Literalität
aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Der Begriff Literalität (von lateinisch littera – „Buchstabe“) bezeichnet meist das mediengenealogische Entwicklungsstadium der Schriftlichkeit, das gekennzeichnet ist durch eine literale Manuskript- und Inschriften-Kultur, also die handschriftliche Speicherung und Weitergabe von kulturellen Inhalten in textlich fixierter Form (Literatur, Liturgie, Rechtsdokumente, Geschichtsschreibung etc.). Allerdings wird im Zuge der Beschäftigung mit mündlicher Literatur auch allgemeiner die Literaturkompetenz darunter gefasst.
Den terminologischen Gegensatz und den mediengenealogischen Vorläufer bildet die Oralität (Mündlichkeit), den Anschluss das Typographeum bzw. die Gutenberg-Galaxis. Die Epoche der Literalität dauerte bis einschließlich des mittelalterlichen Skriptographeums an.
McLuhan nennt die Literalität auch literale Manuskript- und Inschriftenkultur, sie bedeutete die handschriftliche Speicherung und somit die wortwörtliche Weitergabe von kulturellen Inhalten in textlich fixierter Form. Schreiben, Schrift und Rechnen bilden die Grundlage von Tradition, Kultur und Bildung. Die Literalität bedeutete noch keinen harten Bruch der gesprochenen Rede, da Manuskripte laut vorgelesen wurden, allerdings bedeutete die Literalität eine steigende Dominanz optischer Reize, die eher als andere Sinneswahrnehmungen eine Grundlage für das Erkennen von Regeln und Gesetzmäßigkeiten liefern, was einen Vorschub leistete für kausale Zusammenhänge und mathematisches Denken. Die literale Manuskriptkultur war von Skriptorien gekennzeichnet, wodurch die Informationssammlung sehr zentralistisch war, da sie gebunden war an Bibliotheken und Klöster.
Untersuchungen zur Literalität stammen u.a. von Milman Parry, Eric A. Havelock, Jan Assmann und Walter Jackson Ong sowie Jack Goody und Ian Watt.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Geschichte und Entwicklung
Nach dem Ethnologen Jack Goody hatte die Erfindung der Schrift eine bisher nicht gekannte Auswirkung auf den menschlichen Geist; er spricht in The Domestication of the Savage Mind (1977), wo er die Auswirkungen der grafischen Repräsentation von Sprache auf kognitive Prozesse untersucht, von einer schriftinduzierten "Domestizierung des Geistes":
- "Die Niederschrift einiger der wesentlichen Elemente der kulturellen Tradition in Griechenland machte zwei Dinge bewusst: den Unterschied von Vergangenheit und Gegenwart und die inneren Widersprüche in den Bild des Lebens, das dem Individiuum durch die kulturelle Tradition, soweit sie schriftlich aufgezeichnet war, vermittelt wurde. Wir dürfen annehmen, dass diese beiden Wirkungen der allgemein verbreiteten alphabetischen Schrift angedauert und sich – vor allem sein der Erfindung der Buchdruckerkunst – vielfach verstärkt haben" (aus: Jack Goody: The Domestication of the Savage Mind, 1977; zit in [1]).
Havelock weist dagegen bereits in Preface to Plato (1963) und vor allem in Origins of Western Literacy (1976) sowie The Literate Revolution in Greece and its Cultural Consequences (1982) darauf hin, dass nicht die Schrift an sich den entscheidenden Entwicklungsschritt darstellt, sondern vielmehr die Alphabetisierung der Schrift; dies führt ihn dann zu seiner These von der "Geburt der Philosophie aus dem Geiste der Schrift". Das wesentliche Charakteristikum der griechischen Alphabetschrift stellt nach Havelock deren Abstraktheit dar: Sie sei als einzige in der Lage, mündliche Rede unverkürzt, vollständig und fließend wiederzugeben.
Nach Goody und Watt war daher Griechenland "die erste Gesellschaft, die man als ganze mit Recht als literal bezeichnen kann" (Goody/ Watt/ Gough: Entstehung und Folgen der Schriftkultur, 1986, S. 83).
Diese moderne Wertschätzung der Leistungen der griechischen Alphabetschrift mag überraschen, da die gesellschaftliche Bewertung der Schrift und des Schreibens in der griechischen Antike alles andere als positiv war: Platons Verdikte im Phaidros und im Siebten Brief sind ebenso vernichtend wie die des Aristoteles; man betrachtete die Schrift gegenüber der Sprache als etwas Äußerliches und damit von Wahrheit und Tugend noch weiter entferntes als die Sprache. Dennoch ermöglichte die griechische Schriftkultur beispielsweise in der Zeit um 500 v. Chr. bis 450 v. Chr. in Górtys das älteste Stadtrecht Europas.
Umstritten ist dagegen die Einschätzung des bisher nicht entzifferten Diskos von Phaistós aus der kretominoischen Kultur, der auf das 17. Jahrhundert v. Chr. datiert wird, also aus einer Epoche stammt, die fast ein Jahrtausend vor der Entwicklung der griechischen Schrift liegt.
Jack Goody untersucht in Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft (1990; engl. Ausg. The Logic of Writing, 1986) die "langfristigen Wirkungen der Schrift auf die Organisation von Gesellschaft" (a.a.O., S. 17):
- "Die Vergangenheit des Vergangenen hängt also von einem historischen Empfindungsvermögen ab, das sich ohne dauerhafte schriftliche Aufzeichnungen kaum zu entwickeln vermag. Eine Schrift aber bewirkt ihrerseits Veränderungen in der Überlieferung anderer Elemente des kulturellen Erbes. Das Ausmaß dieser Veränderungen hängt von der Natur und der sozialen Verbreitung der Schrift ab, das heißt, von der Leistungsfähigkeit der Schrift als Verständigungsmittel und von den sozialen Beschränkungen, denen sie unterliegt, also dem Grad, in welchem der Gebrauch der Schrift in der Gesellschaft verbreitet ist".
[Bearbeiten] Siehe auch
- Geschichte der Schriftmedien
- Ethnogenese und Hypolepse
- Logozentrismus
- Aufschreibesystem
- Alphabetisches Monopol
- Oralität
- Typographeum, Gutenberg-Galaxis
[Bearbeiten] Literatur
- Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (4. Aufl.). München: C. H. Beck 2002. ISBN 3-406-42107-5 (Erstausgabe: 1992)
- Jack Goody: Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. ISBN 3-518-58061-2 (engl. Ausg.: The Logic of Writing and the Organization of Society. Cambridge 1986)
- H. Günther und O. Ludwig (Hrsg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. Berlin 1994
- Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Dresden/Basel 1964
- D. R. Olson und N. Torrance (Hrsg.): Orality and Literacy. Cambridge 1991.
- Walter J. Ong: Orality and Literacy. The Technologizing of the Word. 1982 (dt. Ausg. Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987)
- Peter Stein: Schriftkultur : eine Geschichte des Schreibens und Lesens. Darmstadt: Primus Verlag, 2006. ISBN 3896785648 (auch Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2006)
[Bearbeiten] Weblinks
- http://www.uni-essen.de/literaturwissenschaft-aktiv/Vorlesungen/lektuere/oralitaet.htm - Oralität und Literalität
- http://www.stephan-selle.de/Seminarliste/Medienkultur/Oralitat/oralitat.html - Sekundäre Oralität: Verändert das Internet das Bewußtsein unserer Gesellschaft? (von Caroline Thon)