Verdingung
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Verdingung bezeichnet in der neueren Schweizer Geschichte die Fremdplatzierung von Kindern zur Lebenshaltung und Erziehung. Oft wurden die (faktisch schon durch die Behörden entrechteten) Kinder an Bauern vermittelt, von denen sie als günstige Arbeitskraft ausgenutzt, misshandelt und missbraucht wurden. Mittlerweile veraltet ist der Begriff Verdingung für den Abschluss eines Arbeitsvertrages.
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[Bearbeiten] Geschichte
Verdingkinder, meistens Waisen- und Scheidungskinder, wurden zwischen 1800 und 1950 von den Behörden den Eltern weggenommen und Interessierten öffentlich feilgeboten. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Kinder oft auf einem Verdingmarkt versteigert. Den Zuspruch bekam jene Familie, welche am wenigsten Kostgeld verlangte. In einigen politischen Gemeinden soll diese Praxis noch nach 1950 üblich gewesen sein. Betroffene beschreiben, dass sie auf solchen Märkten "wie Vieh abgetastet wurden". In anderen Gemeinden wurden sie wohlhabenderen Familien durch Losentscheid zugeteilt. Zugeloste Familien wurden gezwungen, solche Kinder aufzunehmen, auch wenn sie eigentlich gar keine wollten.
Sie wurden meistens auf Bauernhöfen wie Leibeigene für Zwangsarbeit eingesetzt, meist ohne Lohn und Taschengeld. Nach Augenzeugenberichten von Verdingkindern wurden sie häufig ausgebeutet, erniedrigt oder gar vergewaltigt. Einige fanden dabei den Tod.
Misshandlungen wurden nur sehr selten verfolgt. Wenn solche behördlich festgestellt wurden, wurden den Pflegeeltern das Recht, neue Verdingkinder zu „erwerben“, für mindestens fünf Jahre entzogen.
Neben der Verfolgung der Jenischen durch das „Hilfswerk“ Kinder der Landstrasse (aus heutiger rechtlicher Sicht Völkermord), deren Kinder selbst häufig von verschiedenen Amtsstellen und (auch privatrechtlichen) Institutionen verdingt wurden, gilt die Verdingung als eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte. Erst in den letzten Jahren griffen die Medien dieses Thema intensiver auf, nachdem es lange Zeit verdrängt worden war.
Die genaue Anzahl der Verdingkinder ist unbekannt. Nach Schätzungen sind es Hunderttausende, welche bis in die 1960er und 1970er-Jahre verdingt wurden (Quelle: NZZ). Zwischen 1850 und 1900 wurden laut dem Berner Historiker Marco Leuenberger im Kanton Bern jährlich etwa 6000 Kinder verdingt. In den 1930er Jahren wurden etwa 12'000 verdingt, das entspricht 5% aller Kinder.
[Bearbeiten] Heutige Situation
Heute leben in der Schweiz eine vermutlich fünfstellige Zahl ehemaliger Verdingkinder, welche nicht selten psychische Probleme haben. Sie erwarten heute von der Regierung eine öffentliche Entschuldigung und finanzielle Entschädigungen.
Der Staat behält sich bis heute bedeckt. Eine entsprechende Motion zur historischen Aufarbeitung wurde 2004 vom Bundesrat zur Ablehnung empfohlen [1].
Die Zahl der heutigen Pflegekinder ist statistisch nicht erfasst und wird auf ca. 15'000 geschätzt. Kritiker bemängeln, dass die Vermittlung der Pflegekinder über Private teilweise profitorientiert erfolge und nicht staatlich geregelt sei. Wenn die Platzierung jedoch auf Wunsch der Eltern geschieht, ist diese neue Form nicht mit der alten Verdingung sondern eher mit einem familiären Hort zu vergleichen.
[Bearbeiten] Literatur zum Thema
- Franz Eugen Schlachter: Resli, der Güterbub, Geschichte eines Bernerjungen. Biel 1891
- Lotti Wohlwend: Gestohlene Seelen. Frauenfeld 2004. Infos zum Buch unter www.verdingkind.ch
- Bericht zur Tagung ehemaliger Verdingkinder, Heimkinder und Pflegekinder am 28. November 2004 in Glattbrugg, Zürich 2005
[Bearbeiten] Siehe auch
[Bearbeiten] Weblinks
- Artikel Verdingung im Historischen Lexikon der Schweiz
- Allgemeine Informationen über das Thema Verdingkinder und Fremdplatzierung
- Dokumentation Thematik und der Betroffenenorganisation Verdingkinder suchen ihre Spur
- Berichte zum Verdingkinderwesen
- Bericht der kath. Kirche über Verdingkindern und der heutigen Situation
- Kritik an der heute praktizierten Form des "Schweizer Kinderhandels" (Pflegekinderwesen)