Herr Lehmann
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Herr Lehmann ist der Titel des Debüt-Romans von Sven Regener, dem Sänger der Band Element of Crime. Der Roman erschien 2001 und spielt in Berlin-Kreuzberg im Sommer und Herbst 1989. Er wurde 2003 verfilmt.
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Inhalt und Interpretationsansätze
Der 29jährige Frank Lehmann, von seinen Freunden ihm zum Mißfallen nur immer „Herr Lehmann“ genannt, lebt in Berlin-Kreuzberg und arbeitet dort in einer kleinen Kneipe, dem „Einfall“. Die Geschichte um Herr Lehmann und seine Freunde thematisiert ein Lebensgefühl junger Erwachsener im westlichen Teil Berlins kurz vor dem Fall der Berliner Mauer im Herbst 1989.
Kapitel 1–7
Die Handlung des Romans beginnt an einem Sonntag Morgen, an dem Herr Lehmann sich auf dem Heimweg nach einer Schicht im „Einfall“ befindet. Er ist betrunken und macht auf dem Weg die unfreiwillige Bekanntschaft mit einem großen Hund. Herr Lehmann hat Angst und ist mit der Situation überfordert. Der Leser hat hier, wie auch an zahlreichen anderen Stellen des Romans, direkt Anteil an den Gedanken Herr Lehmanns. So ergibt sich eine komische Situation nach der anderen, wenn die Differenz zwischen dem Denken Herr Lehmanns und seinem Handeln deutlich werden. Der Leser kann sich in Herr Lehmann hineinversetzen und hat gemeinsam mit ihm eine stets sehr subjektive Sicht auf die umgebende Welt. Es wird nachempfindbar, wie sich Handlungsstrategien aus der Persönlichkeit einerseits und beeinflussender Umwelt andererseits entwickeln. Die daraus resultierenden Handlungen muten zwar oft kurios und unkonventionell an, im Grunde aber ist Herr Lehmann es gewohnt, so den Weg durch sein tägliches Leben zu beschreiten. Das Problem „Hund“ beispielsweise findet seine Lösung in einem „Besäufnis“ von Hund und Herr Lehmann sowie der anschließenden polizeilichen Beinaheverhaftung des Hundes. Doch das nächste Problem erwartet Herr Lehmann, nun wohlbehalten zu Hause angekommen, am nächsten Vormittag. Aus dem Schlaf gerissen erfährt er in einer Auseinandersetzung am Telefon mit seiner Mutter, dass seine in Bremen lebenden Eltern (von Bremen ist Herr Lehmann vor ca. zehn Jahren nach West-Berlin gekommen) eine Busreise nach Berlin planen und ihn nach nach vielen Jahren zum ersten Mal besuchen wollen. Anschliessend trifft er - noch völlig verkatert - in der „Markthalle“, einer Partnerkneipe des „Einfalls“, die dem gleichem Besitzer Erwin gehört, seinen besten Freund Karl. Auch hier ergeben sich ausgehend von Herr Lehmanns Gedankenwelt zahlreiche mit Komik geladene Situationen und Herr Lehmann wirkt stellenweise wie eine Parodie seiner selbst. Etwa wenn er sich um elf Uhr morgens Schweinebraten bestellt - nur aus dem Bedürfnis heraus gegen die „Sonntags-Frühstücker“, die ihm nicht in den Kram passen und alle Tische besetzt halten, zu revoltieren. Der neuen Köchin der „Markthalle“ Katrin passt ihrerseits der Schweinebraten nicht in den Kram. Sie verwickelt Herr Lehmann in eine Diskussion, die schnell zu philosophisch anmutenden Themen wie „Lebenssinn“ oder „Zeit“ führt. Herr Lehmann veliebt sich daraufhin in Katrin; damit ist ein weiteres wichtiges, die Handlung bestimmendes Element des Romans eingeführt. Im weiteren Verlauf des Tages trifft Herr Lehmann Katrin noch zweimal jeweils kurz: am Nachmittag im Freibad und am Abend, als Herr Lehmann wiederrum im „Einfall“ arbeitet. Die ersten sieben der insgesamt 20 Kapitel des Romans bilden mit dem Hunde-Erlebnis am frühen Morgen bis hin zum späten Abend eine gewisse zeitliche Einheit in der Abfolge der Geschehnisse, sie ereignen sich alle an einem Tag (Sonntag) und im Mittelpunkt steht in erster Linie zunächst Katrin. Der Sonntag endet nach einer weiteren Schicht im „Einfall“ mit dem Zusammentreffen von Herr Lehmann, seinem Freund Karl und zwei weiteren Freunden in der Nachbarkneipe, die sinnigerweise „Abfall“ heisst.
Kapitel 8–20
Alle sich danach anschliessenden Kapitel berichten über einen Zeitraum, der sich über mehrere Wochen erstreckt. Der zeitliche Rahmen der Handlung bezieht sich nun also auf einen anderen Maßstab und weitet sich aus; und mit dieser Ausweitung entwickeln sich auch die in den ersten sieben Kapiteln, welche als eine Art Einführung verstanden werden können, entstandenen Handlungsthemen untereinander verknüpft weiter. Als inhaltliche Hauptthemen können Herr Lehmanns Beziehungen zu Katrin, zu seinen Eltern und zu seinem besten Feund Karl gesehen werden. Die subjektiv-ironische Anteilnahme des Lesers an der Figur des Herr Lehmann zieht sich dabei als wichtigstes erzählerisches Gestaltungsmitel durch den ganzen Roman, entwickelt und fördert die Empathie des Lesers sowie die Sympathie der Figur und ist immer wieder aufs Neue Grundlage für die aus vielen Situationen entstehende Komik. Der Autor behält dabei bewusst einen eingeschränkten Blick auf die Lebenswirklichkeit des entsprechenden Milieus in Berlin-Kreuzberg bei, beinahe ohne Bezüge zur historisch-politischen Situation zu berücksichtigen. Letzteres geschieht absichtlich nur dann, wenn es unvermeidlich ist: nämlich wenn die Figur Herr Lehmann aufgrund von in der Romanhandlung gegebenen Umständen nach Ost-Berlin reisen muss und dort von Zollbeamten der DDR festgenommen wird. Herr Lehmann ist davon nur deswegen berührt, weil er sich in seiner persönlichen Freiheit eingeschränkt fühlt und sein Tag nicht so verläuft wie er sich das vorstellt. Er ist fixiert auf seine Lebenswelt, seine Freunde und seine Umgebung, und er lebt im eingemauerten West-Berlin sozusagen auf einer gedanklich abgeschotteten Insel.
Auf dieser „Insel des Lebens“ erreichen die drei Hauptaspekte der Handlung (siehe oben) ihre Höhepunkte in dem Zusammensein mit Katrin (das sich Herr Lehmann sehr gewünscht hat), dem Besuch der Eltern in West-Berlin und mit der Problematik von Herr Lehmanns bestem Freund Karl, der eine Kunstausstellung in Charlottenburg plant, darüber zusehends in eine Lebenskrise gerät und schliesslich einen Nervenzusammenbruch erleidet. Alle drei Elemente geraten über ihre Höhepunkte hinaus mehr oder weniger in eine Sackgasse. War Herr Lehmann ursprünglich einmal hierher gekommen um sich zu verwirklichen und ein eigenständiges, erfülltes Leben zu führen, spürt er nun, dass er auf seiner „begrenzten“ Insel an seine eigenen Grenzen gerät. Und so finden sich im Laufe der Handlung immer wieder zweifelnde und lebenskritische Gedanken in Bezug auf sich selbst und auf seine nahestehende Umwelt. Die Beziehung zu Katrin geht in die Brüche, als sich zeigt, dass beide völlig unterschiedliche Erwartungen aneinander stellen. Das bedeutet eine grosse Enttäuschung für Herr Lehmann. Zudem enttarnt der Besuch der Eltern einerseits vordergründig das Bild eines bodenständigen, soliden Lebens, das Herr Lehmann für sie gezeichnet hat, als schlicht falsch. Andererseits wird ihm dadurch hintergründig klar, dass er sich, indem er anderen etwas vormacht, selbst belügt und im Grunde aus seiner „Lebensinsel“ gerne ausbrechen möchte. Herr Lehmann und mit ihm dem Leser wird also klar: es gibt einen grossen Unterschied zwichen „Schein“ und „Sein“. Seinen Freund Karl, der ähnliche Probleme hat, allerdings anders damit umgeht, muss er zuletzt angesichts akuter psychischer Probleme ins Krankenhaus bringen und sich eingestehen, dass er nicht mehr in der Lage ist die grosse Verantwortung seinem Freund gegenüber zu tragen. So findet sich Herr Lehmann nun im Grunde allein im nächtlichen West-Berlin und gibt sich in seiner Verzweiflung dem Fluchtpunkt hin, der sich wie ein roter Faden durch den ganzen Roman zieht: dem Alkohol. Er beginnt eine Sauftour durch Kreuzbergs Kneipenwelt, möchte sozusagen hemmungslos alles vergessen und zu allem Überfluss muss er sich eingestehen, dass er in dieser Nacht 30 Jahre alt wird.
Der Schluss
Der Schluss des Romans wird von einem historischen Wendepunkt gesetzt, der - so könnte man interpretieren - gleichzeitig einen Wendepunkt in Herr Lehmanns leben zu markieren in der Lage ist. In der Nacht zum 9. November 1989 wird die Berliner Mauer geöffnet. Herr Lehmann nimmt daran teils interessiert, teils gelangweilt Anteil und betrachtet sich das Geschehen aus der Nähe. Ob angesichts seiner Lebenssituation auch für Herr Lehmann Mauern fallen werden und er die Herausforderung, aus seiner beschützten Lebensinsel auszubrechen, annimmt, bleibt dem Leser überlassen. Der Roman entlässt ihn mit den Gedanken des Herr Lehmann: „Ich gehe erst einmal los (...). Der Rest wird sich schon irgendwie ergeben.“
Verfilmung
Leander Haußmann verfilmte den Roman, ebenfalls unter dem Titel Herr Lehmann, im Jahr 2003 mit dem ehemaligen MTV-Moderator Christian Ulmen (als Herr Lehmann) in seiner ersten Hauptrolle. Weitere Rollen spielen u.a. Detlev Buck als Lehmanns Freund Karl, Katja Danowski als Katrin, Janek Rieke als „Kristall-Rainer“, Uwe-Dag Berlin als Jürgen und Hartmut Lange als Kneipenbesitzer Erwin.
Trilogie
In seinem zweiten Roman Neue Vahr Süd beschreibt Regener das Leben Lehmanns zu Beginn der 1980er Jahre in Bremen. Ein weiteres Buch, das die Zeitspanne zwischen den beiden Büchern behandelt, ist im Gespräch.
Literatur
- Sven Regener: Herr Lehmann. Eichborn, Frankfurt am Main August 2001, ISBN 3821807059.