Utilitarismus
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Der Utilitarismus (lat. utilitas, Nutzen) ist ein ethisches Konzept, welches in verschiedenen Varianten auftritt. Neben der Ethik ist er auch in der Sozialphilosophie und den Wirtschaftswissenschaften von Bedeutung.
Den Kern des Utilitarismus kann man in der Forderung zusammenfassen: „Handle immer so, dass das größtmögliche Maß an Nutzen (bzw. Glück) entsteht!“ (Maximum-Happiness-Principle). Dabei ergibt sich das allgemeine Glück aus der Zusammenfassung des Glücks der einzelnen Menschen. Insofern ist der Utilitarismus eine hedonistische bzw. eudämonistische ethische Theorie. Da die möglichen Folgen von Handlungen und deren Auswirkungen auf das Glück der Menschen berücksichtigt werden, ist der Utilitarismus eine konsequentialistische Ethik.
Der utilitaristische Ansatz wurde vor allem durch Jeremy Bentham (1748-1832) und John Stuart Mill (1806-1873) systematisch entwickelt und auf konkrete Fragen angewandt. Bentham erläutert den zentralen Begriff des Nutzens im ersten Kapitel seiner "Introduction to the Principles of Morals and Legislation" (zuerst erschienen 1789, dem Jahr der Französischen Revolution) folgendermaßen:
- „Mit dem Prinzip des Nutzens ist das Prinzip gemeint, das jede beliebige Handlung gutheißt oder missbilligt entsprechend ihrer Tendenz, das Glück derjenigen Partei zu erhöhen oder zu vermindern, um deren Interessen es geht ... Mit ‚Nutzen‘ ist diejenige Eigenschaft einer Sache gemeint, wodurch sie zur Schaffung von Wohlergehen, Vorteil, Freude, Gutem oder Glück tendiert.“
"Nutzen" (utility) ist also nicht mit "Nützlichkeit" gleichzusetzen.
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[Bearbeiten] Geschichte der utilitaristischen Theorie
Eine erste Form des Utilitarismus findet sich bei dem Chinesischen Philosophen Mozi(479-381 v.Chr.). Er begründete die Schule des Mohismus im alten China und vertrat eine utilitaristische Ethik, ungefähr 2200 Jahre bevor eine solche als begründbares Prinzip in Europa formuliert wurde.
Die Anfänge utilitaristischen Denkens in Europa finden sich bei Thomas Hobbes (Leviathan), dessen grundlegende ethische Aussage darin besteht, dass „richtiges“ Verhalten dasjenige ist, das unser eigenes Wohlergehen fördert. Weiter: die Berechtigung des gesellschaftlichen Moralkodex hängt davon ab, ob er das Wohlbefinden derjenigen begünstigt, die ihn befolgen. Bei Francis Hutcheson war das Kriterium für moralisch gutes Handeln, ob dadurch die Wohlfahrt der Menschheit gefördert wird. Dessen Nachfolger David Hume kam zu dem Schluss, dass Tugend und persönliches Verdienst in denjenigen unserer Eigenschaften ruhen, die für uns – und für Andere – nützlich (useful) sind.
Jeremy Bentham vertrat als erster in Europa eine utilitarische Ethik in Form eines ausgearbeiteten Systems. Bentham sah in Leid und Glück die entscheidenden Motive des Handelns: "Nature has put man under the governance of two sovereign masters: pleasure and pain." Davon ausgehend formuliert Bentham das bekannte Prinzip des Nutzens. Es besagt, dass all das gut ist, was die größte Menge an Glück für die größte Zahl der Menschen bringt. Bentham erkannte später, dass die gleichzeitige Maximierung zweier Größen keine eindeutige Lösung ermöglicht, weswegen er später nur noch vom "Prinzip des größten Glücks" (Maximum-Happiness-Principle) sprach. Benthams Arbeiten konzentrierten sich auf die Anwendung dieses Prinzips auf die Gestaltung der sozialen Ordnung. In seinen Schriften entwickelt er weniger eine Individualethik als vielmehr eine rationale Gesetzgebungslehre.
Für Bentham war die Quantität des Glücks allein entscheidend, was er durch die drastische Formulierung "Kegeln ist genau so gut wie Dichtung" ("pushpin is as good as poetry") ausdrückte. Dagegen vertrat sein Schüler John Stuart Mill, in seinem Buch über den Utilitarismus die These, dass kulturelle, intellektuelle und spirituelle Befriedigung einen höheren Wert besitzen als körperliche Befriedigung. Ein Mensch, der beides erfahren habe, ziehe die geistige Befriedigung der körperlichen vor. Mit dieser Unterscheidung von geistiger und körperlicher Lust und deren unterschiedlicher Gewichtung wird allerdings die Kalkulation des größten Glücks weiter erschwert.
Auch in der Schrift "Über die Freiheit" setzte John Stuart Mill etwas andere Akzente als der Freund seines Vaters und Lehrer Bentham. Die Freiheit und insbesondere die Freiheit der Meinungsäußerung ist für Mill ein eigener grundlegender Wert. Um die Wahrheit zu erkennen, muss man alle relevanten Argumente prüfen. Dies ist jedoch unmöglich, wenn Meinungen und Argumente politisch unterdrückt werden. Die richtige Bestimmung des größten Glücks setzt also die Freiheit der Meinungsäußerung (Pressefreiheit, Freiheit der Wissenschaft etc.) voraus.
Diese freiheitliche Version des Utilitarismus findet sich auch in der politischen Philosophie Bertrand Russells (1872-1970) wieder.
Der klassische Utilitarismus von Bentham und Mill beeinflusste viele anderen Philosophen und führte zur Entwicklung eines breiteren Konzepts des Konsequentialismus. Der hedonistische Utilitarismus von Bentham und Mill wird, obwohl am bekanntesten, heute nur noch von einer Minderheit vertreten. Weiterführende und gegenüber Kritik verbesserte Varianten des Utilitarismus wurden unter anderem entwickelt von William Godwin (1756-1836), einem Zeitgenossen Benthams mit anarchistischen Tendenzen und Henry Sidgwick (1838-1900). In neuerer Zeit sind zu nennen vor allem Richard Mervyn Hare (1919-2002), R.B. Brandt (1910-1997), der den Begriff "Regelutilitarismus" prägte, John Jamieson Carswell Smart und Peter Singer. Ludwig von Mises argumentierte mit utilitaristischen Argumenten für Libertarismus. Umgekehrt vertraten einige Philosophen auf utilitaristischer Basis einen ethischen Sozialismus.
[Bearbeiten] Theoretische Inhalte
[Bearbeiten] Grundprinzipien
Als utilitaristisch aufgefasste Ethiken haben im allgemeinen folgende Grundmerkmale oder -prinzipien gemeinsam:
- Konsequentialismus: Um eine Handlung moralisch zu bewerten, muss man die Konsequenzen der Handlung ermitteln und diese unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Glücks bzw. Wohlergehens bewerten. Andere Fragen, etwa ob eine Handlung aus gutem Willen erfolgt oder nicht, sind hierbei von untergeordnetem Interesse.
- Das einzige Gut des Utilitarismus ist das Glück bzw. Wohlergehen, weswegen der Utilitarismus eudämonistisch ist. Dabei bestehen unterschiedliche Meinungen darüber, was genau unter Glück zu verstehen sei.
- Das rechte Handeln ist im Utilitarismus alles, was das Glück in der Welt maximiert. John Rawls bezeichnete den Utilitarismus daher als teleologische Ethik. Hierbei bestehen verschiedene Ansätze. Einige Utilitaristen präferieren die Maximierung des Gesamtnutzens oder Gesamtglücks, während andere als Ziel ein hohes Durchschnittsglück ansehen.
- Bei der Beurteilung, inwiefern eine Handlung Leid oder Glück nach sich zieht, werden die Auswirkungen auf die einzelnen Individuen aggregiert, d.h. es wird gleichsam alles entstehende Einzelglück addiert, und davon das entstehende Einzelleid abgezogen, um den Gesamtnutzen einer Handlung zu berechnen.
- Utilitarismus ist universalistisch, da er das Glück und Leid jedes Menschen gleichermaßen in ethische Überlegungen miteinbezieht. Kontroversen existieren, inwiefern auch nichtmenschliche Spezies in die Ethik miteinbezogen werden sollen. Der Universalismus widerspricht intuitiven Urteilen, nach denen beispielsweise das Leben nahe stehender Personen wichtiger als das Leben Fremder ist.
- Utilitarismus ist auch insofern universalistisch, als seine Ethik für alle Menschen gleichermaßen gilt (agent-neutral). Hypothetisch, allerdings nicht unbedingt praktisch, gibt es hier keine Vorstellungen bestimmter Verantwortlichkeiten.
[Bearbeiten] Nutzenkalkül
Ein Grundprinzip des Utilitarismus ist unter dem Namen Nutzenkalkül, bei Bentham auch als Hedonistischer Kalkulus, bekannt. Es ist sehr charakteristisch für utilitaristische Überlegungen und Werturteile und ist auch Hauptanstoßpunkt vieler Kritik und intuitiver Abneigung.
Wenn ein Mensch vor mehreren Handlungsalternativen stehe, so solle er gemäß dem Utilitarismus die Handlung wählen, welche in ihrer Konsequenz aller Wahrscheinlichkeit nach das größtmögliche Glück trägt. Dazu habe er alle Einzelkonsequenzen und ihre Auswirkungen auf das Glück und Leid der Einzelnen in Betracht zu ziehen. Letztlich müsse man alles durch das mögliche Praktizieren einer Handlungsalternative entstehende Glück und Leid bei den Einzelnen zu einer Gesamtsumme errechnen, wodurch man erkennen könne, inwiefern eine Handlung allgemein das Glück mehrt oder Leid erzeugt. Dann sei die Handlungsoption zu wählen, welche allgemein das größtmögliche Glück erzeugt.
Als Kriterien bei der Kalkulation des Gesamtnutzens einer Handlung führt Bentham ursprünglich u.a. die Dauer, Intensität und Wahrscheinlichkeit eines Glücks oder Leid auf.
Bentham umschrieb als erster solch ein Verfahren. Obgleich eine detailliertere und konkretere Ausarbeitung nicht exisitiert, wird das Nutzenkalkül als prinzipiell brauchbare Leitlinie von Utilitaristen anerkannt.
Man kann das utilitaristische Nutzenkalkül am besten verstehen, wenn man es mit dem Klugen Entscheidungsverhalten eines Einzelnen vergleicht.
Angenommen ein Student steht vor der Entscheidung zwischen den Alternativen "Wie bisher weiter studieren", "Das Studienfach wechseln" und "Das Studium ganz aufgeben". Wenn er die beste dieser drei Alternativen herausfinden will, dann überlegt er, welche Folgen mit den zur Wahl stehenden Handlungsalternativen jeweils verbunden sind und welche Vor- und Nachteile für ihn selbst dies mit sich bringt.
Die nötigen Überlegungen kann er dadurch übersichtlich gestalten, dass er die Konsequenzen unter bestimmten Gesichtspunkten zusammenfasst wie z. B. "finanzielle Auswirkungen", "Auswirkungen auf die persönlichen Beziehungen", "Auswirkungen auf die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Abschlussprüfung" etc. Diese Gesichtspunkte kann er entsprechend ihrer unterschiedlichen Bedeutung für ihn gewichten.
Dabei wird er klugerweise nicht nur berücksichtigen, ob eine Konsequenz für ihn eher vorteilhaft oder eher nachteilig ist, sondern er wird auch versuchen, die vergleichsweise Größe der Vor- und Nachteile abzuschätzen und in die Entscheidung einzubringen.
Zu einer Entscheidung gelangt er, indem er die Vor- und Nachteile, die mit den Alternativen verbunden sind, gegeneinander abwägt und zu einem einzigen Wert zusammenfasst. Dann wählt er diejenige Alternative, die für ihn den größten positiven Wert aufweist.
Das, was hier als "Vorteil" oder "Nachteil" bezeichnet wird, wird von Entscheidungstheoretikern als "Nutzen" (englisch "utility") bezeichnet. Dieser Begriff ist nicht gerade glücklich gewählt, eher wäre der Begriff "Wert" hier angemessen. Aber der Begriff "Wert" (englisch "value") war in der ökonomischen Theorie bereits für die Bezeichnung des durchschnittlichen Preises eines Gutes vergeben.
"Nutzen" in dem dargestellten Sinne ist nun kein psychologisches Objekt, das man empirisch messen könnte, wie die Utilitaristen des 18. und 19. Jahrhunderts noch meinten. Es handelt sich lediglich um eine Terminologie, mit der man - z.B. durch eine Nutzenfunktion - sehr differenziert und präzise beschreiben kann, was ein Subjekt will.
Der Unterschied zwischen der eben skizzierten rationalen (Nutzen maximierenden) Entscheidung eines einzelnen Subjekts und der utilitaristischen Kalkulation des größten Nutzens besteht allein darin, dass nicht nur die Vor- und Nachteile des einen Subjektes berücksichtigt werden müssen, sondern die Vor- und Nachteile aller Subjekte, die durch die Entscheidung betroffen werden. Das utilitaristische Nutzenkalkül ist also gewissermaßen die Bestimmung der für die Gesamtheit besten Alternative unter der Bedingung, dass den Wertungen aller Individuen gleiches Gewicht zukommt.
[Bearbeiten] Interpersoneller Nutzenvergleich
Zur Durchführung des utilitaristischen Nutzenkalküls ist es in den allermeisten Fällen erforderlich, das Glück bzw. den Vorteil der einen Person gegen das Leid bzw. den Nachteil einer anderen Person abzuwägen. Die Nutzengrößen der einzelnen Personen müssen dazu interpersonal vergleichbar gemessen oder zumindest geschätzt werden. Ob und wie dies möglich ist, bleibt umstritten.
Die frühen Utilitaristen waren der Ansicht, dass das Glück der Menschen eine psychische Größe sei, die man empirisch messen könne. Benthams Bemühungen gingen in Richtung einer derartigen „moral science“. Dieser Weg erwies sich als Irrweg, wie die Diskussion über den „naturalistischen Fehlschluss“ (naturalistic fallacy) gezeigt hat. In den Wirtschaftswissenschaften wurde die utilitaristische Theorie in der Folge fallen gelassen. Die Wirtschaftstheorie kam auch mit rein subjektiven Präferenzordnungen aus. Übrig blieb die Wohlfahrtsökonomie (englisch welfare economics), die sich jedoch am Kriterium der Pareto-Optimalität orientiert. Dies Kriterium klammert intersubjektive Vergleiche von Vor- und Nachteilen aus.
Kritiker verweisen darauf, dass das Glück verschiedener Menschen inkommensurabel sei, und dass daher das Nutzenkalkül nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch unmöglich sei.
Dem wird entgegengehalten, dass im Alltag bei Entscheidungen ständig die Vor- und Nachteile für verschiedene Personen größenmäßig miteinander verglichen werden. Begriffe wie Rücksichtnahme, Opfer, Zumutbarkeit oder Benachteiligung erfordern den Bezug auf das vergleichbare Wohlergehen verschiedener Personen. Wenn Glück inkommensurabel wäre, dann wäre der Tod von hundert Menschen nicht schlimmer als der Tod eines Einzelnen.
Triage scheint ein Beispiel für eine reale Situation zu sein, wo der Utilitarismus konsequent angewendet wurde.
Dem Argument, das Nutzenkalkül sei rein praktisch nicht durchführbar, wird entgegen gehalten, dass man z. B. die vergleichbare Größe des Nutzens einer Theatervorstellung für verschiedene Personen abschätzen könne, indem man prüft, wie viel Zeit, Geld oder Arbeit der Einzelne für den Theaterbesuch zu opfern bereit ist. Außerdem könne man fremdes Leid und fremdes Glück grundsätzlich dadurch ermessen, dass man sich gedanklich in die Lage des andern Menschen hineinversetzt.
[Bearbeiten] Formen und Richtungen
Utilitaristische Theoretiker haben sich von heute als klassisch angesehenen Entwürfen von Bentham und Mill entfernt. Indem sie an den zahlreichen Grundannahmen des klassischen Utilitarismus Variationen vornahmen, sind zahlreiche verschiedene Richtungen entstanden. Um sich von den teils berechtigt, teils polemisch kritisierten Grundformen zu distanzieren, bezeichnen sich einige heute als Konsequentialisten.
Der Utilitarismus tritt in verschiedenen Formen auf:
- Neoutilitaristen betonen, dass Nutzen nicht dasselbe wie Eigennutz oder Egoismus sei; so könne z. B. die Adoption eines Kindes von subjektivem Nutzen sein. Hier spalten sich jedoch die Neoutilitaristen: Die einen haben einen empirischen Begriff, nehmen also an, dass der Mensch grundsätzlich nach Nutzenmaximierung sucht, Unlust vermeiden und Lust gewinnen will. Versuche an Tieren werden auf Menschen übertragen. Die anderen, etwa Mancur Olson, haben einen analytischen Begriff der Nutzenmaximierung, wonach der Nutzen zuerst offen bleibt, um dann analytisch zu untersuchen, welche Handlungsoptionen bei gegebenen Nutzen zu welchem Ergebnis führen. An Einfluss und im Hinblick auf die Erklärung sozialer Phänomene sind sie den empirischen Utilitaristen voraus.
- Die utilitaristische Ethik versucht die Entstehung und Geltung moralischer Normen und gesellschaftlicher Institutionen auf den Nutzen zurückzuführen, den sie für die Gesellschaft haben. Als eine normative Theorie setzt sie das Prinzip des Nutzens als ein moralisches Kriterium, an dem die Richtigkeit und Falschheit von Handlungen sowie Recht und Unrecht gesellschaftlicher Normen und Institutionen gemessen werden. Die utilitaristische Ethik fragt immer nach dem größten Glück aller Betroffenen.
[Bearbeiten] Aktutilitarismus und Regelutilitarismus
Eine verbreitete Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen des Utilitarismus ist die zwischen Akt- oder Handlungsutilitarismus einerseits, und Regelutilitarismus andererseits.
Nach dem Aktutilitarismus sollte man in jeder Situation für die möglichen Handlungen die möglichen Konsequenzen und ihre Wahrscheinlichkeiten in Betracht ziehen, und sich davon ausgehend für die Handlung entscheiden, welche das größtmögliche Glück zur Folge hat. Dabei ist für jede Situation neu zu entscheiden, welche Handlung welche Konsequenzen hat, und wie diese zu bewerten sind.
Im Kontrast dazu steht der Regelutilitarismus. Er sucht zunächst Regeln für das Handeln. Um zu entscheiden ob man eine Regel befolgen sollte oder nicht, wird überlegt, welche Konsequenzen es hätte, sie immer zu befolgen. Die Regel, deren Befolgung das meiste Glück nach sich zieht, ist zu wählen. Eine einzelne Handlung, die durch eine gerechtfertigte Regel geboten wird, ist damit ihrerseits gerechtfertigt und darf nicht noch einmal am Kriterium des größten Nutzens gemessen werden.
Der Regelutilitarismus darf nicht mit den von John Jamieson Carswell Smart vertretenen Konzept der Faustregeln verwechselt werden, die man befolgt, um Informations- und Entscheidungskosten zu senken. Da es Situationen gibt, in denen eine genaue Kalkulation der Konsequenzen zu komplex, zu schwierig oder zu zeitaufwendig ist, wendet man nach Smart Faustregeln an. In Situationen, wo diese Bedingungen aber nicht gegeben sind, könne man diese Faustregeln jedoch durchaus ignorieren.
[Bearbeiten] Arten des Nutzens
Man kann utilitaristische Richtungen danach differenzieren, welche Vorstellung von Nutzen und Glück ihnen zugrunde liegt. Der klassische Utilitarismus von Bentham und Mill wird als hedonistisch betrachtet, da das Gute das von den Menschen angestrebte Glück ist.
Im Unterschied dazu ist für den Präferenzutilitarismus das Gute die Erfüllung der Präferenzen von Personen. Dies sei zu maximieren. In dieser Hinsicht können die Konsequenzen auch andere Dinge als pure Lustbefriedigung wie beispielsweise den Ruf oder Bildung enthalten. Er wird heute vor allem von Peter Singer bevorzugt, welcher von Richard Mervyn Hare beeinflusst wurde.
Inzwischen gibt es verschiedene Versuche, den Utilitarismus unabhängig von der These des psychologischen Hedonismus zu begründen. Ein Beispiel ist die Ethik von Richard Mervyn Hare, der einen Utilitarismus auf sprachanalytischer Grundlage entwirft. Das hedonistische Element lässt sich ohne größere Probleme aus dem Utilitarismus herauslösen und durch einen entscheidungstheoretischen Nutzenbegriff ersetzen. Bereits bei Bentham und Mill deutet sich eine breitere, nicht-hedonistische Interpretation des Nutzenbegriffs an, wenn statt der Begriffe "Glück" (happiness) oder "Lust" (pleasure) andere, nicht-hedonistische Begriffe Verwendung finden wie "Vorteil" (advantage), "Gewinn" (benefit) oder "Gutes" (good).
[Bearbeiten] Negativer Utilitarismus
Die meisten Utilitaristen beschäftigen sich mit der Maximierung der Menge an Glück für die Menschen. Negativer Utilitarismus legt umgekehrt den Fokus darauf, das Leid der Menschen zu minimieren. Glück wird kein Wert beigemessen oder es wird zumindest ein absoluter Vorrang der Leidensminimierung vor der Glücksmaximierung gesehen. Befürworter argumentieren, dass dieses ethische Prinzip effektiver sei, da es mehr Möglichkeiten gäbe, Leid als Glück zu erzeugen, und dass die größten Quellen von Leid folgenreicher wären als die größten Quellen von Glück.
Einige polemische Philosophen argumentieren hingegen, dass das ultimative Ziel des negativen Utilitarismus letztlich die schnellste und schmerzloseste Auslöschung der gesamten Menschheit wäre, da dies ultimativ und effektiv das Leid minimieren würde. Negative Utilitaristen müssten konsequent die Zerstörung der Welt fordern, um den Schmerz einer stechenden Nähnadel zu vermeiden. Derartige Schlussfolgerungen aus dem negativen Utilitarismus werden jedoch nicht von allen geteilt.
[Bearbeiten] Andere Spezies
Da die Grundlage des Utilitarismus letztlich die Empfindungsfähigkeit ist, haben schon von Anfang an viele Utilitaristen nichtmenschliche Lebewesen in die moralische Berücksichtigung mit eingeschlossen. Jeremy Bentham schrieb in The Principles of Morals and Legislation die folgenden in der Tierrechtsliteratur viel zitierten Worte:
- „Der Tag mag kommen, an dem der Rest der belebten Schöpfung jene Rechte erwerben wird, die ihm nur von der Hand der Tyrannei vorenthalten werden konnten. Die Franzosen haben bereits entdeckt, daß die Schwärze der Haut kein Grund ist, ein menschliches Wesen hilflos der Laune eines Peinigers auszuliefern. Vielleicht wird eines Tages erkannt werden, daß die Anzahl der Beine, die Behaarung der Haut oder die Endung des Kreuzbeins ebensowenig Gründe dafür sind, ein empfindendes Wesen diesem Schicksal zu überlassen. Was sonst sollte die unüberschreitbare Linie ausmachen? Ist es die Fähigkeit des Verstandes oder vielleicht die Fähigkeit der Rede? Ein voll ausgewachsenes Pferd aber oder ein Hund ist unvergleichlich verständiger und mitteilsamer als ein einen Tag oder eine Woche alter Säugling oder sogar als ein Säugling von einem Monat. Doch selbst wenn es anders wäre, was würde das ausmachen? Die Frage ist nicht: können sie verständig denken? oder: können sie sprechen? sondern: können sie leiden?“
Gegenwärtig beschäftigt sich der bekannte (Präferenz-)Utilitarist Peter Singer ausgiebig mit diesem Themengebiet. Er gilt auch als Vater der modernen Tierrechtsbewegung.
[Bearbeiten] Auseinandersetzung mit anderen Ethiken
Neben der Ablehnung einiger ethischer Systeme haben Utilitaristen auch versucht, ihre Ethik explizit mit anderen zu verbinden.
Um die aufgedeckten Mängel an beiden Systemen zu überwinden, wurde versucht, den Utilitarismus mit Kants Kategorischem Imperativ zu verbinden. Beispielsweise stellt James Cornman den Gedanken auf, dass in jeder gegebenen Situation so wenige Menschen wie möglich als Mittel gebrauchen sollten, und soviele Menschen wie möglich als Zweck behandeln sollten, was er als „utilitaristisches Kantsches Prinzip“ bezeichnet.
Andere Konsequentialisten betrachten Glück als ein wichtiges Gut, räumen aber auch anderen Gütern wie Gerechtigkeit oder Gleichheit einen gewissen Wert ein, was den Utilitarismus kompatibler mit allgemeinen Moralvorstellungen macht.
[Bearbeiten] Kritik an utilitaristischer Ethik
Seit seiner Formulierung durch Bentham und Mill war der Utilitarismus zahlreichen Kritikpunkten ausgesetzt.
[Bearbeiten] Missverständlicher Gebrauch des Wortes "Nutzen"
Bereits John Stuart Mill sah ein, dass der Ausdruck "Utilitarismus" und seine Ableitung von dem englischen Begriff "utility" anfangs einen falschen Eindruck kreieren könnte, der Utilitarismus wäre an sich kaltherzig und materialistisch. Um derartige Missverständnisse zu vermeiden wird heute zumeist von "Glück" oder "menschlichem Wohl" gesprochen.
Der von den Utilitaristen verwendetete englische Begriff "utility" deckt sich also nicht mit dem deutschen Begriff "Nützlichkeit", worunter nur die Zweckmäßigkeit verstanden wird. Ein schöner Blumenstrauß besitzt zwar "utility", aber er ist nicht "nützlich".
[Bearbeiten] Utilitarismus und allgemeines Moralverständnis
Vom Standpunkt des Utilitarismus ist Glück das höchste und alleinige Gut. Andere ethische Güter wie beispielsweise Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit oder Tugendhaftigkeit und intuitive Moralvorstellungen haben aus utilitaristischer Sicht keinen Wert an sich. Dadurch kann es jedoch zu Situationen kommen, in welcher eine utilitaristische Ethik zu einer Handlung rät, welche anderen Ethiken als absolut unmoralisch bewerten würden. Die meisten Zurückweisungen des Utilitarismus fußen auf diesem Konflikt. Beispielsweise könnte man für die Folterung oder Tötung eines Menschen argumentieren, wenn sich dadurch Menschenleben retten ließen.
Utilitaristen reagieren unterschiedlich auf solche Vorwürfe. Einige vertreten, dass in solchen Situationen nur die Glücksmaximierung zähle, und andere moralische Urteile abzulehnen seien. Andere verweisen darauf, dass in einer gedachten Dilemmasituation der Utilitarismus nur oberflächlich zu einer falsch erscheinenden Entscheidung raten würde, während sich bei dem Bedenken aller direkten und indirekten Konsequenzen ein anderes Bild ergeben würde. So müsse man hierbei auch langfristige Konsequenzen, etwa der Verlust des Vertrauens in staatliche Grundrechte, bedenken. Utilitaristen wie Smart betonen hierbei, dass viele intuitive oder tradierte Moralvorstellungen in der Tat utilitaristisch brauchbar seien, da ihre Befolgung im allgemeinen und auf lange Sicht zu einer Nutzenmaximierung führt. Smart verwendete dabei den Begriff "Faustregel".
[Bearbeiten] Menschenwürde
Ein weiterer Kritikpunkt ist zudem, dass der Utilitarismus die Würde des Menschen zwar anerkennt, dies jedoch nach den Grundsätzen des Utilitarismus nicht immer durchführbar ist. Anhand eines Beispiels lässt sich dies erklären: Angenommen, eine Verkäuferin lässt eine alte, sehbehinderte Frau sehr lange nach Kleingeld suchen, während sich hinter ihr eine lange Schlange bildet. Nach dem Utilitarismus, der ja das Allgemeinwohl als höchstes Ziel vorsieht, dürfte die Verkäuferin nicht der alten Frau helfen, sondern wäre im Sinne des Allgemeinwohls dazu verpflichtet, die anderen Kunden schneller zu bedienen und daher die alte Frau nicht zu bedienen oder ihr nicht zu helfen, Kleingeld zu suchen. Hier wird also deutlich, dass der Utilitarismus keinesfalls immer anwendbar ist und es - wie an diesem Beispiel erläutert - oftmals zu Schwierigkeiten/Kritik an den Grundsätzen des Utilitarismus kommen kann. (Beispiel-Quelle: "Einführung in die utilitaristische Ethik", Franke Verlag, 1992)
Allerdings könnte ein Utilitarist das obige Beispiel auch anders interpretieren. Das Allgemeinwohl setzt sich aus dem Wohl der Einzelnen zusammen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Interesse einer einzelnen Person in bestimmten Fällen nicht schwerer wiegen kann als die entgegenstehenden Interessen mehrerer anderer Personen. So wird dem Notarztwagen im Interesse einer einzigen lebensgefährlich verletzten Person die Vorfahrt eingeräumt, obwohl Hunderte von Autofahrern deshalb anhalten müssen und Zeit verlieren. Entsprechend könnte ein Utilitarist auch das Beispiel mit der alten Frau interpretieren. Dabei wäre jedoch das auf dem Spiel stehende Leben des Schwerverletzten gegen einen einzelnen Einkauf der alten Frau aufzurechnen. Die schwererwiegenden Interessen des Einzelnen sind nicht auf besondere Achtungs-, Würde- oder Verdienstvorstellungen gegründet, sondern auf berechenbaren Nutzen bzw. Leidminderung.
[Bearbeiten] Fragen der Begründung
Am Utilitarismus wird kritisiert, dass er durch Logik oder Wissenschaft nicht als das richtige ethische System bewiesen wäre. Tatsächlich wurde dieses Problem von Utilitaristen als eines der ersten untersucht.
Frühe Utilitaristen leiteten die Maximum-Happiness-Maxime aus einem psychologischen Hedonismus ab. Aber selbst wenn man die These des psychologischen Hedonismus als richtig annimmt, so folgt daraus keineswegs, dass Glück das allein Wünschenswerte ist. Etwas, was tatsächlich gewünscht wird, muss deswegen noch nicht wünschenswert im normativen Sinne sein. Dies wäre ein "naturalistischer Fehlschluss" vom Sein auf das Sollen, wie bereits George Edward Moore betont hat.
Mill argumentierte, dass das Beweisproblem für alle Ethiken bestehe und darum der Utilitarismus gegenüber anderen Systemen dadurch nicht benachteiligt sei. Utilitaristen verweisen diesen Angriff weiter an das Problem des infiniten Regresses oder an das Humesche Gesetz. Einige argumentieren als Antwort auf die Kritik, dass jedes politische Argument für eine bestimmte Gesellschaftsform zumindest implizit ein utilitaristisches Prinzip verwendet, wenn es behauptet, eine bestimmte Gesellschaft sei für die Menschen am nützlichsten. Manche vermuten, dass Utilitarismus zu einem gewissen Grad dem menschlichen Denken angeboren sei.
Der psychologische Hedonismus besagt, dass jeder Mensch nur sein eigenes Glück anstrebt. Der Utilitarismus verlangt aber von den Individuen, dass sie das Glück aller Menschen anstreben. Aus der Tatsache, dass für jede Person das eigene Glück ein Gut ist, kann man jedoch logisch nicht folgern, dass das allgemeine Glück ein Gut für die Gesamtheit aller Personen ist. Kritiker wie Rawls wiesen darauf hin, dass viele Utilitaristen fälschlicherweise diese Übertragung vom Individuum auf die Gesellschaft übergehen würden, indem sie die Vorstellung des individuellen Drangs der eigenen Nutzenmaximierung intuitiv auf die gesamte Gesellschaft übertrügen, obwohl dazu kein Grund bestünde.
[Bearbeiten] Inkonsistentes Menschenbild
Der Utilitarismus lässt sich aufgrund einer Inkonsistenz kritisieren: Einerseits geht er davon aus, dass jeder nach eigenem Glück strebt. Viele Utilitaristen gehen hier von einem psychologischen Egoismus aus. Wenn man aber solch ein Menschenbild zu Grunde legt, dann ist andererseits nicht zu erklären, wie ein Mensch jemals utilitaristisch handeln und u.U. sein eigenes Glück für andere opfern könnte.
[Bearbeiten] Utilitarismus in der Praxis
Die meisten früheren Utilitaristen sahen in ihrer Moralphilosophie vor allem ein Programm für eine wissenschaftlich begründete Ethik und für eine rationale Gesetzgebung. Sozialphilosophisch trugen Bentham und Mill zur Entwicklung des klassischen Liberalismus bei. Umgekehrt bekannten sich Theoretiker der klassischen Nationalökonomie wie David Ricardo zu utilitaristischen Prinzipien.
Der Utilitarismus blieb auch bis in die Neuzeit eng mit der Ökonomie verbunden. Er war die ethische Basis der libertären Wirtschafts- und Gesellschaftstheorien Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek. Hiervon ausgehend wirkte er in die Politik von Margaret Thatcher und Ronald Reagan ein.
[Bearbeiten] Popkultur
Utilitaristische Anklänge im Rahmen der Popkultur finden sich im fiktiven Star Trek-Universum. Der Charakter Spock äußert hier manchmal das Werturteil „Das Wohl der Vielen wiegt mehr als das Wohl der Wenigen; oder des Einzelnen“ („The needs of the many outweigh the needs of the few; or the one“). (Quelle: [1])
In dem Roman "Aufstieg und Fall der Volksrepublik Antarktis" von John C. Batchelor wird der Utilitarismus als gescheitertes Staatenmodell ausführlich thematisiert.
[Bearbeiten] Siehe auch
- Jeremy Bentham
- Bruttonationalglück
- Eudämonismus
- John Stuart Mill
- Konsequentialismus
- Liste von Utilitaristen
- Hedonistisches Kalkül
- Pragmatismus
- Peter Singer
[Bearbeiten] Literatur
- Jeremy Bentham. An introduction to the principles of morals and legislation. Kila(?): Kessinger: 2005. ISBN 1-4179-5732-8
- John Stuart Mill. (1871) Der Utilitarismus. Stuttgart: Reclam, 1976. ISBN 3-15-009821-1
- Peter Singer. Praktische Ethik. 2., überarbeitete Auflage. Philipp Reclam, Stuttgart, 1994. ISBN 3-15-008033-9
- Otfried Höffe. Einführung in die utilitaristische Ethik: Klassische und zeitgenössische Texte. 2., überarbeitete Auflage. Tübingen: Francke, 1992. ISBN 3-7720-1690-1
- Bernward Gesang : Eine Verteidigung des Utilitarismus. Stuttgart: Reclam, 2003. ISBN 3-15-018276-X
- Catherine Audard :Anthologie historique et critique de l'utilitarisme, Puf, 1999
- Francisco Vergara : Les fondements philosophiques du libéralisme : libéralisme et éthique, La Découverte, 2002
- Xavier Bebin : Pourquoi punir ? : l'approche utilitariste de la sanction pénale, L'Harmattan, 2006
[Bearbeiten] Weblinks
Wiktionary: Utilitarismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme und Übersetzungen |
Deutsch
Englisch
- Utilitarian Philosophers. Großes Kompendium von Schriften von und über bedeutende utilitaristische Philosophen, sowohl klassisch wie auch gegenwärtig.
- Onlinetexte von Jeremy Bentham
- John Stuart Mills Utilitarianism bei Project Gutenberg
- Walter Sinnott-Armstrong (2006): Consequentialism Eintrag (englisch) in der Stanford Encyclopedia of Philosophy (inkl. Literaturangaben)
- Brad Hooker (2003): Rule Consequentialism Eintrag (englisch) in der Stanford Encyclopedia of Philosophy (inkl. Literaturangaben)
- http://www.utilitarian.com/ Gute Sammlung von Definitionen, Artikeln und Links.
- Utilitarianism. Ein kurzer Überblick zum Utilitarismus
- Utilitarianism explained, applied and evaluated Aus der UK-Website RSRevision.com
- Utilitarianism FAQ Umfangreiches FAQ zum Utilitarismus
Französisch
- Mouvement Anti-Utilitariste dans les Sciences Sociales
- Présentation de l'utilitarisme par Francisco Vergara
- John Stuart Mill : mythes et réalités Une mise en garde contre des erreurs répandues, par Francisco Vergara. (pdf, existe aussi au format de Word)
- Utilitarisme et justice pénale, par Xavier Bebin
- En défense de l'utilitarisme, par David Olivier, dans les Cahiers antispécistes (revue focalisée sur la question animale)