Lehrgedicht
aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Ein Lehrgedicht ist die Darstellung eines Sachgegenstandes aus Kultur, Gesellschaft, Literatur oder Naturwissenschaft in hochpoetischer Form. Das gängige Versmaß der Lehrdichtung ist der stichische Hexameter, Lehrgedichte im elegischen Distichon, in Sotadeen oder in jambischen Versmaßen kommen ebenfalls vor, sind aber weitaus seltener. Das Lehrgedicht ist an sich eine Gattung der griechisch-römischen Literatur, die aber vom 15. bis 18. Jahrhundert (im Zuge der Rückbesinnung auf die Antike) eine Renaissance erlebt. Der überwiegende Teil der Lehrgedichte wurde daher (nach den Anfängen der Lehrdichtung in Griechenland) in lateinischer Sprache abgefasst, es gibt jedoch durchaus auch volkssprachliche Lehrgedichte. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts stirbt die Gattung weitgehend aus.
Ein Beispiel aus dem 20. Jahrhundert ist Karl Herschmanns Das unterhaltende Bridge-Lehrbuch, das in paarweise gereimten vierhebigen Jamben die Regeln dieses Kartenspiels nebst Hinweisen zur Spielstrategie darlegt.
[Bearbeiten] Geschichte des Lehrgedichts
Die frühesten Zeugnisse für Lehrdichtung ("didaktische Poesie") stammen aus dem 7. Jahrhundert vor Christus. Der griechische Dichter Hesiod aus Askra in Böotien verfasste in dieser Zeit ein Gedicht über die Entstehung der Welt (s. Schöpfungsmythen) und die Genealogien griechischer Götter (Theogonie) und ein weiteres über Landwirtschaft (Werke und Tage, gr. ἔργα καὶ ἡμέραι / érga kai hemérai; der zweite Teil, "Tage", ist wahrscheinlich unecht), dessen Hintergrund ein Erbschaftsstreit mit seinem Bruder Perses ist. Obwohl sowohl die "Theogonie" als auch die "Erga" keine Lehrgedichte im eigentlichen Sinne sind, gelten sie späteren Dichtern als Prototypen didaktischer Poesie, an denen man sich vielfach orientierte.
Im klassischen Griechenland des fünften Jahrhunderts vor Christus nutzten die unteritalischen Naturphilosophen Parmenides und Empedokles die poetische Form zur Darstellung ihrer Lehre: Sowohl von Parmenides' Lehrgedicht "Über das Sein" als auch von Empedokles' Lehrgedicht "Über die Natur" sind allerdings nur wenige Fragmente erhalten geblieben, die gleichwohl einen guten Eindruck von der Sprachgewalt ihrer Verfasser vermitteln.
Einen Wandel machte das Lehrgedicht in der Zeit des Hellenismus durch, da die Verfasser von Lehrgedichten von dieser Zeit an nicht mehr die Ergebnisse eigener Forschungen in dichterischer Form präsentierten, sondern ihren Stoff aus einer fachwissenschaftlichen Prosavorlage entnehmen. Das früheste (und zugleich wirkungsreichste) Zeugnis hellenistischer Lehrdichtung sind die Phainomena des Arat von Soloi (Kilikien), die in etwa 1000 Versen den Sternenhimmel und besondere Himmelserscheinungen, z.B. Kometen, beschreiben. Erhalten sind aus hellenistischer Zeit ferner zwei Lehrgedichte des Nikandros aus Kolophon, die sich in jeweils etwa 600 Versen mit gefährlichen Tieren (v.a. Schlangen - "Theriaká) und mit den Heilmitteln gegen Schlangenbisse ("Alexipharmaka") beschäftigen. Weitere Lehrgedichte Nikanders, etwa die botantisch ausgerichteten Georgika, sind nur fragmentarisch erhalten geblieben.
Das römische Lehrgedicht beginnt mit der Übersetzung einer hellenistischen Vorlage des Archestratos von Gela durch den Dichter Ennius, der dessen "Hedypatheia", eine metrische Sammlung von Kochrezepten, ins Lateinische übertrug. Von diesem wie von den anderen frühen römischen Lehrgedichten, etwa den literarhistorischen Stücken des Accius, des Porcius Licinius und des Volcacius Sedigitus, sind nur wenige Fragmente erhalten. Eine wesentliche Neuerung der Gattung stellt das Lehrgedicht "De rerum natura" des T. Lucretius Carus dar; das sowohl aufgrund seines Umfangs von sechs Büchern als auch sprachlich-stilistisch sowie in einzelen Szenen auf das heroische Epos Bezug nimmt und der Fiktionalität z.B. der homerischen Gedichte die Rationalität epikureischer Welterklärung entgegenstellt, durch die den Menschen die Furcht vor dem Tod und die Furcht vor den Göttern genommen werden soll. Als Reaktionen auf das Lehrgedicht des Lucrez sind die beiden "großen" frühkaiserzeitlichen Lehrgedichte des Vergil und des Manilius zu verstehen: Thema von Vergils Lehrgedicht "Georgica" sind zwar, mit deutlichem Bezug auf Hesiods Erga und Nikanders Georgika (deren Titel Vergil übernommen hat), Landbau, Vieh- und Bienenzucht und die Arbeiten, die der Bauer zu verrichten hat. Dem lucrezischen Konzept einer zufällig entstandenen Welt aus Atomen, in der der freie Wille das Produkt einer zufälligen Abweichung im stetigen Atomregen ist und die Seele ein sterbliches Organ, das sich nach dem Tod des Menschen in ihre Atome verflüchtigt, stellt Vergil das Konzept eines planvollen, von einem göttlichen Allgeist durchzogenen Kosmos entgegen, in dem zerstörerische und ordnende Kräfte in einem stetigen Kampf liegen. Vergil sieht die Welt als einen Ort, an dem dem Menschen harte Arbeit abverlangt wird, die ihn jedoch ganz positiv zu Kreativität und Erfindungreichtum zwingt, so dass es ihm möglich ist, das immer wieder hervorbrechende Chaos, das sich für Vergil im Wildwuchs der Natur, aber auch im Krieg und in der Liebe manifestiert, zu bändigen.
Literaturhinweise
B. Effe, Dichtung und Lehre. Untersuchungen zur Typologie des antiken Lehrgedichts, München 1977.