Verfassungsbeschwerde
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Die Verfassungsbeschwerde ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf im deutschen Recht. Sie richtet sich gegen Akte der Staatsgewalt, die den Bürger in seinen Grundrechten aus Art. 1 bis 19 Grundgesetz (GG) oder in den in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG genannten grundrechtsgleichen Rechten verletzen.
Für die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde ist das Bundesverfassungsgericht zuständig. Verfassungsbeschwerden müssen zur Entscheidung angenommen werden. Die Verfassungsbeschwerde hat für den Schutz der Grundrechte und für die Fortbildung des Rechts in Deutschland große Bedeutung erlangt. Neben der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht kennen einige Länder Landesverfassungsbeschwerden, über welche die Landesverfassungsgerichte, die auch Verfassungs- oder Staatsgerichtshof heißen, entscheiden.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Entstehung
Obwohl im Parlamentarischen Rat diskutiert, wurde die Verfassungsbeschwerde ursprünglich nicht ins Grundgesetz aufgenommen. Erst mit dem Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12.3.1951 wurde der Rechtsbehelf - freilich weiterhin ohne Erwähnung in der Verfassung - einfachrechtlich eingeführt (§§ 90 ff.). Während im Gesetzentwurf der SPD-Fraktion (§§ 56 ff.) noch ein „Verfahren zur Verteidigung der Grundrechte“ vorgesehen war, das primär als gerichtliches Vorlageverfahren gedacht war, enthielt der Regierungsentwurf in § 84 die Verfassungsbeschwerde im heutigen Sinne. Sie sollte „die letzte Zuflucht des Bürgers, der sich in seinen Grundrechten verletzt fühlt“ sein; „ein höchstes Gericht, das zum Hüter der Verfassung bestellt ist, soll ihn vor Übergriffen der Staatsgewalt in seinen unverletzlichen Grundrechten schützen“ (Begründung zu § 84 des Regierungsentwurfes). Unter Grundrechten verstand man dabei nur die Artikel 1 bis 17 GG. Im Laufe der Beratungen in Bundestag und Rechtsausschuss wurden gleichberechtigt neben die Grundrechte die Rechte aus Art. 33, 38, 101, 103 und 104 GG gestellt (grundrechtsgleiche Rechte). Das Konzept der Verfassungsbeschwerde war im Bundestag aber nicht unbestritten, insbesondere soweit sie auch gegen Gerichtsurteile möglich sein sollte.
Ins Grundgesetz (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a) wurde die Verfassungsbeschwerde erst durch das Neunzehnte Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 29.1.1969 (BGBl I S. 97) eingefügt. Anstoß hierzu war die Einführung des Widerstandsrechts in Art. 20 Abs. 4 GG, das als Gegengewicht zur den Änderungen im Rahmen der Notstandsverfassung gedacht war. Verletzungen desselben sollten auch die Verfassungsbeschwerde eröffnen. Anlässlich dieser Ergänzung sollte der bisher nur einfachrechtlich geregelte Rechtsbehelf in der Verfassung selbst geregelt werden. Die Formulierung war dabei mit dem Plenum des Bundesverfassungsgerichts abgesprochen und ist bis heute unverändert geblieben.
[Bearbeiten] Entscheidungsmaßstab
Wie bei jedem Rechtsbehelf genügt es nicht, dass der Beschwerdeführer in der Sache recht hat. Zusätzlich müssen verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein, damit das Gericht sich überhaupt mit dem Sachvortrag befasst (Zulässigkeits- oder Sachentscheidungsvoraussetzungen).
[Bearbeiten] Zulässigkeitsvoraussetzungen
Die Verfassungsbeschwerde muss schriftlich beim Bundesverfassungsgericht eingereicht werden. Sie muss das verletzte Recht bezeichnen und die Rechtsverletzung (der hoheitliche Akt) angegeben werden. Grundsätzlich kann sich die Verfassungsbeschwerde gegen alle Akte der öffentlichen Gewalt richten, also gegen Rechtsnormen, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungshandeln.
Prozessfähig sind diejenigen, die die Grundrechtsfähigkeit besitzen. Der Vortrag der Rechtsverletzung muss die Verletzung von Grundrechten möglich erscheinen lassen. Der Beschwerdeführer muss unmittelbar betroffen und gegenwärtig betroffen sein, sodass kein fremdes Recht geltend gemacht werden kann und ein weit zurückliegender oder fern in der Zukunft liegender Eingriff in die Grundrechte keinen statthaften Beschwerdegrund darstellt.
Ein wichtiger Prüfungspunkt ist die Ausschöpfung des Rechtsweges. Alle bisher möglichen Rechtsmittel müssen daher ausgeschöpft worden sein. Ausnahmsweise kann bei einem gravierenden Nachteil davon abgewichen werden, wenn die Ausschöpfung des Rechtsweges nicht zumutbar ist.
Eine Besonderheit sind Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze. Da gegen Gesetze kein Rechtsweg offen steht, fällt hier die Zulässigkeitsvoraussetzung der Erschöpfung des Rechtsweges weg. Viele Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze scheitern aber an der Unmittelbarkeit der Grundrechtsverletzung. Unmittelbarkeit bedeutet, dass das Gesetz ohne einen weiteren vermittelnden Akt, insbesondere ohne besonderen Vollzugsakt der Verwaltung, in die Rechte des Beschwerdeführers eingreift. Das ist regelmäßig ausgeschlossen, wenn ein Gesetz erst durch eine Behördenentscheidung umgesetzt werden muss.
Verfassungsbeschwerden müssen innerhalb einer Frist von einem Monat erhoben werden. Die Frist beginnt mit der Zustellung oder formlosen Mitteilung, wenn diese nach den maßgebenden verfahrensrechtlichen Vorschriften von Amts wegen vorzunehmen ist. In anderen Fällen beginnt die Frist mit der Verkündung der Entscheidung oder, wenn diese nicht zu verkünden ist, mit ihrer sonstigen Bekanntgabe an den Beschwerdeführer. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz oder einen anderen Hoheitsakt, gegen den kein Rechtsweg offen steht, richtet, gilt eine Frist von einem Jahr seit dem Inkrafttreten des Gesetzes oder dem Erlass des Hoheitsaktes.
Die Begründung muss mindestens folgende Angaben enthalten:
- Der Hoheitsakt, gegen den sich die Verfassungsbeschwerde richtet, muss genau bezeichnet werden (bei gerichtlichen Entscheidungen und Verwaltungsakten sollen Datum, Aktenzeichen und Tag der Verkündung bzw. des Zugangs angegeben werden).
- Das Grundrecht oder grundrechtsähnliche Recht, das durch den beanstandeten Hoheitsakt verletzt sein soll, muss benannt oder jedenfalls seinem Rechtsinhalt nach bezeichnet werden. Rügefähig sind die in Art. 1 bis 12 (ohne 12a), 13-19 (ohne 17a, 18), 20 Abs. 4, 33, 38 Abs. 1 S. 1, 101, 103, 104 des Grundgesetzes niedergelegten subjektiven Rechte.
- Es ist darzulegen, worin im einzelnen die Grundrechtsverletzung erblickt wird. Hierzu sind auch die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Gerichtsentscheidungen, Bescheide usw. in Ausfertigung, beglaubigter Abschrift oder Fotokopie vorzulegen. Zumindest muss ihr Inhalt aus der Beschwerdeschrift ersichtlich sein.
[Bearbeiten] Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
Grundsätzlich werden sämtliche und nicht nur die vom Beschwerdeführer genannten Grundrechte überprüft, die wegen der Rechtsverletzung in Betracht kommen. Ein Urteil wird dabei nur auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts überprüft. Dass es einfaches Recht verletzt, genügt nicht; andernfalls würde das Bundesverfassungsgericht zu einer Superrevisionsinstanz. Das widerspräche der Aufgabenverteilung, die das Grundgesetz zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit vornimmt.
Stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass der angegriffene Hoheitsakt Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte verletzt, hebt es ihn auf.
[Bearbeiten] Prüfungsschritte im Überblick
Eine Verfassungsbeschwerde hat Erfolg, soweit sie zulässig und begründet ist. Das setzt im Einzelnen voraus (hier: Prüfung von Freiheitsrechten):
- Zulässigkeit
- Zuständigkeit des BVerfG
- Prozessfähigkeit: „jedermann“, der Träger von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten sein kann (Grundrechtsfähigkeit
- Beschwerdegegenstand: Akt der öffentlichen Gewalt
- Beschwerdebefugnis: Möglichkeit der Grundrechtsverletzung; eigene, unmittelbare, gegenwärtige Beschwer
- Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität
- Form
- Frist
- Begründetheit: Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn der Beschwerdeführer durch die öffentliche Gewalt in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist, also ein nicht gerechtfertigter Eingriff in deren Schutzbereich vorliegt.
- Definition des Schutzbereichs
- Eingriff in den Schutzbereich
- keine Rechtfertigung
- Voraussetzungen des Schrankenvorbehalts nicht erfüllt
- Rechtssatzvorbehalt
- einfacher Gesetzesvorbehalt
- qualifizierter Gesetzesvorbehalt
- verfassungsimmanente Schranken
- keine verfassungsgemäße parlamentsgesetzliche Grundlage (bei der allgemeinen Handlungsfreiheit zusätzlich: keine verfassungsgemäße Rechtsverordnung oder autonome Satzung)
- keine formelle Verfassungsmäßigkeit
- Zuständigkeit (Verbandskompetenz, Organkompetenz)
- Verfahren
- Form
- keine materielle Verfassungsmäßigkeit
- Verstoß gegen andere Grundrechte
- Verstoß gegen objektiv-rechtliche Verfassungsbestimmungen (Rechtsstaatsprinzip, Demokratieprinzip, Sozialstaatsprinzip, Staatsziel Umweltschutz, kirchliches Selbstbestimmungsrecht usw.)
- Verstoß gegen sonstiges höherrangiges Recht (z. B. Gemeinschaftsrecht)
- Nichtbeachtung der Schranken-Schranken
- Zitiergebot
- Verbot des Einzelfallgesetzes
- Wesensgehaltsgarantie
- Übermaßverbot (Verhältnismäßigkeit):
- legitimer Zweck
- geeignetes, erforderliches und angemessenes Mittel
- keine formelle Verfassungsmäßigkeit
- wenn nicht unmittelbar gegen Gesetz gerichtet: fehlende formelle und materielle Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns bzw. nicht-verfassungskonforme Auslegung durch die angefochtene Gerichtsentscheidung (insbesondere: Verhältnismäßigkeit)
- Voraussetzungen des Schrankenvorbehalts nicht erfüllt
[Bearbeiten] Kosten
Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ist kostenfrei. Missbräuchliche Anrufungen des Gerichtes können jedoch mit einer Missbrauchsgebühr bis zu 2.600 Euro geahndet werden. Von dieser Möglichkeit macht das Bundesverfassungsgericht jedoch nur selten Gebrauch. Seit der Einführung der Möglichkeit zur Verhängung von Missbrauchsgebühren im Jahr 1962 wurden solche Gebühren 2.719 mal verhängt (Erster Senat 930, Zweiter Senat 1.789). Die Gesamtsumme aller Missbrauchsgebühren beträgt 479.761 Euro. Der Anteil der Missbrauchsgebührenentscheidungen an der Gesamtzahl der eingelegten Verfassungsbeschwerden liegt bei ca. 0,26 % (Stand 31. Dezember 2005).
[Bearbeiten] Kommunen
Neben der dargestellten Individualverfassungsbeschwerde gibt es noch die Kommunalverfassungsbeschwerde. Mit ihr können die Gemeinden ihre Rechte aus aus Art. 28 Abs. 2 GG (Selbstverwaltungsgarantie) vor dem Bundesverfassungsgericht verteidigen. Auch hier gilt der Gedanke der Subsidiarität, sodass zunächst zu prüfen ist, ob das Recht vor dem Landesverfassungsgericht geltend gemacht werden kann.
[Bearbeiten] Statistik
Anteil der Verfassungsbeschwerden, denen stattgegeben wird, liegt bei ca. 2 % (2000: 1,61 %; 2001: 1,99 %; 2002: 2,21 %; 2003: 1,60 %; 2004: 2.15 %, 2005: 2,5 %)
[Bearbeiten] Weblinks
- Entscheidungen des BVerfG ab 1998
- Sammlung auch älterer Entscheidungen des BVerfG
- BVerfGG
- Grundgesetz
- Merkblatt über die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht
- Beispiele für Verfahren mit Missbrauchsgebühr:
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