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Ekel ist die Bezeichnung für die Empfindung einer starken Abneigung und von Widerwille gegen Substanzen und Objekte wie Nahrung, Exkremente und verwesendes organisches Material oder gegen Gerüche. Ekel kann jedoch auch gegenüber Personen oder Verhaltensweisen ausgedrückt werden. Im Gegensatz zu anderen weniger starken Formen der Ablehnung äußert sich Ekel durch starke körperliche Reaktionen wie Übelkeit und Brechreiz, Schweißausbrüche, absinkenden Blutdruck bis hin zur Ohnmacht. Wissenschaftlich gilt Ekel als elementare Emotion, nicht als Instinkt.
Lothar Penning definiert Ekel in seiner Dissertation zum Thema als „einen sozialen Mechanismus, der kulturell bedingt und pädagogisch vermittelt, sich den primitiven Brech- und Würgereflex zunutze macht, um die vorrational erworbene, soziale Basisidentität zu schützen.“[1]
Ekel spielt auch bei einigen Phobien eine Rolle, das wesentliche Merkmal einer Phobie ist jedoch Angst, nicht Ekel.
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[Bearbeiten] Einführung
Ekel (engl. disgust, frz. degoût) entsteht im Gehirn im so genannten Mandelkern, der zum limbisches System gehört, wo auch andere Emotionen verarbeitet werden. Die Aktivierung dieses Areals bei Ekelreaktionen konnte in Studien nachgewiesen werden. Die Fähigkeit, Ekel zu empfinden ist zwar angeboren, Ekelgefühle werden jedoch erst im Laufe der ersten Lebensjahre durch Sozialisation erworben. Kleinkinder empfinden nachgewiesenermaßen noch keinen Ekel gegenüber Substanzen, Objekten oder Gerüchen; sie stecken auch Kot, Käfer oder Regenwürmer in den Mund. Mitunter wird auf die Tatsache verwiesen, dass schon Neugeborene mit dem Verziehen des Gesichts auf bitteren Geschmack von Flüssigkeit reagieren, doch wird das von der Mehrheit der Wissenschaftler nicht als Ekelreaktion interpretiert, sondern als angeborene Geschmacksaversion, wie auch die Präferenz für süß angeboren ist. Auf Gerüche, die Erwachsene als ekelerregend bezeichnen wie den von Kot oder Schweiß, reagieren Kleinkinder bis etwa drei Jahre nicht.[2]
Da die Ekelreaktion kein angeborener Instinkt ist, wird sie im Laufe der Sozialisation nach dem Vorbild von anderen, vor allem den Eltern, erlernt und ist kulturell beeinflusst. Das Prinzip lautet „Ekele dich vor den Dingen, die in der Gesellschaft, in der du lebst, als ekelhaft gelten!“[3] Evolutionsbiologisch betrachtet erscheint das vor allem in Hinblick auf die Ernährung sinnvoll, da das Nahrungsangebot nicht in jedem Kulturkreis identisch ist und sich im Laufe der Evolution auch ständig verändert hat. Ein Forschungsansatz geht davon aus, dass die menschliche Ekelfähigkeit in den Genen angelegt ist, die Objekte des Ekels jedoch von der jeweiligen Kultur festgelegt werden und variabel sind. Das größte Ekelpotenzial haben weltweit offenkundig tierische Produkte, im Gegensatz zu Pflanzen und unbelebten Objekten. [4]
Weltweit gibt es einen typischen Gesichtsausdruck für das Ausdrücken von Ekel: die Nase wird gerümpft, die Oberlippe wird hochgezogen, während die Mundwinkel nach unten gehen, bei starkem Ekel wird zusätzlich leicht die Zunge herausgestreckt.[2] Physiologisch kommt es häufig zu einem Würgereflex, Speichelfluss und Übelkeit mit Brechreiz, im Extremfall zu starkem Blutdruckabfall und zur Ohnmacht. Die Ekelempfindlichkeit ist individuell unterschiedlich stark ausgeprägt. Es ist möglich, Ekel zu verdrängen oder zu überwinden, was zum Beispiel in medizinischen Berufen oder bei Bestattern eine wichtige Rolle spielt, doch auch hier gibt es große individuelle Unterschiede.
Zu welchem Zweck sich die Fähigkeit zum Ekel im Laufe der Evolution herausgebildet hat, steht nicht eindeutig fest. Einige Wissenschaftler wie Paul Rozin halten eine starke Abwehrreaktion auf ungenießbare Substanzen für den Ursprung der Emotion. Auch die Psychologin Anne Schienle vermutet, dass der Ekel im Zusammenhang mit dem Würgereflex entstanden ist, der dazu dient, die Aufnahme ungenießbarer und schädlicher Nahrung zu verhindern. Nach dieser Theorie sind Ekelreaktionen erst später als Schutzmechanismus auch auf Substanzen wie Körperprodukte und Gerüche ausgeweitet worden.
Weltweit am häufigsten als ekelerregend bezeichnet werden Leichen, offene Wunden, Körperprodukte wie Kot, Urin oder Eiter, der Geruch verdorbener Lebensmittel und bestimmte Tierarten wie Maden, Würmer oder Ratten. Die Ausprägung der Ekelgefühle gegenüber diesen Objekten differiert jedoch in verschiedenen Kulturen und war nach Ansicht von Kulturwissenschaftlern in Europa in früheren Zeiten deutlich geringer ausgeprägt als heute.
Wissenschaftliche Experimente belegen, dass Assoziationen eine wesentliche Rolle beim Entstehen von Ekelgefühlen spielen. Viele Studienteilnehmer weigerten sich, eine Suppe zu essen, die zuvor mit einem fabrikneuen Kamm umgerührt wurde. Auch Orangensaft, der in einer neuen sterilen Urinflasche angeboten wurde, löste Ekel aus. Dasselbe gilt für Schokoladenpudding, der in der Form von Hundekot auf dem Teller angerichtet worden war - viele wollten ihn nicht essen, obwohl ihnen klar war, dass es sich um Pudding handelte.[3] Die Ekelgefühle wurden nachweislich nicht durch tatsächliche Qualitäten der Speisen ausgelöst, sondern nur durch negative Assoziationen zu Gegenständen bzw. Objekten.
Echte Ekelreaktionen sind nach Auffassung der meisten Forscher bei Tieren nicht zu beobachten, obwohl sie auf unangenehme Geschmacksreize deutlich erkennbar reagieren und die meisten Tierarten Unbekömmliches durch einen Würgereflex ebenso wie Menschen erbrechen können. Und so wie bei vielen Menschen führt Übelkeit nach dem Genuss eines Lebensmittels zur Entwicklung eines dauerhaften Abscheus gegenüber dieser Speise. „Wölfe, an die man präpariertes Schaffleisch verfüttert hatte, das heftige Übelkeit erregte, veränderten ihr Verhalten auf erstaunliche Art: Beim Anblick ihrer Lieblingsbeute flohen sie fortan oder unterwarfen sich mit jämmerlichen Gesten.“[5] Dieses ausgeprägte Meidungsverhalten lässt sich als Ekel interpretieren.
[Bearbeiten] Theorien
[Bearbeiten] Charles Darwin
Die ersten wissenschaftlichen Aussagen zum Ekel stammen von Charles Darwin als Teil seines Werks The Expression of the Emotions in Man and Animals (1872). Seine Definition lautete: „(...) something revolting, primarily in relation to the sense of taste, as actually perceived or vividly imagined; and secondarily to anything which causes a similar feeling, through the sense of smell, touch and even of eyesight“ (dt: etwas Widerstrebendes, vor allem in Zusammenhang mit dem Geschmackssinn, tatsächlich wahrgenommen oder in der Vorstellung; außerdem gegenüber allem, das ein ähnliches Gefühl hervorruft über Geruch, Berührung oder den Anblick). Als Erster beschrieb Darwin die universell übliche typische Mimik, die für Ekel charakteristisch ist. Er ging davon aus, dass die Ekelreaktion ein angeborener Instinkt ist und schon bei Säuglingen vorhanden, da diese auf unangenehme Geschmacksreize bereits mit dieser Mimik reagieren. Darwin sah den Ekel als evolutionäre Weiterentwickung des Brechreizes an; der typische Gesichtsausdruck sei ein Überbleibsel davon und diene der Kommunikation mit anderen, um sie vor Ungenießbarem zu warnen.[6]
[Bearbeiten] Sigmund Freud
Sigmund Freud deutet den Ekel als Abwehrmechanismus, als tendenziell neurotisches Symptom der Verdrängung archaischer Triebregungen und als Folge der Erziehung an, vor allem der frühkindlichen „Sauberkeitserziehung“. Dabei sieht er zugleich eine Ambivalenz von Ekel und Lust, da das Ekel erregende Objekt unverdrängt ein Lustgefühl verschaffen würde. Diese Emotion steht laut Freud demnach im Dienst von Ich und Über-Ich. Diese ursprüngliche Lust, zum Beispiel das positive Verhältnis zum eigenen Kot, werde nur im Falle von Perversionen ausgelebt, wo sie wieder den Ekel verdränge.[7] Als wesentlichen Auslöser für Ekelgefühle betrachtet Freud den Geruchssinn; seine Aussagen hierüber beschränken sich auf den Themenkreis der Sexualität und auf Körperausscheidungen.[8]
[Bearbeiten] Aurel Kolnai
1929 schrieb Aurel Kolnai einen ausführlichen Aufsatz mit dem Titel Der Ekel, der im Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung erschien. Für ihn handelt es sich dabei um eine Abwehrreaktion, die sich vor allem gegen Organisches richtet, aber auch eine moralische Dimension hat. Kolnai bezeichnet Ekel als ambivalente Gefühlsregung, da die auslösenden Objekte nicht nur abstoßend wirkten, sondern zugleich die Aufmerksamkeit fesselten. Der Speiseekel spielt bei ihm eine untergeordnete Rolle, er spricht Geruchs-, Gesichts- und Tastsinn wesentlich größere Bedeutung zu als dem Geschmack. Kolnai verwendet den Begriff „Überdrußekel“ für die Reaktion auf übermäßiges Essen und Trinken, aber auch Müßiggang. Als Urobjekt des Ekels sieht Kolnai alle Formen von Fäulnis und Verwesung an, und daher seien auch Exkremente ekelhaft. Ekelreaktionen auf Insekten erklärt er mit dem optischen Eindruck des Gewimmels und negativen Assoziationen wie Heimtücke und Boshaftigkeit. Außerdem sei auch wild wuchernde Vegetation ekelauslösend. Kolnai führt auch eine Reihe von als unmoralisch empfundenen Verhaltensweisen auf, die er mit Ekel in Verbindung bringt.[9] Kolnais Ausführungen sind nicht wertneutral und wissenschaftlich objektiv. Penning weist darauf hin, dass er aus der Perspektive eines konservativen Katholiken um 1930 schreibt.
[Bearbeiten] Paul Rozin
Seit den 1980er Jahren beschäftigt sich der amerikanische Psychologe Paul Rozin mit dem Phänomen des Ekels; seine Erklärungen basieren auf Theorien der Evolutionsbiologie und der Emotionspsychologie. Rozin geht davon aus, dass der nahrungsbezogene Ekel der evolutionäre Ursprung dieser Emotion ist und bezeichnet diesen daher als „core disgust“ (Basisekel). Er habe sich dann weiter entwickelt über Ekelgefühle gegenüber Tieren bis zum „interpersonellen Ekel“ und „moralischen Ekel“. Die Tatsache, dass Übelkeit und Brechreiz wesentliche Begleiterscheinungen des Ekels sind, spricht laut Rozin dafür, dass es sich ursprünglich um eine rein orale Abwehrreaktion handelte, um den Körper vor ungeeigneter Nahrung zu schützen.[10]
Nach Studien von Rozin gibt es zwischen der Ekelempfindlichkeit zwischen Eltern und Kindern einer Familie eine relativ hohe Korrelation. Wie Freud geht er davon aus, dass die frühkindliche Sauberkeitserziehung („toilet training“) eine der ersten Lernerfahrungen für die Ausbildung von Ekel ist.
Laut Rozin dient Ekel in der modernen Gesellschaft vor allem dazu, unsere genetische Verwandtschaft mit Tieren zu verdrängen; „animalisches Verhalten“ bei Menschen werde generell als ekelhaft bewertet, wobei die Definition dafür im Laufe der Zivilisation entwickelt worden sei. Diese Bewertung sei auf Verhalten ausgeweitet worden, das als unmoralisch eingestuft werde. Ekel erfülle daher auch eine soziale Funktion und diene der Abgrenzung zu anderen sozialen Gruppen und Kulturen. „(...) disgust is in many respects the emotion of civilization“[11] (dt: Ekel ist in vielerlei Hinsicht die Emotion der Zivilisation). Die zentrale These Rozins lautet: „A mechanism for avoiding harm to the body became a mechanism for avoiding harm to the soul. The elicitors of disgust may have expanded to the point that they have in common only the fact that decent people want nothing to do with them. At this level, disgust becomes a moral emotion and a powerful form of negative socialization.“[12] (dt.: Ein Mechanismus zur Vermeidung von Schäden für den Körper wurde zu einem Mechanismus zur Vermeidung von Schäden für die Seele. Die Ekelauslöser könnten sich so vervielfältigt haben bis zu dem Punkt, dass ihre einzige Gemeinsamkeit darin besteht, dass anständige Leute damit nichts zu tun haben wollen. Auf dieser Ebene wird Ekel zu einer moralischen Emotion und einer machtvollen Form von negativer Sozialisation.)
[Bearbeiten] Aktuelle Forschung
Die wissenschaftliche Erforschung des Ekelphänomens ist nicht abgeschlossen. Im Jahr 2004 veröffentlichten Wissenschaftler der London School of Hygiene and Tropical Medicine unter der Leitung von Val Curtis Ergebnisse einer Untersuchung über die universell häufigsten Ekelauslöser und zogen daraus den Schluss, dass Ekel keine Lernerfahrung sei, sondern genetisch bedingt. Die Gemeinsamkeit der meisten als ekelhaft empfundenen Substanzen oder Objekte sei, dass sie mit Krankheit und Infektionen in Zusammenhang ständen wie Kot, Eiter oder Leichen. Die biologische Funktion des Ekels bestehe also darin, vor Krankheiten und Tod zu schützen.
Curtis stellt die These auf, dass es nicht möglich sei, gegenüber beliebigen Objekten Ekel zu entwickeln, beispielsweise Bonbons oder Orangen. Und im Widerspruch zu den Aussagen von Kulturwissenschaftlern geht sie davon aus, dass Ausdrücke des Ekels wie „igitt“ zu den frühesten Wörtern der Menschen gehört haben.[13] Die Befragung wurde ausschließlich anhand von Fotos durchgeführt, die auf einer Website zu sehen waren und nach Ekelhaftigkeit beurteilt werden sollten.[14] Die Übereinstimmung der Antworten mit Mimik und körperlichen Reaktionen war daher nicht feststellbar.
Ebenfalls 2004 publizierte die Universität von Arkansas Studienergebnisse, aus denen hervorgehen soll, dass es zwei wesentliche Ursachen für Ekel gibt: zum einen die Angst vor Schmutz und Krankheiten, zum anderen die Angst vor Tod und Verletzung. Die Ekelgefühle schützen demnach einmal körperlich vor verdorbenem Essen und Infektionsgefahren, zum anderen psychisch vor der Erinnerung an die menschliche Sterblichkeit.[15]
Durch Studien belegt ist ein Zusammenhang zwischen dem Ausbruch von Herpes und vorhergehendem Ekel. Forscher der Universität Trier konnten 2004 nachweisen, dass der Anblick potenziell ekelerregender Bilder bei ekelempfindlichen Menschen das Immunsystem schwächen und dadurch zum Ausbruch von Herpes führen. Außerdem wird bei starkem Ekel im Hypothalamus das Stresshormon Cortisol ausgeschüttet, das ebenfalls die Immunabwehr schwächt.[16]
Die deutsche Psychologin Anne Schienle hat 2003 anhand eines Fragebogens die Ekelempfindlichkeit von 85 Studentinnen ermittelt und parallel dazu ihre Neigung zu Essstörungen. Nach ihren Erkenntnissen zeigen Frauen mit Anzeichen für eine Essstörung eine deutlich höhere Ekelempfindlichkeit als andere, vor allem bei der Bewertung von Körperausscheidungen und verdorbener Nahrung. Diese erhöhte Ekelneigung sei auch schon vor Ausbruch einer Essstörung vorhanden.[17]
[Bearbeiten] Ekel und Nahrungsauswahl
Während Geschmackspräferenzen und -aversionen bereits bei Neugeborenen vorhanden sind, so dass sie Süßes bevorzugen und Bitteres ablehnen, werden Ekelreaktionen im Laufe der Kindheit erlernt, sind also ein Produkt der Sozialisation und Erziehung. Als Beleg dafür, dass Ekel erlernt wird, gilt eine Metastudie zu 50 Fällen von Wolfskindern, die außerhalb einer menschlichen Gemeinschaft aufgewachsen waren. Zwar zeigten alle Kinder Nahrungspräferenzen und -aversionen, aber keines zeigte Ekelreaktionen.[4]
Vom Ekel vor potenzieller Nahrung abzugrenzen ist eine Aversion, die immer auf einer konkreten Erfahrung mit der betreffenden Speise beruht und sich meistens auf Geschmack oder Geruch bezieht. Die Grenzen sind jedoch fließend, denn heftige Aversionen können Ekelreaktionen wie Übelkeit und Brechreiz auslösen. Tritt nach dem Genuss einer Mahlzeit wenige Zeit später Übelkeit auf, entwickelt der Betroffene in der Regel Ekel gegenüber dieser Speise, selbst wenn die Übelkeit andere Ursachen hat. Dieser Effekt heißt negative Konditionierung. Diesen Mechanismus hat der Psychologe Martin Seligman als „Sauce Béarnaise-Syndrom“ beschrieben. Er selbst musste sich kurze Zeit nach einem Abendessen, bei dem er ein Filet mit Sauce Béarnaise gegessen hatte, übergeben. Obwohl er wusste, dass die Ursache eine Magen-Darm-Grippe war, entwickelte er einen dauerhaften Ekel vor der Sauce, nicht aber vor dem Fleisch.[18] „Der Geschmack einer Speise, die bereits ein halbes Leben lang ohne unangenehmes Nachspiel verzehrt wurde, ist offenbar ziemlich immun gegen die gelernte Aversion.“[5] Evolutionsbiologisch ist dies sinnvoll, wenn man davon ausgeht, dass der Ekel dazu dient, Menschen von dem Verzehr toxischer Substanzen abzuhalten. Etwas, das sich in der Vergangenheit als ungefährlich erwiesen hat, muss nicht vermieden werden.[5]
Laut Paul Rozin beruhen Ekelgefühle gegenüber Nahrung auch bei Erwachsenen oft auf einer Form von „magischem Denken“, das auch in dem bekannten Zitat „Du bist was du isst“ zum Ausdruck kommt. Damit wird der Glaube ausgedrückt, dass die Eigenschaften einer Speise beim Essen auf den Esser übergehen. Eine solche Wirkung kann erwünscht sein, worauf beispielsweise der Genuss von Lebensmitteln als Aphrodisiaka beruht, sie kann jedoch auch unerwünscht sein, wenn ein Nahrungsmittel als verunreinigt oder einfach „schlecht“ gilt.[19] Im Zusammenhang mit Nahrungsauswahl gelten laut Rozin das „Gesetz der Ansteckung“ und das „Gesetz der Ähnlichkeit“. „Ein ekelerregendes Objekt verunreinigt alles, was es berührt, egal wie kurz der Kontakt ist (...) Hinter der Weigerung, ein Getränk zu sich zu nehmen, das mit einer Fliegenklatsche gerührt oder in das eine keimfreie Schabe getunkt wurde, liegt die Intuition, daß unsichtbare verunreinigende Teilchen (...) hineingelangt sind. (...) andere, wie ein Hundehaufen aus Schokolade, gelten aus bloßer Ähnlichkeit als unrein.“[20]
Kleinkinder lernen mit Hilfe von Vorbildern, was essbar ist und was nicht. Bis zum Alter von etwa zwei Jahren halten sie generell alles für essbar und ekeln sich vor nichts.[21] In der Folgezeit bevorzugen sie Speisen, die sie bereits kennen oder die bekannten Speisen ähnlich sind. Ekelreaktionen zeigen sie erst im Alter zwischen vier und acht Jahren. Vorher lehnen sie Essen nur auf Grund seines Geschmacks, negativen Erfahrungen (Übelkeit) oder bekannten Warnungen vor seiner Gefährlichkeit für die Gesundheit ab.[4] Im Allgemeinen bevorzugen Menschen lebenslang bereits bekannte Speisen des eigenen Kulturkreises, also der eigenen Esskultur, und solche, die diesem Geschmacksmuster ähnlich sind.
„Die Esskultur definiert für jedes Individuum ein Grobraster, innerhalb dessen Geschmacksvorlieben entwickelt werden können. Überschreitungen des Grobrasters werden im Erziehungsprozess sozial diskriminiert ('Das isst man nicht!'). Nach der Sozialisation innerhalb einer Esskultur ist das Grobraster über Lernerfahrungen so internalisiert, dass selbst auf unbeabsichtigte Überschreitungen (...) mit Ekel und Unwohlsein reagiert wird (jemand erfährt zum Beispiel, dass er gerade Hundefleisch gegessen hat.“[22] Die Esskultur einer Gesellschaft oder einer sozialen Gruppe ist Bestandteil der Gesamtkultur und hat auch eine identitätsstiftende Funktion. Gerade beim Essen spielt Ethnozentrismus eine wichtige Rolle: Die eigene Esskultur gilt als „richtig“, davon abweichende Esskulturen als „falsch“.[23] Ekelgefühle dienen auch dazu, uns davon abzuhalten, kulturelle Grenzen zu überschreiten und zu verletzen, wodurch auch der Status der Gruppenzugehörigkeit in Frage gestellt würde. Nahrungstabus sind die stärkste Form kollektiv wirksamer Essregeln. Die meisten basieren jedoch nicht auf Ekelgefühlen, sondern der Ekel ist eine Folge der Tabuisierung.
In vielen nationalen oder regionalen Küchen werden Speisen als Spezialitäten geschätzt, die von Kulturfremden als ekelhaft eingestuft werden. Einige Beispiele sind schwedischer Surströmming, Hákarl (verrotteter Hai), Tausendjährige Eier, der Verzehr von Insekten (Entomophagie), schottisches Haggis, englischer Black Pudding (Gericht aus Fleischresten, Blut und Fett), der überreife sizialinische Käse Casu Marzu mit Maden, aber auch Pfälzer Saumagen oder Hamburger Labskaus.[24] „Süddeutsche 'Delikatessen' wie Kutteln, Bries, Hirn, Ochsenmaulsalat sind für Norddeutsche ungenießbar.“[3]
Nicht alle „Ekelgerichte“ werden von der gesamten Bevölkerung des jeweiligen Landes oder der Region geschätzt, einige werden vor allem von Männern als „Delikatesse“ gegessen. Da der Geruch nach Fäulnis oder Verwesung universell als ekelerregend gilt, ist davon auszugehen, dass der Verzehr „verrotteter“ Lebensmittel immer eine Überwindung erfordert. Wissenschaftler haben die Theorie aufgestellt, dass der Verzehr ganz spezieller Gerichte ebenso wie die Beachtung von Essverboten eine identitätsverstärkende Funktion hat, die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe bekräftigt und zugleich der Abgrenzung zu anderen Gruppen dient. Isländer betonen mit einigen Speisen zum Beispiel ihre Abstammung von den Wikingern.[25]
Weltweit bezieht sich kollektiver Ekel einer sozialen Gruppe überwiegend auf tierische Produkte, vor allem auf Fleisch, nur selten auf pflanzliche. Diese Aussage gilt auch für Nahrungstabus. Eine Erklärung dafür gibt die Autorin Deborah Lupton: „(...) meat inspires strong feelings of revulsion and disgust because of its origin in living animals (...) Because it is the product of the death of animals, meat is also more strongly linked than any other food to rottenness and pollution.“[26] (dt.: Fleisch löst starke Gefühle von Widerwille und Ekel aus, weil es seinen Ursprung in lebenden Tieren hat (...) Weil es das Produkt des Todes von Tieren ist, wird Fleisch auch stärker als andere Nahrung mit Verrottung und Verunreinigung in Verbindung gebracht.)
Vegetarier geben unterschiedliche Motive für ihren Verzicht auf Fleisch an. Einer deutschen Studie zufolge empfinden sowohl „moralische Vegetarier“ als auch „emotionale Vegetarier“ Fleisch als ekelhaft, während Personen mit rein gesundheitlichen Motiven keine entsprechenden Aussagen machten.[27]
Paul Rozin hält „magisches Denken“, wie es in dem Satz „du bist was du isst“ zum Ausdruck komme, für eine wesentliche Ursache von Nahrungsablehnungen. Er führte 1987 eine Studie mit Collegestudenten durch, in der sie Personen Eigenschaften zuordnen sollten anhand der Angabe, wie sich diese ernährten. Das Ergebnis zeigte, dass die Mehrheit der Teilnehmer den Personen Eigenschaften der angeblich gegessenen Tiere zuordnete. In diesem Sinne argumentieren auch einige Vegetarier, die Fleischesser pauschal für aggressiver halten als Pflanzenesser.[28] Laut Rozin fördert die Moralisierung von Essgewohnheiten ebenfalls Ekelgefühle, wie die unterschiedliche Einstellung von moralischen und gesundheitsbewussten Vegetariern belege. Ähnliches lasse sich im Zusammenhang mit der moralischen Ablehnung des Rauchens und Ekelreaktionen auf Raucher, Zigarettenasche etc. feststellen.[29]
[Bearbeiten] Interpersoneller Ekel
Ekelgefühle können sich auch gegen andere Personen richten, wobei es sich häufig um Reaktionen auf Körpergerüche handelt, aber auch auf unerwünschte körperliche Nähe, speziell von Unbekannten. Darüber hinaus gibt es jedoch auch Ekel und Abwehrreaktionen in Bezug auf Gegenstände, die von anderen benutzt wurden. So lehnen es viele ab, von einem Teller zu essen, den zuvor jemand anders benutzt hat, Kleidung aus Secondhandläden zu tragen oder sich auf einen noch warmen Stuhl zu setzen, auf dem vorher ein anderer gesessen hat.
Rozin hat in einer Studie nachgewiesen, dass die Ablehnung fremder Kleidungsstücke etwas mit „magischem Denken“ zu tun hat, nämlich mit der unbewussten Vorstellung, dass sie Eigenschaften des früheren Trägers besitzen. Amerikanische Studenten waren eher bereit, den gereinigten Pullover eines gesunden Fremden zu tragen als den eines kranken oder beimamputierten Mannes oder den eines Mörders. Heftig abgelehnt wurde auch die Vorstellung, ein Kleidungsstück Adolf Hitlers zu tragen. Die Folgerung ist, dass Ekel in modernen Gesellschaften nicht nur die Funktion hat, den Körper vor „Kontamination“ zu schützen, sondern auch die Psyche. [30]
In einigen Kulturen spielt der interpersonelle Ekel eine wichtigere Rolle als der „Basisekel“, zum Beispiel im Hinduismus, der von den Gläubigen die strikte Meidung jedes körperlichen Kontakts mit Angehörigen niedrigerer Kasten fordert. Die Berührung einer Speise durch eine „unreine“ Person lässt die gesamte Speise unrein werden.
[Bearbeiten] Soziokulturelle Faktoren
Dennoch werden viele Ekelreaktionen erst im Laufe des Lebens anerzogen. Dies wird deutlich, wenn die Nahrungstabus verschiedener Kulturkreise betrachtet werden: Was in manchen Regionen der Erde als Delikatesse verzehrt wird (z. B. Insekten (Entomophagie)), ruft bei anderen Bevölkerungsgruppen heftige Abneigungsreaktionen hervor und umgekehrt. Zahlreiche Riten im Umgang mit Kranken und Toten sowie Speisegesetze wurzeln in Ekelreaktionen, werden aber in anderen kulturellen und historischen Zusammenhängen nicht akzeptiert.
[Bearbeiten] Quellen
- ↑ Lothar Penning, Kulturgeschichtliche und sozialwissenschaftliche Aspekte des Ekels (Diss.), S. 2
- ↑ a b Skript von Bernd Reuschenbach
- ↑ a b c Rolf Degen: Nicht nur Verdorbenes macht Angst, in: Tabula 02/2005
- ↑ a b c Tom Simpson: The Development of Food Preferences and Disgust (pdf)
- ↑ a b c Rolf Degen: Wenn das Essen hochkommt, in: Tabula 02/2005
- ↑ Charles Darwin: The Expression of the Emotions in Man and Animals, Chapter 11, online
- ↑ vgl. Annette Kluitmann: Es lockt bis zum Erbrechen. Zur psychischen Bedeutung des Ekels, in: Forum der Psychoanalyse, 1999, 15/3, S. 267-281
- ↑ vgl. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, 1999, S. 283 ff.
- ↑ Lothar Penning, S. 46 ff.
- ↑ Paul Rozin u.a.: Disgust, in: Handbook of Emotions, S. 637-653
- ↑ Rozin u.a.: Disgust, S. 649
- ↑ Rozin u.a.: Disgust, S. 650
- ↑ BBC: Ergebnisse von Val Curtis
- ↑ Infos zur Curtis-Studie
- ↑ Zur Studie von Arkansas
- ↑ Artikel: Wie Ekel krank macht
- ↑ Anne Schienle u.a.: Ekelempfindlichkeit als Vulnerabilitätsfaktor für essgestörtes Verhalten
- ↑ Martin Seligman: On the generality of the laws of learning
- ↑ vgl. Paul Rozin u.a., Disgust, in: Handbook of Emotions, 2. ed., New York 2000, S. 640 f.
- ↑ Steven Pinker, Wie das Denken im Kopf entsteht, München 1999, S. 470
- ↑ Paul Rozin/April Fallon: The Acquisition of Likes and Dislikes for Foods, in: What is America Eating? 1986, S. 58
- ↑ Dietrich von Engelhard, Geschmackskulturen. Vom Dialog der Sinne beim Essen und Trinken, 2006, S. 62
- ↑ vgl. Paul Fieldhouse, Food and Nutrition: Customs and Culture, 1998, S. 31 f.
- ↑ Sabine Löhr: Guten Appetit! (FAZ-Bericht)
- ↑ Food Taboos: It's all a Matter of Taste
- ↑ Deborah Lupton, Food, the Body and the Self, 1996, S. 117
- ↑ Psychologie heute: Vegetarier haben unterschiedliche Motive (2006)
- ↑ Paul Rozin/Allan Brandt, Morality and Health: Interdisciplinary Perspectives, 1997, S. 388
- ↑ Rozin/Brandt, S. 385
- ↑ Jonathan Haidt: Body, Psyche, and Culture: The Relationship between Disgust and Morality
[Bearbeiten] Literatur
- Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Berlin 1984 (Originaltitel: Le Miasme et la Jonquille. L'odorat et l'imaginaire social XVIIIe-XIXe siècles, 1982)
- Annette Kluitmann: Es lockt bis zum Erbrechen. Zur psychischen Bedeutung des Ekels, in: Forum der Psychoanalyse, 1999, 15, S. 267-281
- Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt/Main 1999
- Lothar Penning: Kulturgeschichtliche und sozialwissenschaftliche Aspekte des Ekels, Bitburg 1984 (Diss.)