Queer-Theorie
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Die Queer-Theorie (engl. Queer-Theory) ist eine besondere Form des Dekonstruktivismus, in der das biologische Geschlecht, die Geschlechterrollen (engl. Gender) und die sexuelle Orientierung und die damit verbundenen Identitäten, Machtformen und Normen untersucht und einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Sie geht davon aus, dass alles, was mit geschlechtlicher und sexueller Identität (und in neueren Interpretationen, alles, was mit kultureller und sozialer Identität) zu tun hat, nicht naturgegeben, sondern Erscheinung und Produkt eines sozialen und kulturellen Konstruktionsprozesses ist.
Eines der zentralen Themen der Queer-Theorie ist die Sprachphilosophie bzw. Sprechakttheorie, die schon bei der Bezeichnung „Queer-Theorie“ eine Rolle spielen, nämlich in der Wiederaneignung und Rekontextualisierung der ursprünglich abwertenden Bezeichnung queer.
Die neuere Queer-Theorie beschäftigt sich nicht nur mit der Dekonstruktion von Sexualität, sondern mit allen Aspekten der Kultur, wobei immer wieder ein Bezug zu Geschlechtern und Geschlechterrollen hergestellt wird, vor allem aber Ausbeutungsverhältnisse kritisiert werden. Einer der wichtigsten Punkte ist dabei die radikale Offenheit des Begriffes queer. Das bedeutet, dass er in zahlreichen Debatten immer wieder durch verschiedene Gruppen neu angeeignet werden muss, die inkludiert werden wollen. (Z.B. homosexuelle, schwarze Lesben, die aus dem Landproletariat kommen; heterosexuelle Sympathisanten queerer Einstellungen usw.) Da diese Definition von queer – radikale Offenheit durch immer wiederkehrende Reinterpretation des Begriffes – selbst nur eine Definition von queer ist, die selbst verändert werden kann, ist es auch nicht weiter verwunderlich und sogar im Sinn von queer, auch von politischen Gruppen, die seine Offenheit einzuschränken versuchen (z.B. queer, als Synonym für LesBiSchwul und transgender Menschen, usw.) sowie von apolitischen Gruppierungen als „Spaßbezeichnung“ verwendet werden zu können.
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[Bearbeiten] Vorgeschichte
Ein wichtiger, aber von vielen englischsprachigen Autoren ignorierter Vordenker ist Magnus Hirschfeld, der um 1900 herum noch von einem biologisch-medizinischen Standpunkt aus versucht, die Dichotomie, also die strikte Zweigliedrigkeit der Geschlechter, zu widerlegen. Die Anthropologin Margaret Mead weist durch ihr Studium anderer Kulturen ab 1931 die Variabilität der Geschlechterrollen nach. In seiner Geschichte der Sexualität argumentiert später der Philosoph Michel Foucault, dass zweigeschlechtliches Denken, die Auffassungen über Homosexualität und Sexualität aufgrund sozialer und historischer Gegebenheiten entstehen, also nicht auf natürlichen Gegebenheiten beruhen.
[Bearbeiten] Kritik an Identitätspolitik
Eine der Wurzeln moderner Queer-Theorien liegt in den AIDS-Kampagnen der 1980er Jahre. Die bis dahin von lesbischwulen Organisationen (z.B. der Gay Liberation Front) vertretene Politik von Identität erwies sich im Zuge der Ausbreitung der Seuche als inadäquat: Nicht „der Schwule“ und „die Lesbe“ (sofern sich im Bezug auf AIDS-Kampagnen für Schwule und Lesben überhaupt zusammenfassen lassen können) sind von AIDS gefährdet, sondern auch andere, marginalisierte Sexualitäten, wie z.B. MSM (Männer, die Sex mit Männern haben, sich selbst aber als heterosexuell definieren). Eine identitätspolitische AIDS-Aufklärungskampagne würde diese inhomogenen und sich selbst oft (noch) nicht einmal als „Gruppe“ bezeichnenden Gruppen nicht erreichen.
Im Zuge des Essentialismus-Konstruktivismus Streits der 1980er und frühen 1990er wurde der Standpunkt, Identitätspolitik als veraltet zu sehen, dadurch, dass der Konstruktivismus auch von naturwissenschaftlicher (neurologischer) Seite Unterstützung erhielt, erweitert: Wenn es keine Essenz, kein Wesen von Subjekten gibt, dann gibt es auch nicht die typische Lesbe bzw. den typischen Schwulen. Diese Entwicklung innerhalb der bis dahin als homogen aufgetretenen Gruppe der Schwulen und der der Lesben (oder auch der der Homosexuellen) kann dadurch erklärt werden, dass andere Faktoren, wie ethnische Zugehörigkeit, Klasse oder Religion als identitätsverwirrend bzw. -erweiternd hinzukamen und die Menschen sich Dank der neuen Situation einer freundlicheren Umgebung (mehr gesellschaftliche Toleranz, beginnende Gleichstellung vor dem Gesetz) nicht mehr in (vermeintlich) einheitlichen Gruppen zusammenrotten mussten. Die widersprüchlichen Ansichten, Weltanschauungen und Einstellungen innerhalb der Lesben- und Schwulenbewegung kamen also zum Vorschein und destabilisierten sie – ein neues Konzept musste her.
Einen weiteren Ansatz für Kritik an der herkömmlichen Identitätspolitik lieferten außerdem (u.a.) Michel Foucault und David Halperin, die eine Historisierung von Geschlecht, Geschlechterrollen und Sexualität betrieben. (Homo-)sexuelle Identität war nicht zu jeder Zeit das, was man sich heutzutage darunter vorstellt und abhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen Rahmen- und Denkbedingungen: Ohne die Idee von Unterdrückung oder einer Theorie sexueller Orientierung, fühlten sich „Homosexuelle“ vor Karl Heinrich Ulrichs zwar vielleicht unpassend, kriminell, abartig oder einfach unangenehm, aber nicht unterdrückt. Die Historisierung, also das „Vergeschichtlichen“ vermeintlich fixer und natürlicher Ausgangsgedanken und kulturanthropologische Untersuchungen zeigen, dass die europäische, moderne Konzeption der Zweigeschlechtlichkeit und Liebe nur eine von vielen gleichberechtigten und gleichursprünglichen Konzeptionen von Sexualität ist, und macht sie – auf Basis des Konstruktionsgedanken verwundbar. Eine der ersten Autorinnen, die dieses Thema erkennt und explizit aufgreift, ist Judith Butler, die von subversiver Performanz spricht, um klassische Rollenbilder zu untergraben. Butler meint nämlich, dass, obwohl Identität sozial konstruiert ist, diese nicht beliebig sein kann, man sie also nicht jeden Tag wechseln kann, wie Kleidung.
Kritik an der Identitätspolitik nicht-queerer Homosexuellenorganisationen kam aber nicht nur aus der Theorie. Dreifach und mehrfach diskriminierte Randgruppen (schwarze Lesben – diskriminiert aufgrund Rasse, sexueller Orientierung und Geschlecht) kritisierten die etablierte Ordnung innerhalb der Organisationen, deren Vordermänner eben meistens weiße Männer ohne Behinderung waren und drängten in den Mittelpunkt. Auch in feministischen Kreisen konnte nun die Vormachtstellung der weißen, besitzenden Frau in Frage gestellt werden und Rollenbilder innerhalb der feministischen und queeren Bewegung(en) wurden und werden erweitert. Aus queerer, nicht-identitätspolitischer Sicht, ist es für eine Putzfrau ebenso wie für eine Prostituierte möglich, Frauenrechte innerhalb der Frauenbewegung zu fordern, auch wenn sie nicht dem Bild einer emanzipierten, modernen Frau entsprechen.
Queers of color weisen hierbei auf den Zusammenhang von Rasse und Gender hin, als zwei Konzepte, die nicht unabhängig von einander analysiert werden können. Fatima El-Tayeb zeigt auf, wie eng Sexualität mit dem Konzept Rasse verbunden ist. Nach Ann Stoler wurde Sexualität im westlichen Denken nach dem Konzept Rasse modelliert. Vor dem Hintergrund wird hier auch eine weiße queer identity kritisch untersucht, wenn in der Queer Theorie "trotz des einschließenden, grenzüberschreitenden Anspruchs ... Weißsein zu oft als unhinterfragte Norm gesetzt" wird, "statt als ›Kopie ohne Original‹" (Fatima El-Tayeb). [1]
[Bearbeiten] Dekonstruktion und Selbstdefinition
Das bevorzugte methodischen Werkzeug innerhalb der Queer-Theorie ist die Dekonstruktion. Die radikale Offenheit des Begriffs queer wurzelt in der (dekonstruktivistischen) Praxis, nach den Ausgeschlossenen zu fragen und sich selbst durch Inklusion des Außenstehenden zu erweitern. Dem universalistische Anspruch von queer sind trotzdem Grenzen gesetzt. Queer-Theorien gehen davon aus, dass Menschen sich selbst definieren sollen und das diese Selbstdefinition die einzig gültige „Identitätserklärung“ ist.
[Bearbeiten] Wichtige Vertreter(innen)
In ihrem Essay „The straight mind“ greift Monique Wittig diese Gedanken auf und kritisiert traditionelle und feministische Denkmodelle über das Geschlechterverhältnis gleichermaßen, da sie beide auf der heterosexuellen Grundannahme (straight mind bedeutet 'heterosexueller Geist') beruhten, dass es zwei deutlich voneinander zu trennende Geschlechter gebe; Geschlechtergrenzen seien vielmehr zu verwischen, da sie nur konstruiert seien (Heteronormativität).
Diese Auffassung, die von Judith Butler aufgegriffen und ausgebaut wird, erklärt die auch in Deutschland zu beobachtende Sichtbarmachung des weiblichen Geschlechts als eine dem straight mind entsprungene Idee. Dieser Kritik wird jedoch entgegnet, dass nicht etwa die biologischen Geschlechter sichtbar gemacht werden sollen, sondern die sehr wohl existierenden Kategorien, die zur Ungleichbehandlungen führen.
Weitere wichtige Vertreter(innen) sind David Halperin, der sich mit der Geschichte der Homosexualität befasst, Eve Kosofsky Sedgwick, die das Phänomen der Homophobie untersucht, sowie Teresa de Lauretis und Gayle Rubin.
[Bearbeiten] Queer-Theorie im deutschsprachigen Raum
Im deutschsprachigen Raum führt die Queer-Theorie im Vergleich zu den USA eher ein Schattendasein. Viele der grundlegenden englischsprachigen Texte sind bisher unübersetzt. 2001 publizierte die AG LesBiSchwule Studien/Queer Studies des AStA der Universität Hamburg die erste deutschsprachige Aufsatzsammlung zur Queer-Theorie unter dem Titel Jenseits der Geschlechtergrenzen. In Hamburg existiert auch – bislang einmalig in Deutschland – seit 2003 das interdisziplinäre Studienprogramm Gender und Queer Studies. Die Vertretungsprofessur für Queer-Theorie (angebunden an die Soziologie) war zwei Semester lang besetzt durch Antke Engel. Im Sommersemester 2005 lehrte Engel in Hamburg als erste von insgesamt drei Gastprofessorinnen zu Queer-Theorie. 2006 gründete sie das Institut für Queer Theory mit Sitz in Hamburg und Berlin. „Es widmet sich der Geschlechter- und Sexualitätenforschung sowie ihrer Vermittlung in Öffentlichkeit und Praxis. Anliegen des Instituts ist es, rigide zweigeschlechtliche und normativ heterosexuelle Geschlechterverhältnisse kritisch zu hinterfragen und zu verändern“ (Selbstdarstellung auf der Internetseite des Instituts).
Weiterhin bedeutsam sind die Publikationen von Sabine Hark zur Dekonstruktion lesbisch-feministischer Identitäten (v.a. deviante Subjekte) und die Herausgabe einiger grundlegender amerikanischer Basistexte durch Andreas Kraß 2003 (Queer Denken).
Allerdings wird das Angebot deutscher Literatur zum Thema queer und vor allem zu den neueren Forschungsgedanken immer breiter.
[Bearbeiten] Kritik
[Bearbeiten] Genetische Grundlage
Die Queer-Theorie tendiert dazu, genetische Faktoren des Geschlechterverhaltens zu ignorieren. Jene Faktoren wurden in den 1960er bis -80er Jahren (Behaviorismus) von der Forschung fast vollständig ausgeblendet und werden erst seit den 1990er Jahren (von Seiten der Genforschung) in ihrer Bedeutung wieder stärker gewürdigt.
[Bearbeiten] Wissenschaftskritik?
Die Queer-Theorie kritisiert an der traditionellen Wissenschaft, Übergänge in der Wirklichkeit zu ignorieren und die Wirklichkeit in konstruierte diskrete Einzel-Phänomene zu zerlegen. Dabei übersieht sie, dass dieses Problem in der Wissenschaft schon immer klar war: Die Wissenschaft arbeitet lediglich mit Modellen der Wirklichkeit, weil die Wirklichkeit nur so erfassbar ist. Das kann letztlich auch die Queer-Theorie nicht anders tun.
[Bearbeiten] Siehe auch
- Feministische Wissenschaftstheorie
- Poststrukturalismus | Dekonstruktivismus
- Kritische Theorie
- Lookism
- Queer
- Weiblichkeit
- Männlichkeit
- Sex und Gender
[Bearbeiten] Weblinks
[Bearbeiten] Literatur
- Bruce Bawer (Hrsg.): Beyond Queer. Challenging Gay Left Orthodoxy. New York 1996. ISBN 0684827662.
- Fatima El-Tayeb: Begrenzte Horizonte. Queer Identity in der Festung Europa. In: Hito Steyerl / Encarnatión Gutiérrez Rodríguez (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Münster 2003. ISBN 3-89771-425-6
- Foucault, Michel: Histoire de la sexualité 3 Bde. Paris: Gallimard 1994. ISBN 2070740706, ISBN 2070746739, ISBN 2070746747
- Matthias Haase, Marc Siegel, Michaela Wünsch (Hg.): Outside - Die Politik queerer Räume. ISBN 3933557259
- Heidel, U., Micheler, S. & Tuider, E. (Hrsg.): Jenseits der Geschlechtergrenzen. Hamburg: MännerschwarmSkript. 2001.
- Jagose, Annamarie: Queer Theory. An Introduction. New York University Press 1996. ISBN 0814742343
- deutsche Übersetzung: Jagose, Annamarie: "Queer Theory. Eine Einführung." Berlin: Querverlag GmbH 2001. ISBN 3-89656-062-X
- Kraß, Andreas (Hrsg.): Queer Denken : Gegen die Ordnung der Sexualität. Frankfurt a. M. 2003. ISBN 3518122487.
- Wittig, Monique: The straight mind and other essays Beacon Press 1992. ISBN 0807079170
- Elahe Haschemi Yekani, Beatrice Michaelis (Hrsg.): Quer durch die Geisteswissenschaften. Perspektiven der Queer Theory. Berlin: Querverlag GmbH 2005. ISBN 3896561189.