Bielefelder Schule
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Als Bielefelder Schule bezeichnet man eine sozialwissenschaftlich geprägte Richtung innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft, die durch die beiden Anfang der 1970er Jahre an die neugegründete Universität Bielefeld berufenen Historiker Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka (inzwischen Berlin) geprägt wurde und seitdem die deutsche Sozialgeschichte maßgeblich beeinflusst hat. Wehler definierte sein Arbeitsgebiet auch als "historische Sozialwissenschaft", für die er auf Methoden der Soziologie und der Psychologie (insbes. Psychoanalyse) zurückgriff.
Wehler und Kocka entwickelten ihren Ansatz insbesondere in Arbeiten zur Sozialstruktur und Mentalitätsgeschichte der deutschen Gesellschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Als Forum der Bielefelder Schule gilt die von Wehler und Kocka herausgegebene Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft [1].
Als Gegenbewegung zum Historismus wendet sich die Bielefelder Schule gegen die Konzentration der Geschichtsbetrachtung auf politische Ereignisse und betont stattdessen die Bedeutung sozialstruktureller Phänomene. Ihre Vertreter lehnen die tragende Rolle von Einzelpersonen weitgehend ab oder definieren sie als gesellschaftlich bedingt.
Die Bezeichnung "Bielefelder Schule" wird oft - von konservativen Kritikern teilweise auch ironisch - als Synonym für den Ansatz Wehlers bzw. Kockas gebraucht; zur "zweiten Generation" der von ihnen geprägten Schule werden die ebenfalls in Bielefeld lehrenden Heinz-Gerhard Haupt und Ute Frevert gerechnet. Die Brüder Wolfgang und Hans Mommsen, die in Düsseldorf bzw. Bochum lehrten, werden trotz einiger Überschneidungen in der Regel nicht zur Bielefelder Schule gezählt, da sie nicht in erster Linie sozial- bzw. mentalitätsgeschichtlich arbeiteten. Allerdings teilt Hans Mommsen mit der Bielefelder Schule ein "strukturalistisches" bzw. "funktionalistisches" Geschichtsverständnis, das er insbesondere auf die Interpretation des Nationalsozialismus übertrug und sich damit von einer stärker auf die Person Hitlers fixierten, "intentionalistischen" Interpretation abgrenzte.
Die "Bielefelder Schule" in der Geschichtswissenschaft ist keinesfalls zu verwechseln mit der Theorie des ab 1968 an der Universität Bielefeld lehrenden Soziologen Niklas Luhmann und seiner Schüler, die zuweilen ebenfalls als "Bielefelder Schule" oder "Bielefelder Systemtheorie" bezeichnet wird. Im Gegensatz zur geschichtswissenschaftlichen Bielefelder Schule ist diese soziologische Bielefelder Schule politisch eher konservativ. Des Weiteren existiert in der Entwicklungstheorie eine Bielefelder Schule, die außer ihrer Beheimatung an der Universität Bielefeld wiederum nichts mit den oben genannten Schulen gemeinsam hat.
[Bearbeiten] Literatur
- Jürgen Kocka: Sozialgeschichte. Begriff, Entwicklung, Probleme. Göttingen 1977. ISBN 3525334516
- Hans-Ulrich Wehler: Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung. Studien zu Aufgaben und Traditionen deutscher Geschichtswissenschaft. Göttingen 1980 ISBN 3525361769