Gebrauchsmusik
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Gebrauchsmusik bezeichnet Musik, die sich einem gesellschaftlichen Zusammenhang unterordnen muss. Der Ausdruck ist seit den 1920er-Jahren üblich. Möglicherweise hat der Musikethnologe Paul Nettl ihn zum ersten Mal erwähnt. Es hat nur Sinn von Gebrauchsmusik zu sprechen, wenn es im Feld des Musikalischen auch etwas anderes gibt: Das Gegenteil von Gebrauchsmusik ist die Autonome Musik oder auch Absolute Musik.
In der europäischen Tradition gibt es folgende Rahmen für Musik:
- Kirche (Musik im Gottesdienst)
- Kammer (Hintergrundmusik zum aristokratischen Kartenspiel)
- Theater (Oper und Bühnenmusik im Schauspiel)
- Ballsaal bzw. Tanzboden (musikalische Begleitung des Gesellschaftstanzes)
Seit es diese gesellschaftlichen Rahmen gibt, also seit dem 17. Jahrhundert, emanzipieren sich Musiker und Komponisten zunehmend von ihrer dortigen Funktion. Der öffentliche Konzertsaal wird seit dem 18. Jahrhundert (zunächst in London) zum befreienden Ziel des professionellen Musikers.
Im 19. Jahrhundert diente die Forderung, dass es dem Menschen möglich sein solle, sich als Individuum außerhalb von Funktionalisierungen zu verwirklichen, als Gegengewicht zur zunehmenden Eingliederung der Arbeitskräfte in technische und bürokratische Ablauforganisationen im Zuge der Urbanisierung und Industrialisierung.
Die Gebrauchsmusik ist Teil der Musikproduktion der Musikindustrie und ist der Konzertmusik oder absoluten Musik (siehe U-Musik) wirtschaftlich überlegen. Die Musik im Ballsaal und im Theater waren eng miteinander verbunden, siehe etwa Johann Strauß (Sohn). Die Theatermusik ging im 20. Jahrhundert bruchlos in die Filmmusik über, wie die Karrieren von Max Steiner oder Hans J. Salter zeigen. Auch Komponisten "ernster" Musik wie Erich Wolfgang Korngold komponierten ambitionierte Filmmusik.
[Bearbeiten] Hintergrund
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Musiker bewundert, die sich aus ihrem gesellschaftlichen Rahmen herauslösten. Der Violinist Louis Spohr berichtet in seiner Selbstbiographie, dass er für sein Kammermusikkonzert am Stuttgarter Hof (um 1800) darauf bestanden habe, dass die Hofgesellschaft während seines Vortrags die Spieltische und -karten wegräume. Weil sich der König an diese Forderung hielt, hatte das öffentliche Konzert Spohrs am folgenden Tag großen Zulauf.
Mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft entstand ein vielfältiger neuer Bedarf nach Gebrauchsmusik (Tanzball, Music Hall, später Filmmusik etc.). Dadurch war die ursprüngliche Opposition des Bürgertums gegenüber einer "Gebrauchsmusik" der kirchlichen und weltlichen Autoritäten und seine Solidarität mit den opponierenden Musikern, die keine Dienstboten mehr sein wollten, nicht mehr gegeben. Es verstärkte sich eine Opposition gegenüber Musikern, die sich den Anforderungen nicht unterordnen wollten. Die einstige Bewunderung hat sich zur Toleranz entwickelt (vgl. Minderheitenschutz).
[Bearbeiten] Literatur
Paul Nettl: "Beiträge zur Geschichte der Tanzmusik im 17. Jahrhundert", in: Zeitschrift für Musikwissenschaft, 4:1921/22, S. 257–65