Wahlrecht (Hamburg)
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[Bearbeiten] Wahlrecht 2004
Am 13. Juni 2004 wurde durch Volksentscheid mit 66,5 % Ja- von 385.542 abgegebenen gültigen Stimmen ein neues Wahlrecht für Hamburg Gesetz. Es handelte sich dabei um ein stark personalisiertes Verhältniswahlrecht. Das Gesetz galt bis zum 11. Oktober 2006, als die regierende Hamburger CDU mit einer Mehrheit von 62 der 121 Stimmen für eine erneute Änderung des Wahlrechts, welches entscheidende Elemente revidierte, stimmte. So wurde der Einfluss der Parteien auf die Zusammensetzung der Bürgerschaft wiederhergestellt.
[Bearbeiten] Bürgerschaftswahl
[Bearbeiten] Listenwahl allgemein
Personalisiert ist das Listenwahlrecht bei der Bürgerschaftswahl durch den Umstand, dass die Reihenfolge der Kandidaten auf den von den Parteien zur Wahl eingereichten Listen so gut wie keine Bedeutung mehr hat. Ausschlaggebend für die Aussicht auf ein Mandat (= Sitz) in der Bürgerschaft (= Hamburgisches Landesparlament) ist lediglich die Anzahl der Stimmen, die jeder einzelne Kandidat persönlich auf sich vereinigen konnte (der Wähler kann seine Kreuze nicht mehr nur bei den Listen allgemein machen, sondern auch bei den einzelnen Kandidaten der Listen). Nur nach Reihenfolge der Kandidatenstimmenzahl werden die Sitzplätze pro Liste nach der Wahl verteilt (die Parteilistenreihenfolge entscheidet lediglich bei Kandidatenstimmengleichheit). Die Macht der Parteien, die bis dahin in internen Sitzungen entschieden, welcher Kandidat mit welcher Wahrscheinlichkeit (je höher der Listenplatz, desto höher die Wahrscheinlichkeit) in das nächste Parlament einziehen würde, ist damit außer Kraft gesetzt.
Der Wähler kann auch wie bisher sein Kreuz bei einer Partei allgemein machen. Seine Stimme beeinflusst dann jedoch lediglich das Parteiengesamtergebnis, welches die Summe der Stimmen für Kandidaten einer Partei und der allgemeinen Stimmen für eine Partei ist und aus dem sich die Sitzzahl ergibt, die der Partei zusteht, nicht jedoch, welche Personen diese Sitze einnehmen. Diese Entscheidung überlässt der Wähler dann denjenigen, die Kandidaten persönlich gewählt haben.
[Bearbeiten] Landeslistenwahl
Aus dem Landeslistenwahlergebnis (also der Summe der Stimmen für Kandidaten einer Partei und der Stimmen für die betreffende Partei allgemein) ergibt sich wie bisher die Gesamtsitzzahl einer Partei in der Bürgerschaft. Ebenso wie bisher gilt die Fünf-Prozent-Hürde für Landeslisten.
50 der 121 Bürgerschaftsmandate werden aus den Landeslisten besetzt.
[Bearbeiten] Wahlkreislistenwahl
71 der 121 Bürgerschaftsmandate werden über die Ergebnisse in den 17 Wahlkreisen vergeben. Bei den Wahlkreisen handelt es sich durch das neue Wahlrecht um Mehrmandatswahlkreise mit 3 bis 5 (je nach Größe des Wahlkreises) zu vergebenen Mandaten und entsprechenden Kandidatenlisten, die zur Wahl stehen. Auch hier entscheidet schließlich lediglich die Anzahl der persönlichen Stimmen, die die einzelnen Kandidaten auf sich vereinigen konnten, welche Kandidaten die Mandate erlangen. Es entsteht also eine persönliche Konkurrenzsituation zwischen Kandidaten derselben Partei auch in den Wahlkreisen. Wieviele Sitze im Wahlkreis einer Partei überhaupt zustehen, ergibt sich wie bei der Landesliste aus der Summe der Stimmen für die Kandidaten der Partei und der allgemeinen Stimmen für die Partei. Partei- oder auch Einzelkandidaten, die im Wahlkreis gewählt wurden, haben jedenfalls einen Sitz in der Bürgerschaft, auch, wenn die Landesliste von Parteikandidaten die Fünf-Prozent-Hürde nicht überwand.
[Bearbeiten] Anzahl der Stimmen
Jeder Wahlberechtigte hat insgesamt zehn Stimmen, fünf für die Landesliste und fünf für die Wahlkreisliste. Jeder Kandidat (bzw. Partei allgemein) hat auf dem Stimmzettel ebenfalls fünf Ankreuzfelder. Der Wähler kann nun mehrere Stimmen auf einen Kandidaten/Partei anhäufen (kumulieren) oder auch auf verschiedene Kandidaten/Parteien verteilen (panaschieren). Wenn der Wähler also fünf Kandidaten persönlich für besonders fähig erachtet und sich von diesen im Parlament vertreten lassen möchte, die Kandidaten jedoch fünf verschiedenen Parteien angehören, so kann er seine Stimmen entsprechend verteilen.
[Bearbeiten] Wahlen zu den Bezirksversammlungen
- Das neue Bürgerschaftswahlrecht wird auf die Wahlen zu den Bezirksversammlungen übertragen.
- Die Wahlen zu den Bezirksversammlungen werden von der Bürgerschaftswahl getrennt und mit der Europawahl zusammengelegt (alle fünf Jahre). Dadurch soll die politische Eigenständigkeit der Bezirksversammlungen gestärkt werden.
- Die 5%-Hürde wird - entsprechend der Entwicklung auf kommunaler Ebene in anderen Bundesländern - aufgehoben.
siehe auch: Kommunalwahlrecht
[Bearbeiten] Wahlverfahren und Stimmenauszählung
Nach dem Wahlrecht von 2004 ist eine herkömmliche Auswertung der Stimmzettel (händisches Auszählen) mit vertretbarem (Zeit-)Aufwand nicht mehr möglich. Es werden daher derzeit elektronische Wahlverfahren auf Anwendbarkeit geprüft. Bei der Bundestagswahl 2005 konnten Wähler in zwei Wahllokalen in Hamburg freiwillig an einem Feldversuch mit dem „Digitalen Wahlstift“ teilnehmen. Der Landeswahlleiter zeigte sich mit dem Testverlauf zufrieden.
[Bearbeiten] Vergleichbares bestehendes Wahlrecht
Das Prinzip der dynamischen Parteilisten und der Mehrstimmigkeit ist bereits seit längerem im bayerischen Kommunalwahlrecht verankert und wird entsprechend angewendet. Die Parteilistendynamik ist auch im Wahlrecht zum Bayerischen Landtag festgeschrieben.
[Bearbeiten] Die Haltungen der Parteien zum Wahlrecht von 2004
Die beiden Parteien CDU und SPD legten bei der Volksabstimmung zum neuen Wahlrecht 2004 einen gemeinsamen Gegenentwurf vor, der in den meisten Punkten dem Vorschlag der Bürgerinitiative ähnlich war, jedoch die entscheidenden Punkte, nämlich Mehrmandatswahlkreise und dynamische Parteilisten, nicht enthielt. Die Wähler entschieden sich für den Gesetzentwurf der Bürgerinitiative.
- CDU: Die mit absoluter Mehrheit alleinregierende CDU richtete nach dem nicht ihren Vorstellungen entsprechendem Volksentscheid eine Geheimkommission unter dem langjährigen CDU-Parteivorsitzenden Jürgen Echternach († 4. April 2006) ein. Diese Kommission erarbeitete einen Wahlrechtsreformvorschlag. Aus Sicht der Wahlinitiative sollte dieser Vorschlag den Einfluss der Parteien auf die Personalzusammensetzung erhöhen und den Einfluss der Wähler praktisch unmöglich machen. Aus Sicht der CDU diente der Vorschlag insbesondere der Behebung von handwerklichen Fehlern im Gesetzestext der Initiative. Über einen entsprechenden Gesetzesvorschlag sollte die CDU-Fraktion in einer Sondersitzung am 31. Oktober 2005 entscheiden. Dies geschah jedoch nicht, da es nicht sicher schien, dass die Gesetzesvorlage in der Bürgerschaft eine Mehrheit finden würde, obwohl die CDU die absolute Mehrheit in der Bürgerschaft hat. Kritik kam z.B. vom CDU-Ortsvorsitzenden von Hamburg-Nienstedten, Lars Möller, der das Vorhaben als „eine Geheimaktion, die von oben durchgepeitscht wurde“ bezeichnete. Am 8. Mai 2006 beschloss die CDU-Bürgerschaftsfraktion bei Enthaltung der Harburger Abgeordneten einen Gesetzentwurf für ein neues Wahlrecht. Dieser sieht u.a. starre Parteilisten und nur eine Wählerstimme (also kein Kumulieren/Panaschieren möglich) für die Landeslistenwahl, die Wiedereinführung der 5%-Hürde auf Bezirksebene, sowie ein Nachbesetzen von unbesetzten Wahlkreissitzen aus der Landesliste vor, wodurch die entscheidenden Merkmale des vom Volk bestimmten Wahlrechts abgeschafft werden sollen.
- SPD: SPD-Fraktionschef Michael Neumann versicherte in der Sendung hamburg journal, dass Volksentscheide aus Sicht der SPD „moralisch bindend sind und nicht angegriffen werden dürfen“. Die Hamburger SPD akzeptiert damit ihre Niederlage beim Volksentscheid.
- Bündnis 90/Die Grünen GAL: Der Verfassungsexperte und Bürgerschaftsabgeordnete der GAL-Fraktion Farid Müller gehört zu den Unterstützern des neuen Wahlrechts: "Das neue Wahlrecht stärkt die Wählenden gegenüber den Parteien. Es ist deswegen ein gutes Rezept gegen Politikverdrossenheit und Extremismus." Er prophezeite SPD und CDU eine schmerzliche Niederlage bei der Volksabstimmung. Die Pläne der CDU zur Änderung des Wahlrechts verurteilt er als "Wahlrechtsraub". Gegen diesen Wahlrechtsraub wendet er sich mit zahlreichen Reden und Presseveröffentlichungen. Müller darf als engagiertester Bürgerschaftsabgeordneter in Sachen Wahlrecht und Volksentscheide gelten. Krista Sager, Vorsitzende der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen und ehemalige Zweite Bürgermeisterin von Hamburg: „Endlich bekommt die Diskussion um ein neues Wahlrecht einen neuen Schub. Die GAL (Grün-alternative Liste in Hamburg) begrüßt die Einrichtung von Wahlkreisen und die Möglichkeit, mehrere Stimmen auf einen Kandidaten bzw. eine Kandidatin zu kumulieren. Die Wahlrechtsreform wird für mehr Bürgernähe sorgen.“
- FDP: Ekkehard Rumpf, verfassungspolitischer Sprecher der FDP-Bürgerschaftsfraktion: „Durch das Kumulieren und Panaschieren können Wähler ihren politischen Willen differenziert ausdrücken. Das entspricht einer jahrelangen Forderung der FDP, deshalb wird die vorgeschlagene Wahlrechtsreform von uns voll unterstützt.“
[Bearbeiten] Wahlrechtsänderung 2006
Am 11. Oktober 2006 beschloss die CDU-Fraktion, mit Ausnahme eines CDU-Abgeordneten, gegen die Stimmen der Opposition entscheidende Änderungen des Wahlrechts für Hamburg, welche die Kernelemente des Wahlrechts von 2004, welches nicht angewendet wurde, rückgängig machten. Durch die Gesetzesänderung wurden die fünf Stimmen für Landeslisten in eine Listen- bzw. Parteistimme (siehe Zweitstimme) umgewandelt. In den Wahlkreisen muss ein Kandidat 30 % der Wahlzahl als Persönlichkeitsstimmen erhalten, um seine Rangfolge zu verbessern. Unter Berücksichtigung des in der Gesetzesbegründung angegebenen Beispiels wurde damit für die Wähler die Möglichkeit der Personen-Auswahl de facto abgeschafft. Auf Bezirksebene besteht die Fünf-Prozent-Klausel, um (so der CDU-Entwurf) extremistischen Parteien den Einzug in die Bezirksversammlungen zu erschweren.
[Bearbeiten] Kritik an der Wahlrechtsänderung 2006
Die Änderung des mit knapp Zweidrittelmehrheit vom Volk bestimmten Wahlrechts durch die Drei-Stimmen-Mehrheit einer Partei in der Bürgerschaft stößt nicht nur auf Kritik am Demokratieverständnis der Hamburger CDU (bislang wurde in der BRD das Wahlrecht nur mit großen Mehrheiten und mit Wirkung erst für die übernächste Wahl geändert), sondern wirft auch juristische Fragen auf, z. B. nach dem Vertrauensschutz von Verfassungsinstitutionen (Volksentscheid) und der Berechtigung der Fünf-Prozent-Hürde auf Kommunalebene (in Deutschland inzwischen unüblich).
Sich stützend auf ein Gutachten des ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Ernst Gottfried Mahrenholz, teilten die Bürgerschaftsfraktionen von SPD und GAL am 14. November 2006 mit, gemeinsam vor das Hamburger Verfassungsgericht zu ziehen, um gegen die von der CDU beschlossenen Änderungen des Wahlrechts zu klagen. Nach Ansicht Mahrenholz' hat die Bürgerschaft das Volkswahlrecht „vollständig verändert“ und damit „den Grundsatz der Organtreue gegenüber dem Volksgesetzgeber verletzt“. Das Urteil wird voraussichtlich Ende April 2007 verkündet.
[Bearbeiten] Wahlverfahren und Stimmenauszählung
Die Notwendigkeit eines elektronischen Wahlverfahrens bleibt auch nach den Änderungen bestehen.
[Bearbeiten] Siehe auch
[Bearbeiten] Externe Verknüpfungen
- Informationen des Initiators des Volksentscheides zum Wahlrecht von 2004, des Vereins "Mehr Bürgerrechte"
- Hamburger Abendblatt: "Wahlrecht: CDU-Mitglieder kritisieren das Vorgehen"
- Süddeutsche Zeitung: "Hamburger CDU setzt sich über Volksentscheid hinweg"
- Wahlrecht.de: "Hamburg schafft großen Wählereinfluss auf Personenwahl wieder ab"
- Gesetz über die Wahl zur hamburgischen Bürgerschaft
- Einführung der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg zum neuen Wahlrecht
- Informationen des Initiators des Volksentscheides zum neuen Wahlrecht, des Vereins "Mehr Bürgerrechte"
- Musterstimmzettel
- Wahlrecht.de über das neue Wahlrecht für Hamburg
[Bearbeiten] Literatur
Hans Herbert von Arnim: Fetter Bauch regiert nicht gern. Kindler, München 1997, S. 370 ff.