Leihbibliothek
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Im weiteren Sinne ist jede Bücherei, die Bücher verleiht, eine Leihbibliothek, im engeren Sinne handelt es sich um wirtschaftliche Betriebe, die gegen eine bestimmte Gebühr ein Buch für einen definierten Zeitraum zur Verfügung stellen. Sie ist eine heute nicht mehr gebräuchliche Form des kommerziellen Bücherverleihs.
Die Leihbibliothek entstand wie die Lesegesellschaften während der Aufklärung, um die Diskrepanz von Kaufkraft und Leseinteresse zu überwinden. Sie hatte eine wichtige Funktion für die Literaturversorgung, denn sie wurde von nahezu allen gesellschaftlichen Schichten genutzt. Nach Bestand, Größe und Publikum bildeten sich unterschiedliche Typen heraus. Dominant war die reine Leihanstalt, die meist von einer Buchhandlung, oft zusammen mit einem Lesezirkel, seltener im Hauptbetrieb geführt wurde. Die Bestände schwankten zwischen einigen Hundert Büchern in „Winkelleihbibliotheken“ bis zu mehreren Zehntausend in großen Anstalten. Als neue Organisationsformen entwickelten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der „Novitäten-Lesezirkel“ und das „Literatur-Institut“. Im „Novitäten-Lesezirkel“ kamen die Bücher ganz neu in Zirkulation, wurden nach den ersten Gebrauchsspuren antiquarisch verkauft und waren nicht als Leihbücher gekennzeichnet. Im Deutschen Reich erlangte „Fritz Borstells Lesezirkel“, den die Nicolaische Buchhandlung in Berlin 1864/65 gründete, eine marktbeherrschende Stellung, in Österreich das „Literatur-Institut Ludwig & Albert Last“ in Wien.
Legten die Leihbibliotheken ihre Bestände anfänglich vielfach enzyklopädisch an, so konzentrierten sich auch die größeren Geschäfte nach 1815 zunehmend auf Unterhaltungsliteratur. Vor dem Aufkommen des Zeitungsromans und noch Jahrzehnte danach war die Leihbibliothek Bedingung einer breiten Romanliteratur. Romane wurden großenteils für Leihbibliotheken in kleinen Auflagen und zu hohen Preisen produziert. Die „Brotartikel“ des Leihbibliothekars waren die Genres der Trivialliteratur, in der Goethezeit somit die Familien-, Geister-, Räuber- und Ritterromane. Neben den Erfolgsautoren waren die damals tonangebenden wie die heute geschätzten Romanciers des In- und Auslandes ziemlich vollständig vertreten. An ihren Beständen lassen sich die Modewellen in der Unterhaltungsliteratur ablesen.
Die Zahl der Leihbibliotheken in Deutschland betrug 1865 617 und stieg bis 1880 auf 1056. Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu einer Krise des Leihbuchhandels, die aus einem Bündel von Faktoren resultierte. Zum Hauptkonkurrenten wurde die Presse, die nach französischem Vorbild Erzählliteratur zunehmend im Feuilleton erstveröffentlichte. Seit den broschierten Klassikerbändchen (Meyer, Reclam) war gute Literatur zudem für jedermann erschwinglich; Romanzeitungen, billige Romanreihen, Kolportage- und Heftromane machten den Kauf von Unterhaltungsliteratur in allen Schichten möglich. Propaganda für das „gute Buch“ und Polemik gegen das Leihlesen begleiteten den Ausbau des öffentlichen Bibliothekswesens im Zuge der Lesehallenbewegung seit Ende des 19. Jahrhunderts.
In den letzten Jahren der Weimarer Republik breiteten sich die „modernen“ oder „pfandlosen“ Leihbüchereien aus. 1932 gab es 10.000 bis 18.000 Buchverleiher; das Gewerbe war überbesetzt, die Konkurrenz drückte die Leihgebühren. Zur Interessenvertretung und Regulierung des Gewerbes bildeten sich 1932/33 eigene Institutionen heraus: der „Reichsverband Deutscher Leihbüchereien“, die „Vereinigung der am Leihbibliothekswesen interessierten Verleger“ - allen voran Wilhelm Goldmann mit seinen Krimis - sowie die Fachgruppe „Das Deutsche Leihbüchereigewerbe“ innerhalb der Buchhändlergilde, der Vertretung der Sortimenter. Mit der Einordnung in die Kulturpolitik des Dritten Reiches ging eine Aufwertung und Sanierung des Gewerbes, das durch seine Breitenwirkung für die Nationalsozialisten von Interesse war, einher. Die Eingliederung der Leihbüchereien in die Reichsschrifttumskammer brachte eine Beschränkung der Betriebe und die Festsetzung von Mindestleihgebühren. Unter dem Nationalsozialismus wie unter alliierter Besatzung wurden die Bestände ‘gesäubert’. Da der Börsenverein des Deutschen Buchhandels den Leihbuchhändlern keine volle Mitgliedschaft zugestand, schloss sich das Gewerbe (1960 ca. 28.000 Ausleihstellen) nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in einer eigenen Organisation zusammen, dem „Deutschen Leihbuchhändler-Verband“ (1960-1973).
Der Niedergang setzte mit der Verbreitung des Fernsehens und dem Siegeszug des Taschenbuchs nach Mitte der 1950er Jahre ein. Doch blieben die Betriebszahlen lange Zeit hoch, weil Großverleiher massenhaft Verleihstellen in branchenfremden Geschäften einrichteten. Neben Büchern aus dem normalen Verlagsbuchhandel - einem Querschnitt durch das Angebot der Buchklubs - führten die Leihbüchereien in der BRD vor allem die Produktion spezieller Leihbuchverlage. Der Hauptteil der Bestände bestand aus „Frauenromanen“ (Liebes-, Adels- und Schloss-, Arzt- und Heimatromane u.a.); zu den „Männerromanen“ zählten Krimis und Western. In der DDR wurden privatwirtschaftliche Leihbüchereien ab den 50er Jahren reglementiert und unterdrückt. Im Unterschied zum 18. und 19. Jh. verlief der literarische Kommunikationsprozeß, den die Leihbüchereien im 20. Jahrhundert organisierten, weitgehend abgeschottet von der literaturkritischen Öffentlichkeit.
Moderne Leihbibliotheken arbeiten oft mit Leihezwang.
[Bearbeiten] Literatur
- Die Leihbibliothek der Goethezeit. Exemplarische Kataloge. Hg. von Georg Jäger u.a. Gerstenberg, Hildesheim, 1979, ISBN 3-8067-0758-8.
- Die Leihbibliothek als Institution des literarischen Lebens im 18. und 19. Jahrhundert. Hauswedell, Hamburg, 1980, ISBN 3-7762-0200-9.
- Alberto Martino: Die deutsche Leihbibliothek. Harrassowitz, Wiesbaden, 1990, ISBN 3-447-02996-X.