Aufhebung von NS-Unrechtsurteilen
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Die Aufhebung von NS-Unrechtsurteilen, also die strafrechtliche Rehabilitierung von Opfern der Nazijustiz, ist ein Teil der Vergangenheitsbewältigung.
Mehrere zehntausend Todesurteile und weitaus mehr Unrechtsurteile mit langjährigen Haftstrafen sind von den Gerichten des Dritten Reiches ausgesprochen worden. Viele der Verurteilten waren für „ewig ehrlos” erklärt worden und als „Volksschädlinge“ gebrandmarkt.
Ihre Rehabilitierung erwies sich als langwieriges Unterfangen. Anstatt die Urteile pauschal aufzuheben und die Ehre und Würde der Opfer wiederherzustellen, wurde eine Einzelfallprüfung vorgeschrieben. Geringfügige Straftaten konnten dazu führen, dass ein NS-Unrechtsurteil rechtlich weiterhin Bestand hatte und das Opfer als vorbestraft registriert blieb.
Erst ein Bundesgesetz vom 28. Mai 1998 hob die Unrechtsurteile einiger Gerichte pauschal auf und ermöglichte es, bei der Aufhebung weiterer NS-Unrechtsurteile geringfügige Straftatbestände unbeachtet zu lassen. Für die meisten Opfer und die Angehörigen von Hingerichteten kam dieses Gesetz viel zu spät.
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[Bearbeiten] Ausmaß der Unrechtsurteile
Der berüchtigte Volksgerichtshof verhängte mehr als 5200 Todesurteile und schätzungsweise weitere 6000 Urteile mit hohen Freiheitsstrafen. Wegen der Vernichtung von Unterlagen können die genauen Zahlen nicht ermittelt werden.
Anfänglich war der Volksgerichtshof nur für Hoch- und Landesverrat zuständig. Später wurde die Zuständigkeit so erweitert, dass sogar eine defätistische Bemerkung von diesem Gericht geahndet und mit einem Todesurteil belegt werden konnte.
Auch bei den Urteilen der Sondergerichte springt die Unverhältnismäßigkeit von Strafe und Tat ins Auge. Berühmt-berüchtigt ist der Prozess gegen den Juden Leo Katzenberger, in dem die an sich schon menschenrechtswidrigen NS-Gesetze exzessiv ausgelegt wurden, um zu dem erwünschten Todesurteil zu gelangen.
Nicht von allen Sondergerichten sind die Akten erhalten; die Anzahl der verhängten Unrechtsurteile kann also nur hochgerechnet werden. Nach neueren Forschungen haben allein die 34 Sondergerichte mit Standort auf westdeutschem Gebiet mindestens 11.000 Todesurteile ausgesprochen. Vermutlich haben diese Gerichte außerdem mehr als 200.000 maßlose Urteile verhängt, bei denen die Strafbarkeit häufig nur durch nationalsozialistische Sondergesetze begründbar waren.
Schließlich haben die ab Februar 1945 eingerichteten Standgerichte eine weitere hohe Zahl von Todesurteilen verhängt, die ebenfalls bislang nicht genau ermittelt wurde. Einschließlich der von Militärgerichten ausgesprochenen Todesurteilen für sogenannte Wehrkraftzersetzer und Deserteure werden Zahlenangaben zwischen 12.000 und 30.000 genannt.
Die Angeklagten vor einem dieser Gerichte waren von elementaren Grundrechten des Strafverfahrens abgeschnitten: Richterablehnung, Beweisantragsrecht und Wahl des Verteidigers waren eingeschränkt oder aufgehoben, mündliche Verhandlung über den Haftbefehl, gerichtliche Voruntersuchung, Eröffnungsbeschluss sowie Berufungsinstanzen abgeschafft. Fristen konnten minimiert werden, um „kurzen Prozess“ zu machen.
Auch viele Strafurteile der regulären Gerichte sind als Unrechtsurteile zu bezeichnen, zum einen, soweit sie auf spezifische NS-Gesetze zurückgehen (Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei usw.), zum anderen wurden dort in bestimmten Fällen (zum Beispiel bei Homosexualität) oft weit höhere Strafen verhängt als in der Zeit vor dem Dritten Reich.
Die Anzahl der Personen, die strafrechtlich rehabilitiert werden müssten, ist daher nicht annähernd einzuschätzen.
[Bearbeiten] Grundsatz: Einzelfallprüfung
Bereits im Herbst 1945 forderte der alliierte Kontrollrat, Unrechtsurteile des Hitlerregimes aufzuheben, die aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen erfolgt waren (Proklamation Nr.3 vom 20. Oktober 1945). In der Britischen Besatzungszone konnte die Staatsanwaltschaft diese Aufhebung selbst anordnen oder bei Gericht beantragen (Verordnung vom 3. Juni 1947). Voraussetzung eines Rehabilitationsverfahrens war jedoch auch hier schon immer eine Einzelfallprüfung. Auch in den Folgegesetzen der einzelnen Bundesländer wurde - bei unterschiedlichen Ausformungen - dieses Prinzip übernommen.
Diese Entscheidung gegen eine pauschale Lösung verhinderte eine zügige strafrechtliche Rehabilitation der Opfer und führte zu unbefriedigenden Urteilen. Geringfügige Straftaten konnten dazu führen, dass die Ehre des Opfers auch nach Aufhebung eines krassen Unrechtsurteils befleckt blieb. Ein Beispiel: Das 1944 vollstreckte Todesurteil gegen Erna Wazinski wurde 1952 von einem Landgericht aufgehoben. Der Hingerichteten wurde ihre Straftat nicht verziehen: Das Urteil wegen des begangenen Diebstahls wurde nun auf eine neunmonatige Haftstrafe geändert.
Gegen eine Generalamnestie verwahrte sich zum Beispiel Bundesjustizminister Thomas Dehler (FDP) 1950 mit dem Hinweis auf „Rechtssicherheit“.
Die geforderte Einzelfallprüfung erwies sich häufig als unmöglich, weil Akten der Gerichtsverfahren vernichtet waren. In anderen Fällen versäumten die Opfer oder deren Anverwandte einen Antrag, weil sie nichts von der Möglichkeit eines Rehabilitationsverfahrens wussten oder keinen Sinn darin sahen. Von sich aus tätig wurden die überlasteten Staatsanwälte nur selten.
Die Rechtslage wurde bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nicht bereinigt. Beispiel Schleswig-Holstein: Dort verlangt das „Unrechtsbeseitigungsgesetz“ von 1990 selbst bei Urteilen der berüchtigten Sondergerichte noch eine Einzelfallprüfung. Darüberhinaus legte das Oberlandesgericht Schleswig 1995 diesen Gesetzestext sehr eng aus: Nur die Verurteilung wegen Taten, „die allein nach nationalsozialistischer Auffassung strafbar waren“, kann zu einer Aufhebung des Urteils führen. Völlig unberücksichtig blieb danach das Missverhältnis von geringfügiger Straftat und drakonischer Strafe.
Auf dieser Grundlage konnte zum Beispiel der Kieler Generalstaatsanwalt nur in einem von zwölf Verfahren eine Aufhebung von Todesurteilen erreichen. Noch 1997 waren zwei Drittel der vom Kieler Sondergericht zu hohen Freiheitsstrafen Verurteilten nicht rehabilitiert.
Hier wie auch in anderen Bundesländern war die Gesetzeslage unüberschaubar. So wurde zum Beispiel das Todesurteil gegen den Widerstandskämpfer Hans von Dohnanyi formell erst am 31. Juli 1997 vom Berliner Landgericht aufgehoben. Bei der Verhandlung stellte sich dann heraus, dass dieses Urteil bereits durch ein Bayerische Landesgesetz aus dem Jahr 1946 als aufgehoben hätte gelten können. Eines Antrags hätte es nicht bedurft.
[Bearbeiten] Späte Korrekturversuche
Der Deutsche Bundestag unternahm 1985 den Versuch, zumindest die krassen Unrechtsurteile des Volksgerichtshofes pauschal zu kassieren. Mit einer einstimmig verabschiedeten „Entschließung“ vom 25. Januar 1985 wurde „festgestellt“, dass
- der Volksgerichtshof ein Terrorinstrument zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Willkürherrschaft gewesen sei und den Entscheidungen nach Überzeugung des Deutschen Bundestages keine Rechtswirksamkeit zukomme.
Unklar blieb die rechtliche Qualität einer derartigen Entschließung.
Auf Initiative der Bundesländer wurde schließlich am 28. Mai 1998 vom Bundestag ein „Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege“ erlassen.
- Pauschal aufgehoben wurden danach alle Urteile des Volksgerichtshofes und der Standgerichte.
Im Gesetzentwurf waren die Militärgerichte gleichfalls aufgeführt. Sie wurden in letzter Lesung gestrichen. Erst 2002 wurde das Gesetz - gegen den Widerstand von CDU/CSU und FDP - in der Weise geändert, dass nun auch die Urteile der Militärgerichte pauschal aufgehoben sind. Urteile anderer Gerichte werden aufgehoben, wenn sie auf einem der im Gesetz aufgezählten nationalsozialistischen Erlasse beruhen. Eine geringfügige tatsächliche Straftat bleibt dabei unbeachtlich. Ein finanzieller Entschädigungsanspruch wird durch die pauschale Aufhebung der Urteile nicht begründet.
[Bearbeiten] Literatur
- Bundesminister der Justiz (Hg.): Im Namen des Deutschen Volkes. Justiz und Nationalsozialismus - Katalog zur Ausstellung. Köln 1989 ISBN 3-8046-8731-8
- Justizbehörde Hamburg (Hg.): Von Gewohnheitsverbrechern, Volksschädlingen und Asozialen... Hamburger Strafurteile im Nationalsozialismus. Hamburg 1995, ISBN 3-87916-023-6 (Darin zahlreiche Urteile vom Hanseatischen Sondergericht)
- Hans Wüllenweber: Sondergerichte im Dritten Reich. Vergessene Verbrechen der Justiz. Frankfurt/M 1990 ISBN 3-630-61909-6 (u.a. polit. Bemühungen um Reha bis 1990)
- Andreas Scheulen: Ausgrenzung der Opfer - Eingrenzung der Täter. Zur Entschädigung und Versorgung von Funktionären und Opfern des Dritten Reiches durch die Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Opfer der deutschen Militärgerichtsbarkeit. Berlin 2002
- Jörg Friedrich: Freispruch für die Nazi-Justiz. Die Urteile gegen NS-Richter seit 1948. Eine Dokumentation, Überarbeitete und ergänzte Ausgabe. Berlin 1998, ISBN 3-548-26532-4 (darin NS-AufhG 1998 und Änderungsbegründung des Rechtsausschusses)