Psychiatriereform
aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Die Psychiatriereform ist ein bis heute andauernder Prozess der Umstrukturierung der psychiatrischen Landschaft in Deutschland mit dem Ziel, die Situation psychisch erkrankter Menschen maßgeblich zu verbessern. Als Ausgangspunkt für die Psychiatriereform in Deutschland wird heute die 1975 veröffentlichte Psychiatrie-Enquête („Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland“) gesehen. Seit Beginn der siebziger Jahre wurden in fast allen Industrieländern Psychatriereformen versucht. Radikalste Ausmaße nahmen diese Reformbestreben in Italien an, wo 1978 das Gesetz 180 („Legge centottanta“) verabschiedet wurde, das u.a. die Auflösung aller psychiatrischen Anstalten in Italien vorschrieb und die psychiatrischen Konzepte von psychischen Erkrankungen in Frage stellte.
[Bearbeiten] Begleitende bzw. vorausgehende Reformprozesse
- die Einführung der Neuroleptika in den 50er Jahren
- die kritische Aufarbeitung der Verbrechen an psychisch erkrankten Patienten während des Nationalsozialismus, z.B. Zwangssterilisation und Euthanasiemorde (Ermordung ca. 100.000 psychisch kranker Menschen) durch die Studentenbewegung der 68er
und
- die Antipsychiatrie-Bewegung
- die Angehörigenbewegung
[Bearbeiten] Kritik an der traditionellen Psychiatrie
Die Vertreter einer Psychiatriereform in Deutschland prangerten die Zustände in den psychiatrischen Großkrankenhäusern der damaligen Zeit an.
Hauptkritikpunkte: Es handele sich um eine „Ausgrenzungs-„ und „Verwahrpsychiatrie“, in der katastrophale, menschenunwürdige Zustände herrschten. Die Patienten würden, teilweise lebenslang, gesellschaftlich isoliert, entmündigt und lediglich verwahrt, anstatt behandelt und rehabilitiert zu werden.
[Bearbeiten] Die Psychiatrie-Enquête
In der Enquête wurden diese Kritikpunkte bestätigt und schwerwiegende Mängel in der damaligen psychiatrischen Versorgung festgestellt u.a.:
- Die Patienten wurden in großen, oft überbelegten Schlafsälen untergebracht, wo sie keine Privatsphäre hatten.
- In den psychiatrischen Großkrankenhäusern herrschte Personalmangel (zu wenig Ärzte, Sozialarbeiter, etc.) und es gab Qualifikationsprobleme beim Pflegepersonal.
- Die Krankenhäuser lagen meist in abgelegenen Gegenden, was die Vor- und Nachsorge stationärer Aufenthalte erschwerte.
- lange Verweildauer der Patienten im Krankenhaus (über 30% der Patienten länger als 10 Jahre).
- wenig Rehabilitation
[Bearbeiten] Ziele der Psychiatriereform
- Enthospitalisierung (Therapie und Rehabilitation anstatt der bisherigen Verwahrung)
- Behebung der katastrophalen Zustände in den Anstalten
- rechtlich-soziale Gleichstellung der psychisch Kranken und geistig Behinderten
Voraussetzungen hierfür sollten geschaffen werden durch:
- Aufbau von ambulanten Hilfsangeboten im Lebensumfeld der Patienten und ihrer Familien,
- Dezentralisierung und Regionalisierung stationärer Hilfen,
- Koordination der Hilfen und
- Gleichstellung psychisch Kranker mit somatisch Kranken.
- Verkürzung/Vermeidung stationärer Aufenthalte
[Bearbeiten] Errungenschaften der Psychiatriereform
- Verringerung der Bettenzahl in den psychiatrischen Krankenhäusern
- Verbesserung der Personalausstattung
- stationäre Aufenthalte sind kürzer geworden
- Ausbau des Angebotes an ambulanten Diensten wie Sozialpsychiatrische Dienste, tagesstrukturierende Einrichtungen und arbeitsrehabilitierende Maßnahmen.
- Aufbau von betreuten Wohnmöglichkeiten (Heim, Betreute Wohngemeinschaft, Einzelbetreutes Wohnen)
- Regionalisierung der stationären Versorgung: Aufbau von psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern
[Bearbeiten] Abgrenzung der Enquête zur Antipsychiatrie
- Die Realität von psychischen Erkrankungen wird generell anerkannt.
- Es wird von der Notwendigkeit von Diagnosen, stationären Aufenthalten und medikamentöser Behandlung in bestimmten Fällen ausgegangen.
- Die Psychiatrie wird als Dienstleister, als Instrument zur Behandlung und Heilung einer Erkrankung, gesehen. Die Antipsychiatrie betrachtet die Psychiatrie im Gegensatz dazu als ordnungschaffende Instanz, als gesellschaftliches Instrument zur Bestrafung und Korrektur von gesellschaftlicher Unangepasstheit.
[Bearbeiten] Kritik an der heutigen Psychiatrie
Heutige Psychiatriekritiker bemängeln, dass die ursprüngliche gesellschaftliche Ausgrenzungsfunktion der Psychiatrie nach wie vor besteht, nur in einem moderneren, eleganteren, humaner erscheinendem Gewand. Die ursprüngliche Vision vom „mündigen psychisch kranken Bürger“, der selbstbestimmt und gesellschaftlich integriert mit "normalen" Menschen zusammen lebt, sei bisher nicht realisiert.
[Bearbeiten] Bekannte Kritiker der traditionellen Psychiatrie
- Erich Wulff („Psychiatrie und Klassengesellschaft“),
- Klaus Dörner („Irren ist menschlich“)
- Michel Foucault ("Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahn im Zeitalter der Vernunft")
- Jacques Lacan (u.a. "Die Psychosen")
- Herbert Marcuse
- Erving Goffman ("Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität")
- David Cooper
- Ronald D. Laing ("Das geteilte Selbst")
- Franco Basaglia ("Die Entscheidung des Psychiaters")