Individualisierung
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Der Begriff der Individualisierung stammt aus der Soziologie und bezeichnet einen mit der Industrialisierung und Modernisierung der westlichen Gesellschaften einhergehenden Prozess eines Übergangs des Individuums von der Fremd- zur Selbstbestimmung. Philosophischer Ausdruck der Individualisierung ist der Individualismus.
[Bearbeiten] Theorien
Der Prozess der Individualisierung wird von manchen Autoren in zwei Phasen unterteilt: Die erste wird gesehen im Individualisierungsprozess, der mit der Herausbildung einer modernen bürgerlichen Gesellschaft zu Zeiten der Industrialisierung beginnt, seine philosophisch-kulturgeschichtliche Grundlage jedoch schon in der Aufklärung hat. Dieser Prozess, bei dem eine erweiterte Arbeitsteilung gleichzeitig mit einer Schwächung sozialer Bande einhergeht, wird unter anderem von Georg Simmel und Emile Durkheim beschrieben. Dies zeigte sich in der Zunahme von ökonomisch und utilitaristisch (Utilitarismus) geprägten Beziehungen einerseits und dem damit einhergehenden Rückzug der Großfamilie und dem Zerfall der dörflichen Gemeinschaften. Dem Zerfall traditioneller Bindungen steht eine zunehmende Selbstbestimmung des Individuums gegenüber: Autobiographien werden vermehrt geschrieben, das Konzept der romantischen Liebe entwickelt sich, die Beziehung zu Gott wird im Protestantismus personalisiert.
Viele Soziologen beschreiben einen zweiten, den ersten überlagernden und modifizierenden Individualisierungsprozess seit Ende der 1950er Jahre. Nach Anthony Giddens und Ulrich Beck entwickelt sich in der gegenwärtigen postmodernen Gesellschaft eine qualitativ neue Radikalisierung und Universalisierung dieses Prozesses. Alte gesellschaftliche Zuordnungen wie Stand und Klasse würden obsolet, zunehmender Zwang zur reflexiven Lebensführung gehe mit einer Steigerung der Bildung einher, die Pluralisierung von Lebensstilen nehme weiter zu, Identitäts- und Sinnfindung werde zur individuellen Leistung. Dies werde durch eine Veränderung des staatlichen und ökonomischen Rahmens weiter gefördert. Ulrich Beck war auch derjenige, der dieses Schlagwort 1983 für die Beschreibung der heutigen sozialen Lebensbedingungen prägte.
Neben der Individualisierungsthese beschreibt auch die kultursoziologische Theorie von der Erlebnisgesellschaft von Gerhard Schulze veränderte Lebensgewohnheiten und -ziele der Menschen.
Norbert Elias macht im Rahmen seiner Zivilisierungstheorie auch Aussagen zur Individualisierung. Grundbegriffe sind dabei
- der soziale Habitus (gleichbedeutend: die soziale Persönlichkeitsstruktur; und: gemeinsame Gefühls-, Denk- und Verhaltensgewohnheiten; oder: Gruppencharakter), also die psychischen Merkmale, die ein Mensch mit anderen Menschen einer sozialen Gruppe gemeinsam hat. Der soziale Habitus bildet den Boden, aus dem die Merkmale entstehen, die einen Menschen von anderen unterscheiden. Ein Beispiel ist die in einer Gesellschaft übliche Schrift bzw. Schreibweise, die ein Kind in der Schule erlernt, und die es zu einer individuellen Handschrift variiert.
- die Wir-Ich-Identität: Wir-Identität meint die einer Gruppe gemeinsamen Merkmale, das Bild dieser gemeinsamen Merkmale ("Wir-Bild") und die mit dieser Gruppe verbundenen Gefühle (die unterschiedlich stark und durchaus zwiespältig sein können). Ich-Identität meint analog die individuellen Merkmale, das Bewußtsein bzw. Bild dieser Merkmale und die mit sich selbst verbundenen Gefühle.
- die Wir-Ich-Balance: das Verhältnis von Wir- und Ich-Identität schwankt je nach Gesellschaftsstruktur, die Balance kann viele Nuancen aufweisen zwischen starker Betonung der Wir-Identität (d.h. insbesondere der Gruppenzugehörigkeit) und starker Betonung der Ich-Identität (d.h. der individuellen Einzigartigkeit und Unabhängigkeit).
- die Überlebenseinheit: unsere Spezies lebt (wie viele andere) sozial, weil die Gruppenbildung angesichts der schwachen körperlichen Ausstattung einen entscheidenden Überlebensvorteil brachte: Schutz gegen Gefahren, Unterstützung bei der Nahrungsbeschaffung. Sie haben also die Aufgabe, die physische und soziale Sicherheit der Mitglieder zu garantieren. Überlebenseinheiten (Gesellschaften) haben allerdings auch gegenläufige Funktionen ("Vernichtungseinheiten"), weil sie im ständigen Konkurrenzkampf zwischen Gesellschaften das Leben ihrer Angehörigen gefährden.
- die langfristige Entwicklung: Menschen sind genetisch nicht auf eine artspezifische Gesellschaftsform fixiert, sondern wandeln die Form des Zusammenlebens ständig. Aufgrund dieser hohen Flexibilität (und weiterer Faktoren wie dem Konkurrenzkampf zwischen Menschengruppen) kommt es zu einer ungeplanten, aber gerichteten Entwicklung unserer Gesellschaftsformen. Im Laufe dieser Entwicklung werden kleinere Gesellschaften (Integrationsebenen) von größeren unterworfen oder kleinere schließen sich unter äußerem Druck zu größeren Einheiten zusammen. Beispiele für mögliche Überlebenseinheiten sind Gruppen/ Familien, Sippen (weiterer Familienverband), Stämme, Wohnort (Dörfer/ Städte), Staaten, Staatenverbände und die Menschheit. Mit zunehmender Entwicklung werden die Gesellschaften in Integrationsschüben also größer und komplexer; regelmäßig kommt es aber auch zu Desintegrationsschüben, in denen Gesellschaften wieder zerfallen, oder zu unvollkommener Integration, bei der sich kleinere Einheiten innerhalb des größeren Verbandes erhebliche Selbständigkeit bewahren. Langfristig entstehen dennoch immer komplexere Gesellschaften mit vielen Teilebenen, die sich die Aufgaben für das Überleben der Einzelnen teilen.
Die Erklärung für den Individualisierungsprozeß sieht Elias darin, daß im Verlauf von Integrationsschüben kleinere Einheiten Überlebensfunktionen an die größeren Integrationsebenen abgeben müssen. Während im Mittelalter das Schwergewicht noch auf der Wir-Identität lag, sind seit der Renaissance mit dem Aufkommen der großen Flächenstaaten und der dadurch beginnenden größeren sozialen Mobilität (zunächst für wandernde Gelehrte, die in Städten und Fürstenhöfen Beamtenfunktionen übernahmen: die Humanisten) Individualisierungsprozesse zu beobachten. Diese schlugen sich beispielsweise in der Aufwertung des Individuums in der Portraitmalerei Dürers nieder oder später in der individualistischen Philosophie seit Descartes. Dies erreicht zunächst nur kleinere Bevölkerungsgruppen, seit dem 19. Jahrhundert haben jedoch die westeuropäischen Industriestaaten mit dem Ausbau des Gewaltmonopols und der Sozialsysteme wesentliche Aufgaben bei der Garantie der physischen und sozialen Sicherheit ihrer Mitglieder übernommen; sie beziehen sich auf diese als einzelne und nicht als Mitglieder von z.B. Familien oder Dörfern. Dadurch verlieren die Führungsgruppen der vorstaatlichen Einheiten an Macht über ihre Mitglieder. Die einzelnen Menschen erhalten so allmählich größere Entscheidungsspielräume und können sich zunehmend leichter von den vorstaatlichen Einheiten lösen, ohne Einbußen an physischer und sozialer Sicherheit befürchten zu müssen. Dies verlagert die Wir-Ich-Balance zugunsten der Ich-Identität. Die einzelnen Menschen erhalten nicht nur größere Entscheidungsspielräume, sondern sind auch einem Zwang zur Entscheidung ausgesetzt. Eine der Folgen ist die Zunahme nicht-dauerhafter Beziehungen und der Zwang zur Beziehungsprüfung: Private Beziehungen, Berufsbeziehungen und in Grenzen auch Staatsangehörigkeiten werden auswechselbarer. Während Menschen früher häufig lebenslang an eine bestimmte soziale Einheit (z.B. Familie) gebunden waren, können sie immer häufiger über ihre Beziehungen selbst entscheiden - und müssen dies deshalb auch. Der soziale Habitus verändert sich vom Schwerpunkt auf Fremdregulierung zum Schwerpunkt auf Selbstregulierung.
Die Gesellschaften auf dem Globus stehen auf ganz unterschiedlichen Entwicklungsstufen. Manche erleben aktuell die konfliktreiche Integration von Wildbeutergruppen und Stämmen in die Ebene der (zunächst oft schwachen) Staaten, andere befinden sich bereits bei der Integration zu kontinentalen Staatenverbänden. Zwischen Gesellschaften auf unterschiedlichen Stufen kommt es zu typischen Mißverständnissen und Konflikten, da sie sich gegenseitig in ethnozentrischer Weise bewerten. Alle werden durch die ungeplante Entwicklung in die letzte Integrationsebene, die Menschheit, gedrängt, die bereits jetzt die entscheidende Ebene für das Überleben der einzelnen Menschen darstellt (auch wenn dies den meisten Menschen nur langsam bewußt wird), deren Organisationsstrukturen sich jedoch erst in schwachen Frühformen andeuten, deren Ausarbeitung lange Zeit in Anspruch nehmen wird und die auch in einem Desintegrationsschub wieder zerstört werden können. Falls sich der bisherige Trend jedoch fortsetzt, ist eine weitere Individualisierung zu erwarten, d.h. ein weiterer Machtgewinn der einzelnen Menschen gegenüber ihren Überlebenseinheiten. Elias' Fazit: Integrationsschübe sind immer auch Individualisierungsschübe.
[Bearbeiten] Siehe auch
[Bearbeiten] Literatur
- Ulrich Beck: Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt, Sonderband 2, Göttingen 1983, S. 35 -74
- Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986.
- Ulrich Beck: Riskante Freiheiten - Gesellschaftliche Individualisierungsprozesse in der Moderne, 1994. (gemeinsam mit Elisabeth Beck-Gernsheim)
- Ulrich Beck: Reflexive Modernisierung - Eine Debatte, 1996. (gemeinsam mit Anthony Giddens und Scott Lash)
- Elias, Nobert (2001): Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt/ M.: Suhrkamp.
- Thomas Kron (Hrsg.): Individualisieurung und soziologische Theorie., Opladen 2000, Leske + Budrich.
- Georg Simmel: Die Philosophie des Geldes, 1900. (DigBib.Org Onlinetext)
- Georg Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur, 1918.