Warao
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Die Warao sind ein indigenes Volk in Südamerika, das in Venezuela im Flussdelta des Orinoco lebt (gegenüber der Insel Trinidad). Mit rund 30.000 Angehörigen sind sie die zweitgrößte indianische Ethnie in Venezuela und wurden nie besiegt oder kolonisiert. Sie nennen sich selbst "Boot-Leute", da sich ihr Leben hauptsächlich auf den unzähligen Wasserläufen abspielt - es gibt keine Straßen im 40.000 km² großen Orinoco-Delta mit seinen unzähligen kleinen Inseln und Marschen. Die wörtliche Übersetzung des Eigennamens Waharao ist "Marschlandbewohner".
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[Bearbeiten] Siedlungen und Sprache
Die Warao leben in kleinen Familienverbänden in rund 250 versprengten Siedlungen, vorwiegend am Fluss Winikina. Wegen des sumpfigen Untergrunds bestehen ihre kleinen Dörfer zumeist aus halboffenen hölzernen Pfahlbauten. Nur wenige Warao stranden in den Kleinstädten Tucupita und Barrancas. Etwa 1.000 Warao leben im Nachbarstaat Guyana.
Die deutsche Sprachforscherin Stefanie Herrmann erklärt die Warao-Sprache als agglutinierend und mit keiner anderen lebenden oder dokumentierten Sprache verwandt. Die Warao haben keine eigene Schrift, verfügen aber über eine sehr reichhaltige mündliche Literatur mit verschiedenen Sprachstilen und Genres.
[Bearbeiten] Geschichte
Über die Geschichte der Warao ist wenig bekannt. Sie sollen seit 9.000 Jahren das Orinoco-Delta besiedeln (W. Wilbert 1995). Andere Forscher vermuten, dass die Warao von kriegerischen Kariben und Arawak vor einigen Jahrhunderten in das Sumpfgebiet abgedrängt wurden.
Erst ab 1927 kamen Kapuziner-Missionare zu den Warao, sahen aber von Anfang an ihre Aufgabe in der Förderung dieses kleinen Indianervolks und gingen bzw. gehen behutsam vor. Heute tragen die Warao Blusen und Kleider bzw. Hemden und Hosen, ein Teil von ihnen ist katholisch getauft. Die Messen der christlichen Missionare werden der "schönen Gesänge" wegen auch von ungetauften Warao besucht.
[Bearbeiten] Sozialstruktur
Die Warao sind eine matriarchale Gesellschaft, in der die Geburt einer Tochter als wichtiger angesehen wird als die Geburt eines Sohnes. Die Angelegenheiten der Familien- und Dorfverbände werden vor allem von den (älteren) Frauen geleitet. Die venezolanische Regierung setzt zwar sog. Capitanes ein, männliche Dorfvorsteher, die die Sozialstruktur der Warao nicht verstehen, dennoch verbleibt der Haupteinfluß bei den Frauen. Die Kinderbetreuung obliegt bei den Warao mehr den Männern als den Frauen. Konflikte werden gemeinschaftlich gelöst, aggressives Verhalten untereinander ist selten und kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Warao-Dörfern sind nicht bekannt.
Übergeordnete Organisationsstrukturen haben die Warao nicht, auch keine Bünde oder Geheimgesellschaften, weder bei Frauen noch bei Männern. Die bei anderen matriarchalen Völkern übliche Benutzung von rituellen Masken kennen sie nicht.
Es besteht eine matrilokale Sozialstruktur, bei der die Töchter ihr Leben lang bei ihrem Familienverband bleiben. Im Falle einer Heirat verlässt der Bräutigam seine eigene Familie (und meist sein Dorf) und zieht zu den Eltern seiner Braut. Um von den Schwiegereltern die Einwilligung zur Heirat zu bekommen, muss der Mann vorher ein Jahr lang für sie arbeiten und 3 Dinge tun: ein Haus bauen, ein Kanu anfertigen und einen Gemüsegarten anlegen, eine kleine brandgerodete Fläche im sumpfigen Regenwald. Während der Ehe muss der Mann auch seine Schwiegereltern mit Nahrung versorgen, er hat keinerlei Besitzanteile und bei einer Trennung verbleibt der ganze Besitz bei der Frau. Auch das Vererben von Besitz und Rechten geschieht matrilinear, also von der Mutter auf die Töchter, zumeist auf die jüngste Tochter.
[Bearbeiten] Wirtschaftsweise
Die traditionellen Grundlagen der Warao-Wirtschaft sind:
- Fischfang mit Angeln und Harpunen in den zahlreichen Wasserläufen des Deltas und Krebsfang mit geflochtenen Körben,
- Jagd mit langen Blasrohren auf den unzähligen kleinen Inseln,
- Sammeln sowie Brandrodungsfeldbau auf kleinen Flächen, vor allem Maniok, Wasserbrotwurzel (Taro) und Okumo-Knolle (Tannia),
- Nutzung der Moriche-Palme (Mauritia flexuosa), von ihnen respektvoll "Lebensbaum" genannt.
Die Warao verarbeiten ausschließlich pflanzliche Rohstoffe, Keramik kennen sie nicht, Metalle und Minerale sind in der sumpfigen Delta-Landschaft nicht zu finden. Auch ausgiebiger Ackerbau oder Viehhaltung ist wegen Sturmfluten und jährlichen Überschwemmungen nicht möglich.
Vor allem die Moriche-Palme liefert den Warao Materialien für das Herstellen von Einbaum-Kanus, Bastseilen und -schnüren, Hängematten, Körben, Pfeilen usw. Die braunen Früchte und das Palmherz dienen der Ernährung, der Palmenstamm wird angezapft, um Saft und dann durch Gärung Palmwein zu gewinnen. Ähnlich wie bei der asiatischen Sagopalme, wird das Mark des Stammes nach dem Fällen und einem aufwendigen Auswaschen der Palmstärke als Sago-Mehl zur Herstellung von Brot verwendet. Nach dem Aushöhlen wird der Palmstamm zum Verrotten zurückgelassen. Nach einiger Zeit werden dann proteinreiche Käfer-Larven geerntet, die sich in dem Stamm entwickeln und als große Leckerbissen angesehen werden. Die Blattwedeln der Moriche-Palme werden auch zum Dachdecken benutzt. Ein Mann braucht 3 Wochen vom Baumschlag bis zu einem fertig ausgehöhlten und feuergehärteten Kanu. Die 3-monatige Erntezeit von Moriche-Palmen wird von zahlreichen rituellen Festen begleitet.
Grundsätzlich besteht bei den Warao eine strikte Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern, auch wenn sie in gemeinsamen Gruppen arbeiten, um z. B. in den jährlichen Trockenperioden Moriche-Palmen in den zum Teil entfernten Palmenwäldern zu fällen und zu verwerten.
Geld benutzen die Warao untereinander kaum, stattdessen pflegen sie gegenseitige Hilfs- und Tauschbeziehungen. Erst nach der Errichtung einiger Sägewerke und Palmherz-Fabriken im Deltagebiet mit geringfügigen Verdienstmöglichkeiten hielt Geld Einzug bei den Warao. Sie kaufen damit in Tucupita und Barrancas vor allem Mais, Mehl, Reis, Nudeln, Zucker und Benzin für ihre motorbetriebenen Einbaum-Kanus. Bei einigen Warao besteht die Gepflogenheit, für einige Wochen in den benachbarten Kleinstädten erfolgreich um Geld zu betteln. Für ihre zeitweilige Unterkunft wurden von Regierungsseite Casa Indígenas errichtet.
Das Deltagebiet wird zunehmend touristisch erschlossen. Die Warao nutzen ihre handwerklichen Fähigkeiten, um Tiere aus Balsaholz zu schnitzen, Ketten aus Fruchtkernen herzustellen und stabile Korbwaren und Hängematten zu flechten, die sie an Touristen verkaufen.
[Bearbeiten] Kultur und Religion
Weil Dioso ("Große Mutter"), die Schöpferin des Kosmos, weiblich ist, sehen sich die Warao als ein Volk der starken Frauen. Das Wichtigste ist ihnen das Streben nach Harmonie im Kosmos. Laut ihrem kosmischen Weltbild ist die Welt gänzlich von Wasser umgeben, mittendrin befindet sich eine Landmasse, auf der sie leben. In allen vier Himmelsrichtungen befinden sich an den Enden ihrer Welt heilige Felsen und Säulen, auf denen Götter wohnen.
In der Religion der Warao spielen die Ahnengeister eine wichtige Rolle, Schamanen wirken als Bindeglied zwischen den Geistern und den Lebenden. Insgesamt kennen die Warao 3 Typen von vorwiegend männlichen Schamanen: Wisiratu, Bahanarotu und Hoarotu. Die Wisiratu-Schamanen benutzen bei ihren Zeremonien das Hebu Mataro, eine Art Rassel, die den Warao heilig ist. Bei wichtigen religiösen Ritualen oder in den Heil- und Totengesängen wird von den Schamanen eine rituelle Geheimsprache benutzt.
Die Warao haben eine Naturmedizin, die auf örtlichen Heilpflanzen beruht. Aber "Krankheiten" sehen sie nicht als solche, sondern als "Besessenheit von bösen Geistern", die von Schamanen durch Kneten verschiedener Körperpartien ausgetrieben werden müssen. Dementsprechend werden die vorhandenen kleinen Missionskrankenhäuser der Kapuziner kaum besucht.
[Bearbeiten] Probleme und Ausblick
Der Lebensraum der Warao im Orinoco-Delta wird von mehreren modernen Einflüssen bedroht:
- Die Zunahme industrieller Fischerei vor dem Delta reduziert das Fischaufkommen in den Hunderten von Flussläufen. Fangrechte werden von der venezolanischen Regierung an ausländische Firmen verkauft, ohne die Interessen der Warao zu berücksichtigen.
- Sägewerke im Regenwald gefährden nicht nur nachhaltig den Baumbestand, sondern bewirken auch eine kulturelle Entfremdung der beschäftigten Tagelöhner (1,50 Euro/Tag), die zum Teil der Verführungskraft von Konsumgütern erliegen und sich sogar verschulden. Allerdings wird der Holzschlag von Regierungsseite eingeschränkt.
- Eine ähnliche Wirkung haben Palmherz-Fabriken, für die Tausende von Manaca-Palmen (Euterpe oleracea, Kohlpalme) gefällt werden. Pro Baum wird ausschließlich ein etwa 1 Meter langes "Palmito" verwertet, das dann in Dosen gefüllt als exotische Delikatesse bis nach Europa exportiert wird. Der Rest der gefällten Palme bleibt achtlos dem Verfaulen überlassen.
- Bohrtrupps suchen nach Öl, das auch unter dem Deltagebiet reichlich lagert, und bewirken sowohl Verfremdung wie auch mögliche Umweltverschmutzungen. Venezuela ist einer der drei größten Erdöllieferanten der USA, der Erdölexport macht die Hälfte der Staatseinnahmen aus.
- Missionare der New Tribes Mission (eine evangelistische Mission aus den USA) betreiben Erwachsenenalphabethisierung als Grundlage zum Bibelstudium. Bildungsinteressierten Warao bleibt oft keine andere Wahl als sich einer solchen Religionsgemeinschaft anzuschließen.
- Die Infektionskrankheit Tuberkulose breitet sich im Orinoco-Delta aus, die medizinische Versorgung der versprengten Warao-Siedlungen ist mangelhaft.
- Verstärkt hält der Tourismus Einzug im Warao-Gebiet, mit all seinen bekannten Vor- und Nachteilen.
- Die Warao, die in den Kleinstädten Tucupita und Barrancas landen, leben zumeist zwischen Plastik und Müll in Slums und verlieren schnell ihre Identität. Eine Rückkehr in die traditionellen Dörfer ziehen diese Warao nicht mehr in Erwägung.
Die Warao-Bevölkerung hat sich, nicht zuletzt wegen einer verbesserten medizinischen Versorgung, in den letzten Jahrzehnten mehr als verdreifacht. Seitens des Staates wird versucht, ihnen in einigen kleinen Schulen zumindest eine Grundbildung und die Beherrschung der spanischen Sprache zu vermitteln. Die Warao-Indianer betreiben eine langsame Anpassung an die "westliche" Kultur und halten an ihrem Brauchtum fest. Sie haben im Ganzen gesehen gute Überlebenschancen. Verschiedene Hilfsprojekte, u. a. von Adveniat und "Lebensraum Regenwald", bemühen sich um eine sinnvolle Unterstützung dabei.
[Bearbeiten] Film
- Die Macht der Warao-Frauen – Wie ein Indianervolk überlebt (auch: Die Warao – Volk der starken Frauen). TV-Doku, Bayerischer Rundfunk & Adveniat 1997. 44 Min., Regie & Buch: Gernot Schley.
[Bearbeiten] Literatur
- Carola Kasburg: Akkulturation, Abwanderung und Verelendung bei den Warao im Orinoko Delta, Venezuela. Holos-Verlag, Bonn 1999, ISBN 3860970992.
- Claudia Kalka: "Eine Tochter ist ein Haus, ein Boot und ein Garten" : Frauen und Geschlechtersymmetrie bei den Warao-Indianern Venezuelas. LIT Verlag, Münster 1995, ISBN 3825821323. (Dissertation 1994)
- Waltraud Grohs-Paul: Familiale und schulische Sozialisation bei den Warao-Indianern des Orinoko-Delta, Venezuela. Hochschulverlag, Stuttgart 1979, ISBN 3810720844.
- Emmerich Weisshar: Die Stellung des Warao und Yanomama in Beziehung zu den indigenen Sprachen Südamerikas nördlich des Amazonas : Studien zur genetischen und areal-typologischen Klassifikation. Dissertation Phil. Tübingen 1979, Bamberg 1982.
- Dale A. Olsen: Music of the Warao of Venezuela : Song People of the Rain Forest. Mit Audio-CD. University Press of Florida 1996, ISBN 0813013909
[Bearbeiten] Weblinks
- Stefanie Herrmann: Bilder und Erfahrungen einer Feldforschung bei den Warao (2001, viele Fotos)
- WDR-Fernsehen: Die Warao - Volk der starken Frauen (2003, Text zur TV-Doku)
- Susanne Asal: Indianerschule in Venezuela (CariLat 2002)
- Alexander's Gas & Oil Connection: Dispute over Orinoco River Delta just starting (1997, Öl-Problematik)