Anekdote
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Definition
Die Anekdote (von griechisch ανέκδοτον, anékdoton - „nicht herausgegeben“) ist eine literarische Gattung, die eine bemerkenswerte oder charakteristische Begebenheit, meist im Leben einer Person, zur Grundlage hat.
Erläuterung und Verwendung
Anekdoten bedürfen einer knappen Form mit einer Pointe, um richtig zu wirken. Sie sind damit mit der Kurzgeschichte und dem Schwank verwandt.
Manchmal (oft) sind die Urheber von Anekdoten - ähnlich wie die von Witzen - unbekannt. Zu den namhaften Vertretern der Anekdote als Kunstform gehören Johann Peter Hebel und Heinrich von Kleist.
Anekdoten werden oft irreführend als Belege für statistische Zusammenhänge verwendet, etwa in der Außenseitermedizin als Belege für Wirksamkeit von Behandlungsmethoden. Da jedoch Anekdoten von ihrer Natur her handverlesene Geschichten sind, die nur weitererzählt werden, wenn sie von interessanten Sachverhalten berichten, und weil erfolgreiche Behandlungen interessanter sind als erfolglose, führt die Verwendung von Anekdoten notwendig zu einem verzerrten Bild der Realität und stellt eine wissenschaftlich unzulässige Datenselektion dar.
Kinderanekdoten
Eine Form der Anekdote ist die Kinderanekdote ("30 Kilo Fieber - Kinderanekdoten", Zürich 1997). Sie fällt auf durch die witzige, eigentümliche oder unkonventionelle Verwendung der Sprache, zu der Erwachsene in der Regel nicht mehr fähig sind. Beispiel: "Mami, deine Fingernägel sind zu lang! Die musst Du mal wieder abknabbern" ("30 Kilo Fieber", Zürich 1997, S. 31).
Definition: Die Kinderanekdote besteht aus einem berichteten Ereignis, einer Situation, in die ein Kind (z. B. mit einem anderen Kind oder einem Erwachsenen) verwickelt war. Sie zeichnet sich aus durch die unerwartete Beendigung der Situation - entweder durch den tatsächlichen Ausgang oder durch die sprachliche Gestaltung (durch das Kind). Die Anekdote ist knapp oder kann sehr knapp berichtet werden. Die meisten Anekdoten leben von der ungewöhnlichen Konstellation bzw. der Kreativität der Situation oder der verwendeten Sprache.
Die witzigsten und kreativsten Kinderanekdoten lassen sich im Alter von ca. 2 - 7 Jahre lokalisieren (Darmstadt 2003; S. 173 f). Später nähern sich die Anekdoten allerdings dem Witz des Erwachsenen an; die Kreativität lässt nach. Leider wird diese kreative Phase der Sprachproduktion kaum gewürdigt, birgt sie doch Schätze, die die Sprache der Erwachsenen nicht mehr bieten kann.
Techniken der Sprachgestaltung in Kinderanekdoten (laut: "Wie Kinder Sprache lernen", Darmstadt 2003, S. 179 ff):
1. Die alternative Definition; z. B. "30 Kilo Fieber"
2. Die normfreie Erläuterung; z. B. Opa "ist kaputt gegangen", "Kuck mal meinen schönen Köttel an".
3. Die Umkehrung pädagogischer Verhältnisse; z. B. zur Mutter: "Dann blas mich doch!"
4. Das sinnfreie Wortspiel; z. B. "Mutter schüttelts Bäum allein, der Vater fällt im Treaum hinein".
5. Normfreie Konfliktregulierung; z. B. "Nein, lass lieber Vater gehen - du spielst weiter mit mir".
6. Die absurde Überhöhung; z. B. "der ist so laut, dass ich ihn nicht fliegen höre".
7. Wortneuschöpfung; z. B. "Kakiloke"
8. Die kreative Schlussfolgerung; z. B. beim Mond "ist ein Stück abgebrochen".
9. Der Bedeutungstransfer; z. B. "ich bin nicht appetitlich!"
10. Die Gestaltung bei mangelnder Sprachbeherrschung; z. B. "Va wie Vase".
11. Ästhetisierung; z. B. "Der Po ist wund, didelund!"
12. Kombination konkrärer Elemente; z. B. "Ich hab ein Brüderchen bekommen, das heißt Karin!"
13. Beschreibung mit alternativen Begriffen; z. B. "Der Fleisch, der schreit!"
14. Sprachkritik; z. B. "ein Mitglied ohne Glied . . . "
15. Einforderung von Normen; z. B. "sonntags wachsen keine Pilze".
16. Wortspiel mit Klangnähe; z. B. "Obstsalat" statt Uppsala.
Die Einmaligkeit der Kinderanekdoten lebt vor allem von der situativen Dynamik, die in der Regel nicht wiederholbar ist, aber auch von der Divergenz zu den Erwartungen der Erwachsenen. (Eine umfangreiche Sammlung von Anekdoten findet sich in "30 Kilo Fieber" und in "Wie Kinder Sprache lernen" (s. Literatur unten).)
Skeptisch lässt sich natürlich einwenden: Die Kinderanekdote - mindestens die Anekdoten von 2 - 7-jährigen Kindern - lebe auch vom Bericht durch Erwachsene. Das ist zweifellos richtig. Andererseits wird aber auch nichts verfälscht, wenn kreative Konstellationen dieser Art (Anekdoten) wortwörtlich wiedergegeben werden. Zum Andern scheint es naheliegend: Erwachsene können, was die Sprachgestaltung durch Kinder angeht, viel an Spontaneität, Kreativität und Gestaltungskompetenz von jenen lernen.
Beispiele aus der Literatur
- Heinrich von Kleist: Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege
- Thomas Mann: Anekdote
- Heinrich Böll: Anekdote von der Senkung der Arbeitsmoral
Literatur
- Heinz Grothe: Anekdote. (= Sammlung Metzler; Abt. E, Poetik; M 101). 2. Auflage. Metzler, Stuttgart 1984, ISBN 3-476-12101-1
- Jürgen Hein (Hrsg.): Deutsche Anekdoten. Reclam, Stuttgart 1999, ISBN 3-15-009825-4 (Anthologie)
- Sonja Hilzinger: Anekdotisches Erzählen im Zeitalter der Aufklärung. Zum Struktur- und Funktionswandel der Gattung Anekdote in Historiographie, Publizistik und Literatur des 18. Jahrhunderts. M und P, Stuttgart 1997, ISBN 3-476-45187-9
- Norbet Kühne: 30 Kilo Fieber - die Poesie der Kinder, Kinderanekdoten; Ammann Verlag, Zürich 1997, ISBN 3-250-10326-8
- Norbert Kühne: Wie Kinder Sprache lernen - Grundlagen, Strategien, Bildungschancen; Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2003, ISBN 3-89678-467-6
- Hermann Schüling: Katalog einer Sammlung von Anekdotenbüchern. (= Spezialsammlungen der Universitätsbibliothek Giessen; 1). Universitätsbibliothek Gießen, Gießen 1982 (Digitalisat)
- Volker Weber: Anekdote. Die andere Geschichte. Erscheinungsformen der Anekdote in der deutschen Literatur, Geschichtsschreibung und Philosophie. Stauffenberg, Tübingen 1993, ISBN 3-923721-29-3