaftsverfassung (I), in: DÖV 1956, S. 97 ff.
- Hans Carl Nipperdey, Wirtschaftsverfassung und Bundesverfassungsgericht, Köln, Berlin, München 1960
Wikisource: Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland – Quellentexte |