Liman-von-Sanders-Krise
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Die Liman-von-Sanders-Krise (auch "Liman-von-Sanders-Affaire" oder "Liman-Affaire") war der letzte große diplomatische Konflikt im Vorfeld des Ersten Weltkrieges. 1913 bat das Osmanische Reich um die Entsendung einer deutschen Militärmission nach Istanbul, welche dann auch vom deutschen Kaiser berufen und unter die Führung des Generalleutnants Otto Liman von Sanders gestellt wurde [1]. Das Deutsche Reich wollte durch die Entsendung der Militärberater das Osmanische Reich stärker an sich binden und der deutschen Rüstungsindustrie lukrative Aufträge verschaffen. Russland und der russische Außenminister Sasonow sahen darin den Versuch einer Einflussnahme auf oder gar Kontrolle der Meerengen (Bosporus, das Marmarameer und die Dardanellen). Diese kontrollieren den Zugang vom Schwarzen Meer in die Ägäis und berührten damit unmittelbar strategische Interessen des russischen Reiches, das in seinem europäischen Teil unter einem Mangel an eisfreien Häfen litt. Das Vereinigte Königreich und Frankreich sahen die Entsendung deutscher Offiziere ebenfalls als Provokation an. Da sie aber ihre eigenen Militärberater - England mit der Marinemission und dem Oberbefehl der türkischen Flotte unter Admiral Limpus, und Frankreich mit der Leitung der Gendarmerie unter General Baumann[2][3][4] - im Osmanischen Reich hatten, protestierten sie nur förmlich.
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[Bearbeiten] Vorgeschichte
Der Zusammenbruch der osmanischen Armee im Balkankrieg 1912/1913 hatte bei den Großmächten den Eindruck des bevorstehenden Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches gestärkt und durch die Gefahr des Machtvakuums an den strategisch wichtigen Meerengen die Frage einer Einflussnahme auf Dardanellen und Bosporus sowie einer Aufteilung des osmanischen Reiches aufgeworfen. In die älteren Interessensphären der Großmächte England, Russland und Frankreich stieß um den Preis der politischen Isolation seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend Deutschland mit dem Bau der Bagdadbahn und damit einhergehendem Einfluss im Osmanischen Reich vor. In dieser Situation übergibt der Sultan einer deutschen Militärmission mit weitreichenden Befugnissen die Aufgabe der Reorganisation der Armee, um diese im bevorstehenden Kampf um den Einfluss in der Region zu stärken und das Osmanische Reich zu konsolidieren.[5]
[Bearbeiten] Ablauf
Noch in der ersten Woche, nachdem Liman von Sanders mit den ersten Offizieren der Militärmission am 14. Dezember 1913 in Konstantinopel eingetroffen war, übernahm er im Sinne des Kontraktes der Militärmission das Kommando des I. Armeekorps von Dschemal in Konstantinopel.[6] Damit war Liman von Sanders nicht nur beratend und reorganisierend, sondern auch truppenführend tätig - und dies in der Metropole an der strategisch bedeutenden Meerenge selbst.[3] Liman von Sanders war für dieses Kommando eingetreten, um in der Hauptstadt mit dem I. Korps als Art Musterkorps eine Armeeschule für die türkischen Offiziere zu schaffen.[6][7] Der russische Botschafter von Giers legte daraufhin mit Unterstützung der englischen und französischen Botschaften beim Großwesir diplomatischen Widerspruch ein.[8][9] Besonders die Russen sahen in der Ernennung eines Deutschen als Korpskommandanten in Konstantinopel geradezu einen Schritt zur Annexion der Meerengen durch das Deutsche Reich.[8] Während Auswärtiges Amt und Botschaft versuchten, Liman von Sanders dazu zu bewegen, das Kommando über das I. Armeekorps entweder ganz niederzulegen oder gegen das des II. Armeekorps einzutauschen, lehnte dieser ersteres ab und erklärte letzteres für unmöglich, da die Leitung der Militärmission in Konstantinopel unvereinbar sei mit der gleichzeitigen Ausübung des Kommandos über das II. Armeekorps im 12 Eisenbahnstunden entfernten Adrianopel.[10] Im Falle eines Nachgebens auf den internationalen Druck bat Liman von Sanders um seine Rückberufung nach Deutschland.[11] Als Lösung beförderte der deutsche Kaiser am 14. Januar 1914 Liman von Sanders kurzerhand vorzeitig zum deutschen General und damit kontraktgemäß zum osmanischen Marschall, wodurch Liman von Sanders das Kommando über das I. Armeekorps in türkische Hand übergeben musste, aber auch zum Generalinspekteur der osmanischen Armee ernannt wurde.[11]
Die Krise und unmittelbare Kriegsgefahr konnten zwar durch dieses Nachgeben seitens des Deutschen Reiches beigelegt werden, aber die Beziehungen zwischen Russland und Deutschem Reich waren nachhaltig gestört.[3] Zwar hatten die Deutschen auf das von Russland beanstandete Kommando verzichtet, doch war ihr Rückzug ohne bedeutenden Prestige- oder Machtverlust innerhalb des Osmanischen Reiches gelungen, so dass Russland und die Entente dem eigentlichen Ziel einer Entkräftung der deutschen Militärmission und des deutschen Einflusses in der Meerenge kaum näher gekommen waren.[3] Für das Ansehen der Militärmission wirkte allerdings ungünstig, dass sich zeitnah eine Türkei-interne Militärkrise ereignete. Im Januar 1914 erfolgte die abrupte Ablösung des verdienten osmanischen Kriegsministers Izzet Pascha durch den hiermit zum Generalmajor beförderten 31jährigen Jungtürken Enver, der sofort in rücksichtsloser Weise und oftmals politisch motiviert weit über 1.000 Offiziere ihrer Funktionen enthob, teilweise verhaftete und in Missachtung des Kontraktes der Militärmission dieselbe nicht einbezog oder unterrichtete.[12] International wurde jedoch von verschiedenen Seiten eine Beteiligung der deutschen Militärmission gemutmaßt.[13]
[Bearbeiten] Wirkung und Bewertung
Zuweilen wurde die Frage aufgeworfen, inwieweit die Tätigkeit der deutschen Militärmission den Ausbruch des Ersten Weltkrieges als auslösender Faktor begünstigt hat. Immerhin mag die Aussicht einer effektiven Reorganisation des osmanischen Militärs zu einer erhöhten Kriegbereitschaft Russlands geführt haben, für das die Meerengen strategische Bedeutung hatten, und welches in April, Mai und Juni 1914 umfangreiche Probemobilisierungen vornahm.[14] Für eine weitere Bewertung ist aber die Kenntnis um die grundsätzlichen Interessenlagen der verschiedenen Großmächte unumgänglich.
- Für Russland war der Besitz der Kontrolle über die Meerengen das erklärte Ziel. Seine Politik war daher auf Destabilisierung des Osmanischen Reiches und gegen eine Stärkung desselben durch eine Reorganisation des Heeres festgelegt.[5]
- England hatte sich durch die erzwungene Übernahme der Kontrolle über Ägypten und Suez-Kanal in eine Position gebracht, in der es an einer Stärkung des Osmanischen Reiches nicht interessiert sein konnte. Wirtschaftlich hatte es sich weitgehend aus dem Reich zurückgezogen. Zudem wäre England durch einen bedeutenden Einfluss des deutschen Reiches auf seine Verbindungen nach Indien und Übersee empfindlich angreifbar gewesen.[15][5]
- Frankreich hatte sich hauptsächlich wirtschaftlich im Osmanischen Reich engagiert und war Hauptgläubiger des bankrotten Staates. Es war insoweit an einer Stabilisierung desselben interessiert, wie für Frankreichs wirtschaftliche Betätigung und für die Rückzahlung der Schulden nötig war, konnte aber kein Interesse daran haben, dass sein Einfluss weiter zugunsten des deutschen sank. Es war zudem offizielle Schutzmacht der Katholiken und besonders in Syrien engagiert.[5]
- Deutschland war aus verschiedenen Gründen an einer Stärkung des Osmanischen Reiches interessiert. Zum einen suchte das politisch weitgehend isolierte Reich für den drohenden Krieg einen militärischen Partner für eine Entlastung der Fronten. Zum anderen war ein stabiles Osmanisches Reich Voraussetzung für die wirtschaftliche Ausschöpfung der ehrgeizigen Projekte im Orient. Auch versprach der Bau der Bagdadbahn trotz vieler Hindernisse eine gewisse zukünftige Beteiligung an den reichen Ölvorkommen im Osten des Reiches.[5]
Die deutsche Militärmission hat sich nicht aktiv für das Zustandekommen eines deutsch-osmanischen Waffenbündnisses eingesetzt und war tatsächlich trotz seiner politisch motivierten Berufung nicht politisch tätig geworden[16][17]. Zwar war die Mission deutscherseits eine wichtige Bedingung für eine deutsch-osmanische Waffenallianz[16], doch blieb die Verbindlichkeit des Bündnisses nahezu bis in die letzten Wochen vor Kriegseintritt des Osmanischen Reiches gering. Selbst der geheime osmanisch-deutsche Vertrag vom 2. August 1914 hatte die Osmanen noch nicht zwingend auf eine Koalition mit den Mittelmächten festgelegt.[18]
In Anbetracht der generellen Interessenlage der Mächte und speziell der europäischen Bündnis-Konstellation vor Beginn des Weltkrieges kann somit geschlossen werden, dass nicht die Tätigkeit der Militärmission selbst oder gar die Übernahme des I. Armeekorps durch Liman von Sanders, sondern allgemein der wachsende - vor allem wirtschaftliche - deutsche Einfluss im Orient und in Europa zum Ausbruch des Krieges beigetragen haben.[19] Die jungtürkische Führung - wenn auch vom Deutschen Reich zur Eile gedrängt [20][21] - schloss sich den Mittelmächten aus eigenem Interesse an und verfolgte damit selbständige Ziele.[19] Eine Kontrolle der Deutschen über die Meerengen hatte nie bestanden und war zumindest seitens der Militärmission auch nicht angestrebt worden.[22]
[Bearbeiten] Quellen
- ↑ Liman von Sanders, Otto: Fünf Jahre Türkei, Scherl, Berlin 1920, S.10f.
- ↑ Liman von Sanders, S.23-25
- ↑ a b c d Brauns, Nikolaus: Die deutsch-türkischen Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg 1914, Magisterarbeit am Institut für Neuere Geschichte der Universität München, Wintersemester 1996/1997, unpaginierte Fassung, Kap.5.4.3.
- ↑ Palmer, Alan: Verfall und Untergang des Osmanischen Reiches, Heyne, München 1994 (engl. Original: London 1992), S.320
- ↑ a b c d e Brauns, Kap.2.1.
- ↑ a b Liman von Sanders, S.14
- ↑ Pomiankowski, Joseph: Der Zusammenbruch des Ottomanischen Reiches - Erinnerungen an die Türkei aus der Zeit des Weltkrieges, Amalthea, Wien 1928, S.36f.
- ↑ a b Pomiankowski, S.37
- ↑ Liman von Sanders, S.15
- ↑ Liman von Sanders, S.14-16
- ↑ a b Liman von Sanders, S.16
- ↑ Liman von Sanders, S.16-18
- ↑ Liman von Sanders, S.18
- ↑ Pomiankowski, S.37f.
- ↑ Brauns, Kap.5.2.
- ↑ a b Brauns, Kap.5.6.2.
- ↑ Liman von Sanders, S.11
- ↑ Palmer, S.322
- ↑ a b Brauns, Kap.8
- ↑ Pomiankowski, S.85
- ↑ Liman von Sanders, S.34f.
- ↑ Brauns, Kap.5.6.1.