Lebenswelt
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Der Begriff der Lebenswelt geht auf Edmund Husserl zurück[1]. Der Begriff besitzt hier im Kontext der phänomenologischen Philosophie eine eigentümliche Doppeldeutigkeit. Lebenswelt meint einerseits das Universum des Selbstverständlichen, als anthropologisches Fundament jeder Bestimmung des Verhältnisses des Menschen zur Welt, und bezeichnet andererseits die praktische, anschauliche und konkrete Lebenswelt.
Diese Doppeldeutigkeit spannt den Lebensweltbegriff ein in die Gegensatzspannung zwischen Ahistorischem und historisch Wandelbarem, Universellem und Konkretem, zwischen Singulärem und historisch Vielfältigem. So wird er zur Basis der Kritik und zum Gegenstand der Aufklärung zugleich. Der Lebenswelt als der unveränderlichen Wahrnehmungswelt des gegenständlich Seienden steht die durch den Menschen geprägte soziohistorisch-kulturelle Umwelt gegenüber.
Auf dieser Basis entwickelten sich vor allem durch Übertragung und Anwendung in der Soziologie verschiedene Bedeutungsvarianten des Begriffes. Die Lebenswelt kann erkenntnistheoretisch eine ontologische Bedeutung besitzen oder aber die Welt bezeichnen, die wir individuell erleben, den Bereich des selbstverständlichen, traditionalen Handelns oder auch eine umfassende historisch gegebene sozio-kulturelle Umwelt meinen. Wissenssoziologisch kann die Lebenswelt auch als Basis für jegliche Wissenschaft betrachtet werden und entweder in ihrer Struktur als den historischen Lebenswelten zugrunde liegende untersucht werden oder als kulturell vorgeformte und von allen Menschen geteilte Sinnwelt Erfahrung und Wahrnehmung strukturieren.
Alfred Schütz greift auf den Lebensweltbegriff Husserls zurück und führt das Konzept für die soziologische Analyse ein[2]. Die ursprüngliche Doppeldeutigkeit setzt sich in seinem Alltagsbegriff fort. Der Alltag, die Welt des „Jedermann“ ist als die „ausgezeichnete Wirklichkeit“ (Schütz) zu verstehen, in der jeder Mensch lebt, denkt, handelt und sich mit anderen verständigt. Die Alltagswelt ist jedem einfach vorgegeben und wird fraglos und selbstverständlich hingenommen, sie ist der unbefragte Boden aller Geschehnisse. Die Alltagswelt ist von Anfang an eine intersubjektive Kulturwelt, in der alle Tatsachen immer schon interpretierte Tatsachen sind, die auf Sinnzusammenhänge und Deutungsmuster verweisen, die Erfahrung und Handeln in der alltäglichen Welt ermöglichen. Die Erfahrungsweise des alltäglichen Verstehens bezeichnet Schütz als „common sense“, das Leben in der „natürlichen Einstellung“.
Alltag bzw. Lebenswelt sind auch hier einerseits als kulturell geformte Sinnwelt und andererseits als Basis jeden Wahrnehmens und Verstehens einer sozio-kulturell gegebenen Umwelt und somit auch der darin entwickelten Wissensbestände überhaupt zu verstehen. Alltag ist damit sowohl Gegenstand der Aufklärung als auch ontologische Basis der Kritik von Sonderwissensbeständen. Jürgen Habermas wies drauf hin, dass Lebenswelt nicht nur das Individuum als Bezug habe, sondern dass sie den Hintergrund im Rahmen des kommunikativen Handelns bilde[3].
Im Methodischen Konstruktivismus wurde der Begriff der Lebenswelt von Jürgen Mittelstraß wieder eher im Sinne Husserls aufgenommen als das „lebensweltliche Apriori“, das unhintergehbar sowohl genetisch als auch logisch-methodisch vor aller Erschließung der Wirklichkeit besteht und damit Grundlage aller exakten Wissenschaften ist[4]. Wieder aufgenommen wird der Begriff der Lebenswelt im Methodischen Kulturalismus, für den er die allgemein anerkannte vorwissenschaftliche Sprach- und Handlungspraxis bezeichnet. Lebenswelt ist danach ein Ausschnitt der vorgefundenen Welt, der für den jeweiligen Praxiszusammenhang relevant ist. So hat die Lebenswelt eines Bergmanns andere Bezüge als die eines Landwirtes oder die eines Arztes.
[Bearbeiten] Literatur
[Bearbeiten] Fußnoten
- ↑ Die Krisis der europäsischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie: Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (1936); vorher schon zu finden bei Georg Simmel: Die Religion, Frankfurt 2. Aufl. 1912, S. 13, jedoch ohne Ausprägung als philosophische Kategorie
- ↑ Alfred Schütz und Thomas Luckmann: Strukturen der lebenswelt, Bd.1, 3. Aufl. Frankfurt 1988
- ↑ Theorie des Kommunikativen Handelns, Bd. 2, 190
- ↑ Vgl. Jürgen Mittelstraß, Die Möglichkeit von Wissenschaft, Frankfurt 1974
[Bearbeiten] Quellen
- Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main 1981.
- Edmund Husserl: Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie (Vortrag in Wien 1935) (Husserliana Band VI S. 314-348).
- Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Hrsg. von S. Strasser. Den Haag 1950 (Husserliana Band 1).
- Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Den Haag 1954 (Husserliana Band VI).
- Edmund Husserl: Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte Band II. Stuttgart 1986.
- Edmund Husserl: Arbeit an den Phänomenen. Ausgewählte Schriften. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Waldenfels. Frankfurt am Main 1993.
- Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Frankfurt am Main 1974.
- Alfred Schütz, Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Darmstadt und Neuwied 1975 (Neuaufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979).
[Bearbeiten] Aufsätze, Monographien
- Blumenberg, Hans: Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie in: Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart 1981 (Turin 1963).
- Blumenberg, Hans: Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt am Main 1986.
- Coenen, Herman: Diesseits von subjektivem Sinn und kollektivem Zwang. Schütz – Durkheim – Merleau-Ponty. Phänomenologische Soziologie im Feld des zwischenleiblichen Verhaltens. München 1985.
- Fellmann, Ferdinand: Gelebte Philosophie in Deutschland. Denkformen der Lebensweltphänomenologie und der kritischen Theorie. Freiburg/Br.; München 1983.
- Geck, Albrecht: Kirchengeschichte und Lebenswelt, in: Michael Wermke u.a. (Hg.), Religion in der Sekundarstufe II. Ein Kompendium, Göttingen 2006, 263-270.
- Grathoff, Richard: Milieu und Lebenswelt. Einführung in die phänomenologische Soziologie und die sozialphänomenologische Forschung. Frankfurt am Main 1989.
- Kiwitz, Peter: Lebenswelt und Lebenskunst. Perspektiven einer kritischen Theorie des sozialen Lebens. München 1986.
- Orth, Ernst Wolfgang: Edmund Husserls Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Werkinterpretation. Darmstadt 1999
- Sommer, Manfred: Lebenswelt und Zeitbewußtsein. Frankfurt am Main 1990
- Ströker, Elisabeth (Hrsg.): Lebenswelt und Wissenschaft in der Philosophie Edmund Husserls. Frankfurt am Main 1979.
- Ulfig, Alexander: Lebenswelt, Reflexion, Sprache. Würzburg 1997
- Waldenfels, Bernhard: In den Netzen der Lebenswelt. Frankfurt am Main 1985
- Waldenfels, Bernhard: Lebenswelt zwischen Alltäglichem und Unalltäglichem in: Pöggeler/ Jamme (Hrsg): Phänomenologie im Widerstreit. Zum 50. Todestag Edmund Husserls. Frankfurt am Main 1989.
- Welter, Rüdiger: Der Begriff der Lebenswelt. Theorien vortheoretischer Erfahrungswelt. München 1986.
[Bearbeiten] Aktuelle Auseinandersetzungen
- Jörg Rössel: Vom Lebensstil zu kulturellen Präferenzen - Ein Vorschlag zur theoretischen Neuorientierung, in: Soziale Welt, Jg. 55, 2004, H. 1, S. 95-114 (ausgehend von der Theorie des sozialen Handelns)