Wanderndes Gottesvolk
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Der Ausdruck Wanderndes Gottesvolk bezeichnet ursprünglich ein konstitutives Moment im Selbstverständnis des biblischen Volkes Israel in wesentlichen Stadien seiner Geschichte. Israel erfährt sich als von Gott erwählt auf dem Weg zu einem verheißenen Ziel. Dieses Ziel findet vielfache Gefährdungen, aber ungeachtet mancher Irrwege, Entbehrungen und Rückschläge erreicht die Wanderung mit Gottes Hilfe ihr Ziel.
Die erzählte Geschichte der gemeinsamen Wanderung wird zu einem nationalen Mythos; sie stiftet Gemeinsamkeit, Verantwortung und Verwandtschaft, sie schafft Identität und Unterscheidung zu den anderen Völkern, den Heiden. Das Bewusstsein, Gottes eigenes Volk zu sein findet seinen klaren Ausdruck in der Bundesformel: Sie sollen mein Volk und ich will ihr Gott sein (Jeremia 7,23). Markant und vielfältig artikuliert vor allem das Deuteronomium dieses Erwählungsbewusstsein: Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind.
Seinen ersten Niederschlag findet das Bild in der Gestalt des Abraham. Dieser wird aufgrund einer göttlichen Berufung, die ihm Schutz, Nachkommenschaft und Landbesitz zuspricht, zum Führer einer Nomadengruppe auf der Wanderung nach Kanaan, das er im Rahmen der Landnahme gegen den Widerstand der Ureinwohner erobert. Diese Wanderung trägt Abraham im Volk Israel den Ruf ein, Träger der Verheißung und des Vertrauens zu sein.
Seinen anderen Niederschlag findet das Bild in der durch Moses verkörperten Exoduserzählung. Dieser wird zum Befreier des Volkes Israel aus der ägyptischen Sklaverei. Der Weg des Gottesvolkes ins Gelobte Land besteht aus der Flucht aus Ägypten durch das Schilfmeer und der Wüstenwanderung.
Das Christentum reklamiert die Bezeichnung Wanderndes Gottesvolk für sich vielfältig, im besonderen im Hebräerbrief. Dieser übernimmt die Führergestalten Abraham und Moses typologisch in Hebräer 3-4; 11-12 und ermuntert zur Wanderung: lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf der uns bestimmt ist (Hebräer 12,1).
Mit dem Kirchenvater Augustinus wird das Bild der Kirche als wanderndes Gottesvolk in der Geschichtsphilosophie etabliert. Er beschreibt in de civitate dei die Spannung zwischen civitas dei (Reich Gottes) und civitas terrena (Staat), in dessen Bereich der Kirche als civitas peregrina (wanderndes Volk) eine entscheidende aber gleichsam vorläufige Rolle zukommt.