Marie Gabrielle de Saint-Eutrope
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Marie Gabrielle de Saint-Eutrope ist die Titelheldin einer dreiteiligen Comicserie des französischen Zeichners Georges Pichard. Marie Gabrielle gilt als ein Klassiker der graphischen BDSM-Literatur und das am meisten Aufsehen erregende, im gesellschaftlichen Kontext umstrittene Werk von Pichard, das bis heute zu den kontroversesten Strips in der franko-belgischen Comicszene gehört.
Die ersten zwei Alben erscheinen 1977 beim Verlag Glénat in Grenoble als teuer ausgestatte Bänder im Leineneinband und Schuber als exzellenter Druck auf bestem Papier im Großformat. Dadurch erhob der Comic einen gewissen ‚Kunstanspruch’ und war eher für ein elitäres Publikum bestimmt, das ein Faible für Nacktes, Pikantes und Intellektuell-satirisches hegt. Die Indizierung der beiden ersten Teile hinderte den Verlag nicht, 1982 eine Fortsetzung herauszubringen. Pichard ist bereits vor der Veröffentlichung von Marie Gabrielle durch seine erfolgreichen, nicht selbst getexteten Erotik-Serien Paulette und Blanche Epiphanie - vor allem in Frankreich - bekannt geworden.
Die Geschichte der ‘‘Marie Gabrielle’’ geht auf Samuel Richardson zurück, der mit „Pamela or Virtue Revarded“ (1740) den so genannten ‚empfindsamen Roman’ begründete, in dem unschuldige Mädchen Unsägliches erleiden. Richardsons Briefroman beschreibt melodramatisch und aus einem voyeuristischen Blickwinkel junge verfolgte Unschuld, die von Unhold gequält wird, am Ende jedoch ihre Lage akzeptiert und den Peiniger heiratet. In der "schlüssellochähnlichen" Perspektive, im Lesen fremder Briefe liegt ein besonderer Reiz der Indiskretion, die eine unmittelbare, stark gefühlsbetonte, teilnehmende Haltung provoziert. Gleichzeitig stützt sich Pichard auf die ehrzählerische Technik von de Sade, der mit seiner Justine (der Titel Justine ou les Malheurs de la vertu ist zum geflügelten Wort und zum Synonym für das Leiden naiver Heldinnen geworden) alsbald die heuchlerische Pamela ins Gegenteil verkehrte. Marie Gabrielle ist wie Pamela und Justine eine dieser unschuldig-naiven Heldinnen, die immer wieder gequält und sexuell bedrängt werden. Bei Pichard wird nun aus herausgepiekten Extremsituationen die obszöne Essenz destilliert und zeichnerisch aufgearbeitet. Alles, was die Erfinder des Comics Code in puncto sexuelle Perversionen in den Strips nicht sehen wollten, wir hier gezeigt. Grausamkeit, sadistische Violenz, Sadomasochismus, Flagellantismus, angedeutete Sodomie und Fetischismus sind in der Geschichte an der Tagesordnung. Marie Gabrielle geht durch die Hölle der sexuellen Klischeesituationen – also alles, was man mit einem Frauenkörper machen kann, besonders in den Grenzfällen der Sexualpathologie, wird an ihr vollzogen. Wie weinig das Rezept seit de Sade von seiner Wirkung für die Comics seit dem Erscheinen von ‘‘Marie Gabrielle’’ eingebüßt hat, zeigen etwa Geschichten Erichs von Götha oder The Adventures of Phoebe Zeit-Geist von Michael O'Donoghue und Frank Springer.
[Bearbeiten] Handlung
Am Anfang der Rahmenhandlung steht ein lüstern-geiler Priester, der an die tugendhafte Marie Gabrielle nicht herankommt, und ihre auf Bewehrung entlassene Dienstmagd zur Kupplerei erpresst. Das Ende der Geschichte und der eigentliche Anfang der Story ist, dass Marie Gabrielle im Kloster landet, wo Heloise, eine Ordensschwester und oberste Foltermagd zwischen Josephas Einweisung in eine Irrenanstalt oder in das Kloster namens Sainte-Madeleine de la Rédemption hin und her schawankt. Josepha wurde am Tag des Todes ihres Mannes vor die eigene Haustür gesetzt. Eine Zeitlang folgt ihr der Leser auf ihrem Irrweg durch das Land der Bergwerke. Als sie schließlich eine Anstellung findet, denkt sie zum ersten Mal an Marie Gabrielle, der sie nur flüchtig, einen Tag lang, im Kloster begegnete. An dieser Stelle fängt die Schilderung der Quallen von Marie Gabrielle an und der Autor lässt nun verschiedene Schicksale zusammenschmelzen. Während ihrer Strafverbüßung wird Marie Gabrielle einem Grafenehepaar anvertraut, das sich bereit erklärte, sie aufzunehmen und die bisher üblichen Züchtigungen fortzusetzen. Dann betritt ihre Tochter Cunnégnode die Szene, die von einem Dr. Moule gezüchtigt wird. Im Laufe der Handlung treten in den Bildern immer mehr Personen auf, die Szenen werden immer mehr entfesselt, die Grausamkeit und Vulgarität der Darstellungen eskalieren, die unerträglichen Horrorerlebnisse der Frauen werden immer schlimmer. Nach der ersten Albumhälfte gelingt Marie Gabrielle und Josepha die Flucht, doch sie finden sich in einem Bordell wieder, wo uns aufs Neue das ganze System hinterhältiger Erziehungsmaßnahmen vorgeführt wird. Dann findet wieder die Rückkehr ins Kloster statt, dann wird die Handlung in ein Schloss verlegt, bis sie im dritten Teil in den Orient führt, da die Heldin an einen sadistischen maurischen Sultan verkauft wird, wo die bereits vor der Kulisse des Klosters gezeigten Foltereien nahtlos fortgesetzt werden.
[Bearbeiten] Kritik
Die fragwürdige Moral der dämonischen Geschichte ist nicht wirklich überzeugend und die Kritik geht mit ‘‘Marie Gabrielle’’ schonungslos um. Viele sehen in ‘‘Marie Gabrielle’’ nur eine zweifelhafte Unterhaltung für Voyeure, weil der Comic womöglich unmittelbar den geheimen Wünschen, Neigungen und verdrängten Phantasien seiner Leser entspricht. Nach Meinung von Michael Bourgeois, der auch in dieser korrumpierenden Wirkung der Comics den Anreiz zu ihrer Lektüre sah, erliegt man der Faszination der ruchlosen Bildersprache auch aus dem Grund, dass Pichard in den ‘‘Marie Gabrielle’’-Alben einen skurrilen, extrem provokativen und bisweilen abwegigen Humor entwickelt hat. Die Panels des Comics schöpfen ihre Stärke aus dem Ausspielen und bewusstem Einsetzen absurder Missverhältnisse und Widersinnigkeiten in einer bizarr-surrealen (Alb-)Traumwelt. Das Geheimnis ihrer spezieller Wirkung liegt in der Paarung der grenzenlosen Übertreibung á la Münchhausen mit der burlesken Pointierung durch künstlerisch gekonnte und sehr plastische Strichzeichnung. Pichard versucht durch seinen grotesken Humor und ironische Verballhornung strenger katholischer Erziehung die sexuelle Unterdrückung kirchlicher Moral zu entlarven. Tatsächlich übte man doch lange Zeit in Klostern extreme Strenge in der Erziehung durch Sanktionen wie körperliche Züchtigung, Unterwerfung, kompletten Freiheitsentzug und totale Einschränkung persönlicher Rechte, Strafarbeit etc. Prügelstrafen und Folter galten als gängige Disziplinierungsmittel. Die Gewalt - als legitimes Mittel der Erziehung - ging früher meistens von Nonnen aus. Die Zöglinge waren in der Regel Opfer. Pichard drückt es jedoch mit misogynem Spott und grimmiger Ironie aus: „Untreue Ehefrauen, widerspenstige Dienstmädchen und sonstige ‚unzüchtige Weibsleute’ können zur Umerziehung in einen Nonenkloster gebracht werden. Da der Leib der Träger der Sünde ist, wird dort der Leib gezüchtigt. Die Frau ist zum Leiden gemacht und sie muss ihre Ursünde, Frau zu sein, büßen.“ Dabei unterstellt er Frauen einen generellen Hang zum Masochismus: „Interessant ist auch anzumerken, dass sie sich nicht einmal darüber beklagt. Sie ist unterjocht und nimmt diese Verhöhnung wie eine reuige Sünderin, als eine Strafe Gottes, eine Verurteilung und als ein moralisches Muss hin“. Pichard ist allerdings nach eigenen Angaben von der Freisprechung der Urheber dieser Vorgänge weit entfernt und verurteilt alle Arten des Puritanismus mit seiner Bestialität, Hexenverfolgung, Exorzismen usw. wie sie in den vergangenen Jahrhunderten gang und gäbe waren. Mit Äußerungen wie diesen zeigt Pichard nicht nur die Willkür von Entrechtung und Diskriminierung auf, er stellt auch scheinbar unveränderliche Instanzen wie die "Natur" der Frau in Frage, ja enttarnt sie bisweilen als Konstrukt, das immer dann zur Hife geholt wird, wenn es gilt, die Frauen rechtlich in ihre Schranken zu weisen: eine Erkenntnis, die auch heute nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Um dies zu verdeutlichen setzt Pichard in ‘‘Marie Gabrielle’’ altertümliche Redensarten ein und verwendet distanzierte und ironisierende Sprache. Er selbst sieht sich vielmehr in der Tradition von Mirabeau, der mit seinem frivolen aufklärerischen Erziehungsbuch die bürgerliche Doppelmoral kritisiert und für die sexuelle Freiheit der Frau einsteht.
Zugleich kommen in ‘‘Marie Gabrielle’’ auch das Pornotheater aus der Rue de la Santé sowie Szenen á la Le Sentiment de La Famille von Pierre Louÿs vor.
Andreas C. Knigge behauptet, dass sich hier nichts von den intelligent angelegten Persiflagen aus Paulette oder Blanche Epiphanie findet, sondern hier kommt „ein Frauenhass zum Ausdruck, wie er in dieser Form bislang noch nicht im Medium Comic dargestellt wurde. […] Pichards Erzählung wirkt unvermittelt und verkrampft, weil er sie einer gesellschaftskritischen Botschaft unterstellt, die wiederum eine lüsterne Ästhetisierung der Gewalt gegen Frauen nur verschleiern will. Hier scheit es beabsichtigt zu sein, durch die Provozierung eines Skandals die Aufmerksamkeit der potentieller Käufer zu erregen. Das hatte ja bereits vor 15 Jahren schon bei Barbarella funktioniert, und das Zuschlagen der Zensoren bewirkte natürlich auch hier die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Der Unterschied ist allerdings, dass im Falle Barbarellas lediglich die Grenze einer überkommenden Moral überschritten wurde, während Pichard in ‘‘Marie Gabrielle’’ deutlich die Würde des Menschen außer Kraft gesetzt hat.“ (Sex im Comic, S. 189). Knigge sieht das Comic-Pamphlet von Pichard also in der Tradition von freuenfeindlichen Wissenschaftlern, Philosophen und Literaten wie Möbius, Nietzsche oder Strindberg.
[Bearbeiten] Literatur
- "Das erotische Werk von Georges Pichard". Bourgeois, Michel; München, Bahia Verlag 1982; ISBN 3922699111
- "Sex im Comic". C. Knigge, Andreas; Berlin, Ullstein Verlag 1985; ISBN 3548365183
- "Erotik und Pornographie im Comic Strip". Bourgeois, Michel; (Aus dem Französischen von Michael Richardt). Linden, Volksverlag 1981; ISBN 3886310434
- "Zwiespaltige Lustmolcherei". Schröder, Horst; in: Comixene, Nr. 25, S. 44 ff., Hannover 1979