Raumwahrnehmung
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Ähnlich einer Kamera erzeugt die Augenlinse ein zweidimensionales Abbild der Umwelt auf der Netzhaut. Dennoch ist eine Raumwahrnehmung, also das Sehen von räumlicher Tiefe, möglich. Sie beruht auf zwei Prinzipien: Zum einen wird die Entfernung eines Objektes von den Augen wahrgenommen, zum anderen erfolgt über die Kenntnis der Welt und der darin vorkommenden Objekte eine Interpretation der räumlichen Tiefe.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] physiologische Raumwahrnehmung
[Bearbeiten] Parallaxe
Der Mensch und viele Tiere besitzen zwei nebeneinander liegende Augen, mit denen gleichzeitig derselbe Punkt im Raum angeschaut werden kann und ein stereoskopisches Sehen möglich ist. Durch den kleinen seitlichen Abstand ist das Bild der beiden Augen aus einer leicht unterschiedlichen Perspektive gesehen, wodurch sich seitliche Verschiebungen zwischen verschiedenen Punkten im Raum ergeben. Bis zu einer Entfernung von ca. 10m kann diese Parallaxe vom Gehirn als räumliche Tiefeninformation interpretiert werden.
[Bearbeiten] Akkommodation
Um einen Punkt im Raum scharf sehen zu können, wird die Krümmung der Augenlinsen variiert (Akkommodation). Mit der Zeit lernt man, welche Entfernung mit welcher Stärke der Krümmung zusammenhängt, sodass auch umgekehrt aus der Änderung der Linsenkrümmung ein Rückschluss auf die räumliche Tiefe möglich ist. Auch hier ist die Entfernung auf ca. 10m beschränkt.
[Bearbeiten] visuelle Raumwahrnehmung
Ist eine stereoskopische Betrachtung nicht möglich oder betrachtet man eine Abbildung, wie beispielsweise eine Fotografie oder ein Gemälde, kann ausgehend von den abgebildeten Objekten die räumliche Zuordnung interpretiert werden.
[Bearbeiten] Linearperspektive
Jeder kennt das Beispiel der Eisenbahnschienen oder einer Straße, die sich scheinbar am Horizont zu einem Punkt vereinigen. Dieser Effekt der stürzenden Linien zeigt sich bei allen geraden Kanten und Grenzen von Körpern, die räumlich parallel zueinander liegen. Wir wissen, dass sie parallel verlaufen, und kommen nicht in Versuchung tatsächlich anzunehmen, dass sie sich am Horizont vereinigen – stattdessen lesen wir auch deren Abbild als das einer räumlichen Situation.
In der Renaissance erlebten die geometrischen Verfahren der Linearperspektive eine hohe Blüte und brachten eine Fülle an gemalten Trompe l’oeils hervor. Im Zeitalter des Barock wurde diese Gesetzmäßigkeit auch eingesetzt, um beeindruckende architektonische Wirkungen auf kleinstem Raum zu erzeugen, wie dies meisterhaft Bernini am Vorplatz des Petersdoms in Rom vollzog und geradezu virtuos in dem kleinen Treppenhaus, das in die privateren Gemächer des Papstes führt, der berühmten Scala Regia rechterhand der Hauptfassade des Petersdoms.
Beispiel:
Auf dem Bild oben erkennen wir eine Straße. Die in Wirklichkeit parallelen Kanten laufen auf dem Foto aufeinander zu und werden als Tiefeneindruck interpretiert. Aus mangelnder Erfahrung kommt es auch zu Fehldeutungen, Beispiel Sonnenstrahlen.
[Bearbeiten] Größenkonstanz
Das Gesetz der Größenkonstanz besagt, dass wir unwillkürlich gleiche Formen auch als ungefähr gleich groß einschätzen. Erscheinen diese Formen nun in der Realität oder einem Abbild verschieden groß, so „lesen“ wir diese als verschieden weit weg und nicht als verschieden große Exemplare, die sich in gleicher Entfernung befinden. Das Gesetz der Größenkonstanz hängt eng mit der Linearperspektive zusammen – sind doch architektonische Elemente in der Regel von gleicher Größe und werden seriell wiederholt. Das Prinzip gilt aber auch für Lebewesen, handelt es sich dabei um Pflanzen oder Tiere: Eine freistehende ausgewachsene Eiche hat in der Regel einen anderen Habitus als eine junge Eiche. Finden wir diesen Habitus an anderer Stelle scheinbar verkleinert wieder, dann vermuten wir zu Recht, dass dieser Baum genauso groß ist wie der vorherige, sich jedoch in einer anderen Distanz zu uns befindet.
Beispiel:
Ein Beispiel findet sich auf dem Foto oben: der kleinere der beiden PKW wird als weiter entfernt wahrgenommen.
[Bearbeiten] Überschneidungen – Kulissenwirkung
Aufgrund der Eigenart unseres Wahrnehmungsapparates, fehlende Teilstücke von bekannten Formen unwillkürlich im Geiste zu ergänzen, vermuten wir in dem Fall, in dem eine Form eine andere verdeckt, ein Hintereinander und kämen nicht auf die Idee, dass der nur teilweise sichtbaren Form ein Stück fehlt. Diesem Prinzip verdanken wir unter anderem die majestätische Wirkung von hintereinander liegenden Bergketten oder die enorme räumliche Wirkung von mehrschiffigen gotischen Kathedralen, den Säulen- und Bogenwäldern der Alhambra in Granada oder auch der kathedralenähnlichen Wirkung großer Buchenwälder.
Im Theater wird dieser Effekt zusammen mit dem Prinzip der Größenkonstanz genutzt, um im begrenzten Raum des Bühnenhauses weiträumige Saalfluchten zu simulieren. Je mehr Überschneidungen von Formen zu sehen sind und je mehr Schichtungen wir ablesen können, umso stärker wird unser Raumeindruck.
Beispiel:
Ein Beispiel hintereinander angeordneter Berge zeigt das obere Foto.
[Bearbeiten] Schattierung: Eigen- und Schlagschatten
Erst das Licht macht Körper und damit Räume sicht- und damit erlebbar. Anhand des Spiels des Lichts auf diesen Körpern lesen wir deren Volumen und Oberflächenbeschaffenheit ab, aber auch die vorherrschende Lichtrichtung und Lichtqualität. Dabei bevorzugen wir als „neutrale“ Beleuchtung ein paralleles Licht von oben, bevorzugt von links oben (jedenfalls in den westlichen Kulturen, die von links nach rechts schreiben und lesen). So können wir sehen, ob es sich um konvexe oder konkave Formen handelt, wie die Grenzen und Übergänge dazwischen beschaffen sind, usw. Dementsprechend steigert die schattierte Darstellung der Körper deren Lesbarkeit. Der Eigenschatten (die dunklere, weil lichtabgewandte Seite) eines Körpers gibt ihm dabei Volumen und Ausdehnung, während der Schlagschatten (d.h. der Schatten, den der Körper auf seine Umgebung wirft) seinen räumlichen Bezug zu anderen Flächen und Körpern definiert – dabei kommt auch das Prinzip der Überschneidung als Wirkung hinzu.
Beispiel:
Beispiele und mögliche Fehldeutungen finden sich im Artikel Kippfigur.
[Bearbeiten] Luftperspektive: Helligkeits- und Farbkontraste
Diese räumliche Wirkung verdanken wir dem Umstand, dass wir in einem trübenden Medium leben – der Luft, die uns umgibt. Man achte nur einmal auf die Lichtwirkung der Aufnahmen der Astronauten auf dem Mond oder der Bilder, die von den Space Shuttles übertragen wurden: Der Mondhorizont scheint zum Greifen nah, keine noch so kleine Trübung des Himmelschwarz; gleich darüber die kleine blaue Kugel unseres Heimatplaneten scheinbar zum Greifen nah.
In der Atmosphäre jedoch trüben sowohl die eigentlichen Luftmoleküle als auch Wasserdampf und Schwebteile wie Ruß, Rauch oder Sand das Sonnenlicht und das Licht das von den Körpern reflektiert wird.
Diese Trübung bewirkt, dass sich die Kontraste in die Ferne verringern, schwarze Flächen erscheinen nicht mehr schwarz, weiße nicht mehr weiß, die Farben verlieren ihre Sättigung und zeigen an sonnigen Tagen einen immer größeren Blauanteil, je weiter entfernt ihre Position vom Betrachter ist. Diese Wirkung kann man sehr gut an Tagen sehen, an denen starker Dunst herrscht.
Beispiel:
Im Vordergrund auf dem Foto oben ist die Farbe der Bäume dunkelgrün. Mit zunehmender Entfernung hellt sie sich auf und verschiebt sich ins bläuliche. Die entfernten Bergketten sind nur noch wenig dunkler als der Himmel.
[Bearbeiten] Siehe auch
Kategorien: Raum | Wahrnehmung | Sehen