Mögliche Welt
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In Philosophie und Logik dient der Begriff der möglichen Welt dazu, die Bedeutung von modalen Aussagen zu erklären, das heißt von Aussagen, die ihren Gehalt mit Modalbegriffen wie „möglich“ und „notwendig“ qualifizieren. (Näheres hierzu siehe Modallogik)
Um die Wahrheit einer modalen Aussage beurteilen zu können, reicht es nicht aus zu wissen, ob der ausgedrückte Sachverhalt tatsächlich wahr oder falsch ist:
- Es ist möglich, dass die Erde eine Scheibe ist.
- Es ist notwendig, dass die Erde rund ist.
Das Wissen, dass die Erde tatsächlich rund ist, gibt noch keinen Aufschluss darüber, ob (1) es möglich wäre, dass die Erde eine andere Form hätte; oder ob (2) es notwendig ist, dass die Erde Kugelgestalt hat, ob sie also gar nicht anders beschaffen sein könnte.
Als mögliche Welt bezeichnet man ein Modell, wie die Wirklichkeit beschaffen sein könnte – also einen möglichen Stand der Dinge (engl. state of affairs), ein reines Gedankenspiel. Eine Möglichkeitsaussage wird dann als wahr bezeichnet, wenn sie in mindestens einem solchen Modell („in mindestens einer möglichen Welt“) tatsächlich wahr ist; eine Notwendigkeitsaussage wird als wahr bezeichnet, wenn sie tatsächlich in allen solchen Modellen („in allen möglichen Welten“) wahr ist.
Abweichend von dieser formalen Sicht der möglichen Welten als rein gedanklicher Modelle vertritt der modale Realismus den Standpunkt, dass es so etwas wie mögliche Welten in einem ontologischen Sinn tatsächlich gibt.
Die Rede von „möglichen Welten“ ist weit verbreitet in der zeitgenössischen Philosophie, besonders im angelsächsischen Bereich, ihr Nutzen und ihr ontologischer Status sind aber auch sehr umstritten.
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[Bearbeiten] Möglichkeit, Notwendigkeit und Kontingenz
Philosophen, die den Begriff der möglichen Welt benutzen, betrachten den tatsächlichen Stand der Dinge – die tatsächliche „Welt“, oft auch „aktuale Welt“ genannt – im Vergleich zu anderen Modellen, wie die Dinge liegen könnten. Die tatsächliche oder aktuale Welt ist ist jenes Modell, das die Wirklichkeit beschreibt, in der wir faktisch leben. Die übrigen Modelle werden kontrafaktische mögliche Welten genannt.
Wesentlich ist, dass es sich bei den kontrafaktischen möglichen Welten um Modelle, reine Gedankenspiele handelt, mit den Worten Kripkes: „Die kontrafaktischen möglichen Welten werden gedanklich konstruiert und nicht entdeckt.“[1] Aus Sicht der Logik gibt es keine Einschränkungen hinsichtlich der Frage, welche „Welten“, d. h. welche Modelle gebildet werden dürfen und welche nicht. Die Frage, welche Modelle tatsächlich möglich sind, ist philosophischer Natur und kommt erst dann zum Tragen, wenn man das Konzept der möglichen Welten auf außerlogische Fragestellungen anwenden möchte.
Die Beziehung zwischen Aussagen und möglichen Welten ist sehr eng: Jede gegebene Aussage ist in jeder angenommenen möglichen Welt entweder wahr oder falsch; daraus lässt sich dann der modale Zustand einer Proposition ableiten, verstanden als die beiden Mengen möglicher Welten in denen sie wahr und in denen sie falsch ist. Damit lassen sich folgende weitere Begriffe bilden:
- Wahr sind solche Aussagen, die in der aktualen Welt wahr sind (z. B. „Gerhard Schröder wurde 1998 Bundeskanzler.“")
- Falsch sind solche Aussagen, die in der aktualen Welt falsch sind (z. B. „Angela Merkel wurde 1998 Bundeskanzlerin.“)
- Möglich sind solche Aussagen, die in wenigstens einer möglichen Welt wahr sind (z. B. „Esther Schweins wurde 1998 Bundeskanzlerin.“)
- Kontingent sind solche Aussagen, die in mindestens einer möglichen Welten wahr und in mindestens einer möglichen Welt falsch sind (z. B. ist „Gerhardt Schröder wurde 1998 Bundeskanzler“ kontingent).
- Notwendig sind solche Aussagen, die in allen möglichen Welten wahr sind (z. B. „Alle Kreise sind rund.“)
- Unmöglich sind solche Aussagen, die in allen möglichen Welten falsch sind (z. B. „Es gibt rechteckige Kreise.“)
Die Idee von möglichen Welten wird meist mit Gottfried Wilhelm Leibniz in Verbindung gebracht, der mögliche Welten als Vorstellungen im Geist Gottes begriff und den Ausdruck dahingehend verwendete, dass die tatsächlich geschaffene Welt aufgrund der Allgüte und Allmacht Gottes folglich die beste aller möglichen Welten darstellen müsste. Allerdings hat die Forschung Spuren dieser Idee auch schon bei früheren Philosophen nachgewiesen, so etwa in den Schriften von Lucretius, Averroes oder John Duns Scotus. Der moderne Gebrauch dieses Begriffs wurde hingegen entscheidend von Rudolf Carnap (der sich ausdrücklich auf Leibniz bezog) und von Saul Kripke geprägt.
[Bearbeiten] Formale Semantik der Modallogik
- Hauptartikel: Modallogik
Eine aus der Semantik möglicher Welten abgeleitete systematische Theorie wurde erstmals in den 1950er-Jahren von Saul Kripke und anderen damaligen Philosophen entwickelt. Ähnlich zu der obigen Vorgangsweise wurde der Begriff der möglichen Welt dazu verwendet, eine Semantik für Aussagen über Möglichkeit und Notwendigkeit zu etablieren: Eine Aussage in der Modallogik wird als möglich bezeichnet, wenn sie in mindestens einer möglichen Welt wahr ist. Eine Aussage gilt als notwendig, wenn sie in allen möglichen Welten wahr ist; und eine Aussage gilt als wahr beziehungsweise als falsch, wenn sie zumindest in unserer Welt (der tatsächlichen, aktualen Welt) wahr ist. (Beachte, dass nach dieser Definition alle notwendigen Aussagen auch möglich und wahr sind.)
Der Ausdruck „mögliche Welten-Semantik“ wird häufig synonym mit „Kripke-Semantik“ gebraucht; oft wird aber auch der Begriff „mögliche Welten-Semantik“ auf die Analyse alethischer Formen von Logik, d. h. solcher, die sich mit der Wahrheit und Falschheit von Aussagen beschäftigen, beschränkt. Demgegenüber eignet sich die Kripke-Semantik auch für solche Logiken, die nicht mit der Wahrheit als solcher beschäftigt sind, z. B. für die deontische Logik, die Verbote und Erlaubnisse behandelt und analysiert. Schließlich ist der Begriff „Kripke-Semantik“ sprachlich neutraler, weil er im Gegensatz zur Rede von möglichen Welten nicht den Anklang eines modalen Realismus hat.
[Bearbeiten] Von der Modallogik zum philosophischen Werkzeug
Von dieser Grundlage aus entwickelte sich die Theorie möglicher Welten im Laufe der 1960er-Jahre zu einem zentralen Bestandteil vieler philosophischer Untersuchungen, darunter als vielleicht bekanntestes Beispiel die Analyse von kontrafaktischen Konditionalen mittels „näherer möglicher Welten“, wie sie von David Lewis und Robert Stalnaker vorangetrieben wurde. Nach dieser Analyse wird die Wahrheit von kontrafaktischen Aussagen (d. h. von Aussagen, die diskutieren, was geschehen wäre, wenn das und das der Fall gewesen wäre) durch die Wahrheit der dazu am nächsten liegenden möglichen Welt (oder der Menge der dazu am nächsten liegenden möglichen Welten) bestimmt, in der diese Bedingungen auftreten. Dabei liegt eine mögliche Welt W1 hinsichtlich R um so näher zu einer anderen möglichen Welt W2, je höher die Anzahl gleicher Sachverhalte bezüglich R ist, die sowohl in W1 als auch in W2 vorliegen. Je verschiedener diese Sachverhalte, desto weiter voneinander entfernt werden die beiden Welten hinsichtlich R liegen. Betrachte nun den folgenden Bedingungssatz: „Wenn Angela Merkel 2005 nicht Bundeskanzlerin der BRD geworden wäre, hätte es Gerhard Schröder wieder geschafft.“ Dieser Satz wird nun unter der „Mögliche Welten“-Analyse dahingehend gedeutet, dass er die folgende Aussage zum Ausdruck bringen wollte: „Für alle zu unserer wirklichen Welt in den relevanten Rücksichten nächstliegenden möglichen Welten gilt: Hätte Angela Merkel 2005 nicht die Bundestagswahlen der BRD gewonnen, wäre Gerhard Schröder stattdessen Bundeskanzler geworden.“ Wenn es nun eine (in den relevanten Hinsichten) nächstliegende mögliche Welt gibt, in der Gerhard Schröder nicht Bundeskanzler geworden wäre, muss, so die Analyse, die obige Aussage falsch sein.
Heutzutage spielt der Begriff einer möglichen Welt eine unvermindert wichtige Rolle in vielen zeitgenössischen Debatten, darunter beispielsweise im Zombie Argument und der Möglichkeit der Supervenienz von physikalischen Eigenschaften in der Philosophie des Geistes. Außerdem ist eine heftige Debatte über den ontologischen Status von möglichen Welten entbrannt, vorangetrieben vor allem von David Lewis Annahme, dass die Rede von möglichen Welten am besten über unzählige, wirklich existierende Welten neben unserer eigenen gerechtfertigt werden kann. Die entscheidende Frage ist dabei: Angenommen, dass die modale Logik funktioniert und das zumindest einige Semantiken dafür korrekt sind: Wie kann man sich diese möglichen Welten vorstellen, auf die wir uns in unserer Interpretation modaler Aussagen beziehen? − Lewis selbst hat argumentiert, dass wir dabei dann tatsächlich über reale, ganz konkret existierende Welten quantifizieren, die ebenso eindeutig wie unsere eigene Welt existieren und sich nur durch ihre fehlenden räumlichen, zeitlichen und kausalen Bezüge zu dieser von ihr unterscheiden lassen. (Nach Lewis Auffassung ist die einzige „spezielle“ Eigenschaft unserer Welt eine rein relationale: Wir leben darin. Diese These wird als „die Indexikalität der Aktualität“ bezeichnet: „aktual“ ist hierbei dann nur noch ein indexikalischer Ausdruck wie „hier“ und „nun“). Andere Philosophen wie Robert Adams und William Lycan haben dann auch Lewis Konzeption als Beispiel metaphysischer Extravaganz verworfen. Stattdessen wurde vorgeschlagen, sich mögliche Welten als maximal vollständige und in sich konsistente Mengen von Beschreibungen oder Propositionen über die Welt vorzustellen. (Lewis bezeichnet diese und ähnliche Vorschläge, wie sie auch von Alvin Platinga und Peter Forrest vorgebracht wurden, als „modalen Ersatz-Realismus“; er meint, dass solche Theorien vergeblich versuchen würden, den maximalen Nutzen des Begriffs einer möglichen Welt für die Modallogik bei minimalen Einsatz an realistischen Annahmen auszuschöpfen.) Saul Kripke stellt sich in Naming and Necessity explizit der Lewis'schen These und verteidigt im Gegenzug einen stipulativen Ansatz, nach dem mögliche Welten als rein formale (logische) Entitäten und nicht als real existierende Welten oder Menge an konsistenten Propositionen charakterisiert werden können.
[Bearbeiten] Vergleich mit der Viele-Welten-Interpretation der Quantenmechanik
Der Begriff der möglichen Welt wurde einige Male mit der Viele-Welten-Interpretation der modernen Quantenmechanik verglichen; tatsächlich wurden beide Theorien auch schon des öfteren irrtümlich miteinander in Verbindung gebracht. Die Viele-Welten-Interpretation ist ein Versuch, eine Deutung zu nichtdeterministischen Prozessen (wie Messprozessen) der Quantenmechanik zu finden, ohne den sogenannten Kollaps der Wellenfunktion postulieren zu müssen, während die mögliche-Welten-Theorie einen Ansatz in der formalsemantischen Interpretation modaler Aussagen darstellt. In der Viele-Welten-Interpretation der Quantenmechanik wird der Kollaps der Wellenfunktion mittels der Einführung einer Quantenüberlagerung von Zuständen einer unendlichen Menge von „Paralleluniversen“ gedeutet, die nach einigen Befürwortern dieser Theorie alle gleichermaßen „aktual“ neben dem unsrigen existieren. Dagegen schweigt die Viele-Welten-Interpretation zu den Fragen der Modallogik, mit denen sich die Mögliche-Welten Theorie auseinandersetzt.
Die hauptsächlichen Unterschiede zwischen beiden Theorien, abgesehen von ihrem Ursprung und Zweck, beinhalten unter anderem:
- Die Zustände quantentheoretischer Welten sind quantenmechanisch verknüpft, während eine „Verknüpfung“ möglicher Welten wenigstens in diesem Sinn keinen rechten Sinn zu geben scheint;
- Nach einer weithin vertreten Auffassung unter Philosophen müssen die möglichen Welten alle logisch, aber nicht unbedingt physikalisch möglich sein, während alle quantentheoretischen Welten den Gesetzen der Physik gehorchen.
Da die Ansätze der möglichen-Welt-Theorien und der viele-Welten-Interpretation der Quantenmechanik gleichermaßen philosophisch umstritten sind, verwundert es aber nicht weiter, dass die genauen Beziehungen zwischen ihnen ebenso umstritten sind.
[Bearbeiten] Quellen
- ↑ Possible worlds are stipulated, not discovered by powerful telescopes., Saul A. Kripke, Naming and Necessity, 267
[Bearbeiten] Siehe auch
[Bearbeiten] Weiterführende Literatur
- D.M. Armstrong (1997): A World of States of Affairs. Cambridge: Cambridge University Press. ISBN 0-521-58948-7
- John Divers (2002): Possible Worlds. London: Routledge. ISBN 0-415-15556-8
- David Lewis (1986) On the Plurality of Worlds. Oxford & New York: Basil Blackwell. ISBN 0-631-13994-X
- Michael J. Loux [Hrsg.] (1979): The Possible and the Actual. Ithaca & London: Cornell University Press. ISBN 0-8014-9178-9
- G.W. Leibniz (2005): Die Theodizee. Frankfurt: Suhrkamp. ISBN 3518288652
- Joseph Melia (2003): Modality. McGill-Queen's University Press. ISBN 0-7735-2481-9
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