Siyar
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Siyar ( سير , die Pluralform von Sira (Islam) سيرة / sīra /„Verhaltensweise“) regelt im islamischen Recht (Fiqh) das Kriegs- und Fremdenrecht. Sie stellt keine eigenständige Rechtsdisziplin dar, sondern wird aus dem Koran, der Sunna, dem Qiyas, der Idschma sowie zweitrangigen Rechtsquellen abgeleitet und bezeichnet die Gesamtheit der Regeln, die die Haltung des islamischen Staates gegenüber den Nicht-Muslimen bestimmen. Es handelt sich hierbei um einen Vorläufer völkerrechtlicher Regelungen.
Im Gegensatz zum europäischen Völkerrecht ist das islamische Recht als Ausdruck des Umma-Gedankens, mit dem die Gemeinschaft aller Muslime bezeichnet wird, im wesentlichen darauf ausgelegt, die „äußeren Beziehungen“ des Islam zu disziplinieren. Die rechtliche Ausformung der Beziehungen unabhängiger islamischer Staaten untereinander gestaltete sich schwierig, weil solche Konstrukte in der Umma nicht vorgesehen sind. So wurden Konflikte islamischer Staaten untereinander - wie etwa der Streit über das Kalifat, der 656 zum ersten Bürgerkrieg im Islam führte (siehe: Ali ibn Abi Talib) - einem Schiedsgericht unterbreitet oder aber man versuchte in anderen Fällen, eine politische Lösung auf weltliche Grundlagen zu stützen.
Durch die zunehmenden Kontakte und die Eingliederung islamischer Staaten, angefangen mit dem Osmanischen Reich, in das Beziehungsnetz Europas in der Neuzeit mussten die normativen Vorschriften aus der Siyar revidiert werden und führte die kolonialistische Expansion zu einer Definition von Territorium und Grenzen. Somit umfasst die Siyar sowohl Formen der Kriegsführung als auch Umgangsregeln während des Friedens mit Nichtmuslimen. Hier erweist sich, dass islamische Rechtstraditionen durchaus mit dem auf Gewohnheit basierenden Völkerrecht in Einklang gebracht werden können.
Die Normen des islamischen Völkerrechts betreffen neben Staaten die Beziehungen zu allen Nicht-Muslimen. So ist die Siyar insbesondere bei der Eroberung neuer Territorien von Bedeutung und hat sich zu einem Kodex zum Schutz religiöser Minderheiten entwickelt. Die Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. schreibt in ihrem Islam-Brief Nr. 3:
Selbst viele Muslime wissen heute nicht, dass es eine lange und reiche völkerrechtliche Tradition im islamischen Denken gibt (Siyar). Das ist bedauerlich, weil das islamische Völkerrecht in starkem Maße zur Zivilisierung der Beziehungen zwischen den islamischen Staaten beigetragen hat... Zudem gibt es eine Reihe von Übereinstimmungen zwischen modernem Völkerrecht und Siyar: Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit finden sich in beiden Systemen als die entscheidenden Werte (wenngleich sie im Siyar nur auf Muslime Anwendung fanden). Auch en detail ist im Siyar einiges angelegt, was sich auch im späteren Völkerrecht findet; Asylrecht und diplomatische Immunität etwa.
[Bearbeiten] Siehe auch
Dhimmi (Schutzbefohlene), Millet-System.
[Bearbeiten] Literatur
- Ghazi, Mahmood Ahmad (edited, translated and annotated): The Shorter Book on Muslim International Law. Kitāb al-siyar al-ṣaghīr by Muḥammad ibn al-Ḥasan al-Shaybānī. Islamic Research Institute. Islamabad 1998. ISBN 969-408-194-7
- Hilmar Krüger: Fetwa und Siyar. Zur internationalrechtlichen Gutachtenpraxis der osmanischen Seyh ül-Islâm vom 17. bis 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des „Behcet ül-Fetâvâ“. 1978, ISBN 344701783X
- Hilmar Krüger: Die Begründung der islamischen Völkerrechtslehre. In: Saeculum 5 (1954), 221-241
- Majid Khadduri:The Law of War and Peace in Islam. London 1941. 2. Auflage Lahore 1956
- Majid Khadduri:The Islamic Law of Nations: Shaybānīs Siyar. The Johns Hopkins University Press 2002. ISBN 0801869757
- Rüdiger Lohlker (2006): Islamisches Völkerrecht: Studien am Beispiel Granada. Bremen: Kleio Humanities. ISBN 3-9811211-0-4
- Miklos Muranyi:Das Kitāb al-Siyar von Abū Isḥāq al-Fazārī. In: Jerusalem Studies on Arabic and Islam 6 (1985) 63-97
- Wilhelm Heffening: Das islamische Fremdenrecht bis zu den islamisch-fränkischen Staatsverträgen. Eine rechtshistorische Studie zur Fiqh. Neudruck der Ausgabe Hannover 1925. 1975, ISBN 3-7648-0375-4
- Canan Atilgan/Andreas Jacobs/Gregor B. M. Meiering/Jim Quilty/Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Islam-Brief Nr. 3 (1/2003) Berichte und Informationen zu Veranstaltungen im Rahmen des Sonderprogramms „Dialog mit dem Islam“, Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., ISBN 3-933714-92-3 (auch alsPDF-Datei erhältlich im Internet, siehe Weblink)