Leipogramm
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Ein Leipogramm (auch: Lipogramm, von griech. λέιπειν (leipein) für weglassen und γραμμα (gramma) für Buchstabe) ist ein Text, in dem auf die Verwendung eines oder mehrerer Buchstaben des Alphabets verzichtet wird. Leipogrammatik ist demnach die Kunst, Leipogramme zu verfassen. Gewissermaßen der Gegensatz zum Leipogramm ist das Pangramm.
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[Bearbeiten] Geschichte des Leipogramms
[Bearbeiten] Antike
Das erste bezeugte Leipogramm, das es gibt, ist das Fragment eines griechischen Hymnos auf Demeter. Verfasst wurde der Hymnos vom angeblichen Erfinder des Dithyrambos, Lasos aus Hermione auf dem Peloponnes. Es enthält kein Sigma. Lasos lebte im 6. Jahrhundert vor Christus. Danach dauert es bis in 2. bzw. 4. nachchristliche Jahrhundert, bis Nestor von Laranda und Triphiodoros ihre leipogrammatischen Bearbeitungen der Ilias bzw. der Odyssee verfassen, die aber nicht erhalten sind. Manches mag in der langen Zeit zwischen Lasos und Nestor von Laranda verschollen sein. Das nächste erhaltene leipogrammatische Werk stammt aus dem 5. nachchristlichen Jahrhundert. Fulgentius, ein christlicher Schriftsteller und nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Bischof von Ruspe, schrieb ein Werk "De aetatibus mundi et hominis", eine christlich verbrämte Historie von Anbeginn der Welt, in dem in jedem Kapitel fortschreitend ein anderer Buchstabe des Alphabetes fehlt (progressiv-leipogrammatisch).
[Bearbeiten] Mittelalter
Erst wieder im 12. Jh. taucht ein weiteres leipogrammatisches Werk auf: Der Kanonikus von St. Denis bei Paris, Petrus Riga, schreibt eine "Biblia versificata", die leipogrammatische Teile enthält.
[Bearbeiten] Neuzeit
[Bearbeiten] Barock
Wiederum gibt es eine größere Lücke zwischen Riga und der Barockzeit, in der das Leipogramm seine Hochblüte erreicht. Im spanischen Barock ist das Leipogramm weit verbreitet, ebenso im deutschen Barock. Es ist üblich, an passender Stelle ein Gedicht oder eine andere Textpassage ohne r einzusetzen. Beispiele sind Lope de Vega, Estebanillo Gonzalez, Francisco Navarrete y Ribera für den spanischen, Georg Philipp Harsdörffer, Christian Weise und Pfarrer Bonorand für den deutschen Barock. Georg Philipp Harsdörffer schrieb seine Frauen-Zimmer-Gesprächsspiele, in denen Erzählungen ohne die Buchstaben M und L vorkommen und Christian Weise schrieb innerhalb seines Textes Die drei ärgsten Erznarren der ganzen Welt eine R-lose Rede für einen verliebten Mann, der das R nicht aussprechen konnte.
[Bearbeiten] 19. Jahrhundert
Das Leipogramm hat seinen Höhepunkt längst überschritten. Nunmehr sind es eher literarische Sonderlinge und Außenseiter, die Leipogramme verfassen. Franz Rittler und Leopold Kolbe, die beiden Kombattanten eines eigentlichen leipogrammatischen Wettstreits, sind als herausragende Autoren zu nennen, ebenso Jacques Arago mit seiner "Tour autour du monde" ohne a. Im Jahr 1813 erschien Franz Rittlers Roman Die Zwillinge. Versuch aus 60 aufgegebenen Worten einen Roman ohne R zu schreiben, als Beweis der Reichhaltigkeit und Biegsamkeit der deutschen Sprache. Im drei Jahre später erschienenen Roman Keine Liebe ohne Qualen. Eine kleine Geschichte, einfach und doch künstlich reagierte Leopold Kolbe auf Rittlers Zwillinge und verwendete in diesem Buch ebenfalls kein R.
[Bearbeiten] 20. Jahrhundert
Das Leipogramm ist als allgemein bekanntes, verbreitetes Spiel längst ausgestorben, und doch ist es das 20. Jahrhundert, in dem die besten und gewaltigsten leipogrammatischen Werke geschrieben werden. Das e, häufigster Buchstabe im Deutschen, Spanischen, Französischen und Englischen, wird in den Werken von Georges Perec und Ernest Vincent Wright kein einziges Mal verwendet. 1939 erschien Ernest Vincent Wrights Novelle Gadsby, welche vollständig ohne den Buchstaben e geschrieben wurde. 30 Jahre später wurde ein weiterer Roman ohne e, geschrieben von Georges Perec, unter dem Titel La Disparition veröffentlicht. Dieser wurde im Jahre 1986 von Eugen Helmlé, der 1993 selbst zwei leipogrammatischen Romane schrieb, in die deutsche Sprache übersetzt und ist unter dem Titel Anton Voyls Fortgang erhältlich. In Im Nachtzug nach Lyon verzichtete er auf R und E, in Knall und Fall in Lyon zunächst auf E, dann auf R. Hier findet sich ein Nachwort zur Sprache unter leipogrammatischer Beschränkung sowie zur Übersetzung eines solchen Textes. Eugen Helmlé geht hierin auf die Veränderungen ein, die mit der Sprache bei derartigen Arbeiten vor sich gehen, etwa wenn das schnarrende R verschwindet. An Gedichten in Leipogramm-Form ist etwa das berühmte Gedicht von Ernst Jandl Ottos Mops zu nennen, das auf alle Vokale außer dem O verzichtet. Zeitgenössische leipogrammatische Prosadichtungen existieren u.a. von Brigitta Falkner und Ilse Kilic. Ilse Kilic veröffentlichte die Bücher Oskars Moral und Monikas Chaosprotokoll: Im Dampfkochtopf von Oskars Moral, in dem sie in zahlreichen Einzeltexten verschiedenste Arten von Leipogrammen verwendet. Auch in dem Lied Der Fremde aus Indien der Band Ton Steine Scherben findet sich kein E.
[Bearbeiten] Leipogramme in den verschiedenen Kulturkreisen und im Volkstum
Leipogramme gibt es nicht nur bei europäischer Barockdichter oder sprachmathematischer Oulipisten. Leipogramme sind ein Stilmittel, das - sehr wahrscheinlich unabhängig voneinander - von zahlreichen Hochkulturen hervorgebracht wurde. Die klassische persische Literatur kennt das Leipogramm, ebenso der Kavyâ-Stil der indischen Sanskritliteratur. Aufsehenerregend ist die Leipogrammatik in Anatolien: Die Asiks, Poeten des türkischen Hochlandes, kennen die Leipogrammatik unter dem Namen Dudak degmez (etwa die Lippen nicht berühren). Gemeint sind Leipogramme, bei denen es nicht erlaubt ist, Labiale zu verwenden. Am jährlichen Wettstreit in Konya gilt doe Dudak degmez als härteste von zwölf Disziplinen. Die Teilnehmer platzieren sich eine Nadel zwischen den Lippen, um nicht in Versuchung zu kommen, Labiale, bei denen die Lippen berührt werden, zu verwenden. Am höchsten entwickelt haben die Kunst der Leipogramme die Asiks von Erzurum.
[Bearbeiten] Systematik der verschiedenen Arten von Leipogrammen
Die folgende Grafik soll den Versuch darstellen, eine einfache Systematik der verschiedenen Arten von Leipogrammen zu schaffen:
[Bearbeiten] Philosophische Hintergründe der Leipogramme
Das Leipogramm ist im Zusammenhang sowohl mit Sprachspiel als auch mit methodischer Beschränkung, etwa im Sinne von Oulipo zu sehen.
Der Leipogramm-Roman hat eine bis in die Antike zurückreichende Tradition und gelangte im deutschen Barock zu neuer Blüte:
Die Schwierigkeit eines Leipogramms ergibt sich aus der Häufigkeit, mit der ein Buchstabe, auf den verzichtet wird, in der verwendeten Sprache vorkommt. Leipogramme wollen meist nicht als bloße Kuriosa wahrgenommen werden, sondern erheben den Anspruch, einen ganz spezifischen Blick auf Sprache und damit auch auf Wirklichkeit zu werfen.
[Bearbeiten] Literatur
- Klaus Peter Dencker (Hrsg.): Poetische Sprachspiele. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Reclam Verlag.
- Astrid Poier-Bernhard: Viel Spaß mit Haas. Sonderzahl Verlag
- Leopold Kolbe: Keine Liebe ohne Qualen. Eine kleine Geschichte, einfach und doch künstlich, herausgegeben und mit einem Nachwort von Michael Ponstingl ("Herzeleid, fein lipogrammatisch"), Wien: Brandstätter-Verlag, 1996 [Reprint von 1816]
- Alfred Liede: Dichtung als Spiel. Berlin: DeGruyter, 1992.
- Antonella Gallo: Virtuosismi retorici barocchi. Novelle con lipogramma. Firenze: Alinea, 2003.
[Bearbeiten] Weblinks
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