Massenpsychologie
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Massenpsychologie ist ein Teilgebiet der Psychologie und beschäftigt sich mit dem Verhalten großer Menschenansammlungen. Ausgang für die Theoriebildung der Massenpsychologie ist die, zum allgemeinen Erfahrungsschatz gehörende Tatsache, das große Menschenmassen ein oft überraschend erscheinendes Verhalten zeigen. Zum Beispiel die Auslösung einer Panik aufgrund eines eher unbedeutenden Anlasses.
Nach Studien von Davis und Harless (1996) werden wichtige Entscheidungen in einer Gruppe nicht von einzelnen Individuen getroffen, sondern von der Masse in Abstimmung herbeigeführt um durch die Zusammenarbeit ein Ziel zu erreichen. In der Geschichte sind große Menschenmassen imstande gewesen, dramatische und plötzliche soziale Veränderungen außerhalb der etablierten Rechtsprozesse einzuleiten, und haben daher auch Kontroversen provoziert. Als Beispiele kann man hier die Folgen der französischen Revolution anführen, die eine Verbannung Napoleons auf die Insel Elba zur Folge hatte oder auch die Oktoberrevolution im Russland des 20. Jahrhunderts. Kollektive Zusammenarbeit wird von einigen verdammt, von anderen unterstützt. Sozialwissenschaftler haben einige unterschiedliche Theorien aufgestellt, um massenpsychologische Phänomene zu erklären und zu erläutern, inwiefern sich das Gruppenverhalten vom Verhalten der Einzelpersonen innerhalb der Gruppe signifikant unterscheidet.
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[Bearbeiten] Ansteckungstheorie
Eine frühe Theorie zum kollektiven Verhalten hat der französische Soziologe Gustave Le Bon formuliert. Nach Le Bons Ansteckungstheorie (engl. Contagion theory) üben soziale Gruppen eine hypnotische Wirkung auf ihre Mitglieder aus. Geschützt in der Anonymität der Menge, geben Menschen ihre persönliche Verantwortung auf und ergeben sich den ansteckenden Gefühlen der Masse. Die Menschenmenge entwickelt so ein Eigenleben, wühlt die Gefühle auf und verleitet die Personen zu irrationalem, vielleicht gewaltsamem Handeln.
Le Bons Idee, dass Massen die Anonymität verstärken und manchmal Gefühle hervorrufen, ist sicher richtig. Wie Clark McPhail ausführt, offenbaren systematische Untersuchungen allerdings, dass "die verrückte Masse" kein Eigenleben getrennt von den Gedanken und Intentionen ihrer Mitglieder führt. Norris Johnson, der eine Panik während eines Who-Konzerts 1979 erforschte, kam zu dem Schluss, dass die Masse aus vielen Kleingruppen bestand, deren Mitglieder vorwiegend versuchten, einander zu helfen.
[Bearbeiten] Annäherungstheorie
Die Annäherungstheorie (engl. Convergence theory) postuliert, dass das Massenverhalten nicht von der Masse selbst ausgeht, sondern von einzelnen Individuen in die Gruppe hineingetragen wird. Die Gruppenbildung selbst läuft auf die Annäherung von Individuen mit ähnlicher Gesinnung hinaus. Mit anderen Worten ausgedrückt: Die Ansteckungstheorie besagt, dass Gruppen Menschen zu bestimmtem Handeln veranlassen; die Annäherungstheorie dagegen sagt das Gegenteil: Menschen, die in einer bestimmten Weise handeln wollen, schließen sich zusammen.
Ein Beispiel für die Annäherungstheorie ist ein Phänomen, welches sich manchmal beobachten lässt, wenn in einer zuvor homogenen Gegend vermehrt Immigranten auftauchen und Mitglieder der bereits existierenden Gemeinschaft sich (offenbar spontan) verbünden, um die Zuzügler zu bedrohen. Anhänger der Konvergenztheorie glauben, dass in solchen Fällen nicht die Masse den Rassenhass oder Gewalt erzeugt, sondern dass die Feindseligkeit längere Zeit in vielen Bewohnern gebrodelt hat. Die Masse entsteht aus der Annäherung derjenigen Menschen, die gegen die neuen Nachbarn sind. Die Konvergenztheorie besagt, dass das Verhalten der Masse selbst nicht irrational ist, vielmehr drücken die Personen in der Gruppe existierende Ansichten und Werte aus, sodass die Reaktion des Pöbels nur das rationale Produkt von weitgestreuten populären Gefühlen ist.
[Bearbeiten] Gruppendynamik (Emergent-norm-Theorie)
Ralph Turner und Lewis Killian entwickelten die sogenannte Emergent-norm-Theorie (etwa: "auftauchende Regel") der Gruppendynamik. Diese Wissenschaftler räumen ein, dass soziales Verhalten niemals völlig vorhersehbar ist, doch ebensowenig seien die Massen irrational. Wenn gleiche Interessen die Menschen zusammenbringen, können in der Gruppe selbst ausgeprägte Verhaltensweisen auftauchen. Menschenmengen beginnen als Versammlung, als handelnde oder prostestierende Gruppen - die Regeln können vage und unbestimmt sein, beispielsweise wenn jemand auf einem Rockkonzert ein Feuerzeug hochhält, um die Künstler zu preisen, und andere es nachmachen. Kurz gesagt: Menschen in der Masse machen ihre Regeln unterwegs.
Entscheidungsfindung spielt dann eine wichtige Rolle im Massenverhalten, auch wenn der zufällige Beobachter sie vielleicht nicht erkennt. Das Massenverhalten reflektiert die Wünsche der Teilnehmer, wird aber auch von Normen geführt, die auftauchen, während die Lage sich entwickelt. Die Emergent-norm-Theorie betont, dass Menschen in einer Menge verschiedene Rollen einnehmen. Manche gehen als Führer voran, andere werden Offiziere, Fussvolk, Zuschauer, oder sogar Gegner.
[Bearbeiten] Literatur
- Berk, Richard A.: Collective Behavior, Dubuque,Iowa: Wm.C. Brown, 1974
- Canetti, Elias (1960): Masse und Macht
- Davis, Douglas D. & Harless David W. (1996): Group vs. Individual Performance in a Price-Searching Experiment. Organizational Behavior and Human Decision Processes 66, 215-227
- Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ichanalyse (1921) in: ders., Studienausgabe, Band IX, Fragen der Gesellschaft. Urssprünge der Religion, Frankfurt am Main: Fischer 1982, S. 61-134
- Peter R. Hofstätter, Gruppendynamik : Kritik d. Massenpsychologie. Vollst. überarb. u. erw. Neuausg., Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 1986
- Johnson, Norris R.: "Panic at 'The Who Concert Stampede': An Empirical Assessment". Social Problems. Vol.34, No.4 (October 1987):362-73
- Gustave Le Bon, (1895): La Psychologie des foules, engl. The Crowd: A Study of the Popular Mind . http://onlinebooks.library.upenn.edu/webbin/gutbook/lookup?num=445]
- Thanos Lipowatz, Die Politik der Psyche, Wien: Turia & Kant, 1998, ISBN 3851321561
- Mackay, C. (1841): Extraordinary Popuar Delusions and the Madness of Crowds, Wordsworth Editions, ISBN 1853263494.
- Moscovici, Serge, Das Zeitalter der Massen : e. histor. Abh. über d. Massenpsychologie, Frankfurt am Main : Fischer-Taschenbuch-Verlag, 1986
- Wilhelm Reich, Die Massenpsychologie des Faschismus, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1986, ISBN 3462017942
- Wilhelm Reich, Rede an den kleinen Mann, Frankfurt am Main: Fischer (Tb.), 15., Aufl. 2003, ISBN 3596267773
- Paul Reiwald: Vom Geist der Massen, Zürich: Pan-Verlag, 2. Auflage 1946
- Turner, Ralph & Lewis M. Killian: Collective Behavior. 2d ed. Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall, 1972; 3d ed.; 1987; 4th ed., 1993.
[Bearbeiten] Weblinks
- Gustave Le Bon - Psychologie der Massen in der Übersetzung von R. Eisler (1911)