Geschichte des Korantexts
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Die Geschichte des Korantexts stellt sich aus westlicher wissenschaftlicher Sicht etwas differenzierter dar, als die heute unter Muslimen gängige, geglättet erscheinende Version. Die westliche Wissenschaft geht, wie die Muslime auch, zumeist von einer autoritativen Edition des Korans unter dem Kalifen Uthman ibn Affan aus.
Doch muslimische Überlieferungen von einer Koransammlung (dscham'u 'l-quran- ǧamʿu ʾl-qurʾān) bereits unter dem Kalifen Abu Bakr scheinen Berichten von einer ersten Sammlung unter Umar ibn al-Chattab (ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb) zu widersprechen. Dieser Widerspruch, der auf die inhaltlich unterschiedlichen und nicht selten tendenziös gefärbten Berichte des islamischen Überlieferungswesens zurückzuführen ist, konnte von der westlichen Wissenschaft bis heute nicht endgültig gelöst werden. Ein Koranexemplar von Ḥafṣa, einer Tochter Umars, wird sowohl von der westlichen als auch von weiten Teilen der muslimischen Wissenschaft als zentral erachtet. Problematisch erscheint lediglich, dass es eine Tochter Umars war, die offenbar das Koranexemplar erbte, und nicht der Kalif Uthman, was bei einem so wichtigen Dokument bemerkenswert ist.
Neben dem offiziellen Exemplar, das Uthman von Zaid b. Thabit mit ihm zu Seite gestellten Personen, über deren Identität in der westlichen Wissenschaft Zweifel herrschen, erstellen ließ, gab es nach muslimischer Tradition noch mindestens vier weitere, abweichende Exemplare, von denen das wichtigste das von Abdallah b. Mas'ud ist. Auch das Exemplar von Ubayy b. Ka'b fand wohl größere Verbreitung. Des weiteren gab es Exemplare von Abu Musa Abdallah Qais al-'Aschari und Miqdad b. 'Amr.
Über das Exemplar von Abdallah b. Mas'ud berichtet die muslimische Tradition, dass es die Suren 1, 113 und 114 nicht enthalten habe. Außerdem gibt es zwei verschiedene, nicht identische muslimische Überlieferungen von einer stark abweichenden Anordnung der Suren, die beide nicht der Anordnung im autoritativen Exemplar Uthmans entsprechen. Entgegen der muslimischen Auffassung gibt es durchaus Anzeichen, dass dieses Exemplar nicht vernichtet wurde, sondern lange noch Abschriften zirkulierten.
Über das Exemplar von Ubayy b. Ka'b berichtet die muslimische Tradition, dass es zwei weitere Suren enthalten habe, die zwar auch überliefert sind, deren erste Textzeugnisse jedoch spät, im 16. Jahrhundert, datieren. Diese Suren sind unter den Namen Surat al-Khal' und Surat al-Hafd oder beide zusammen unter dem Titel Sùratu 'l-qunùt bekannt. Die westliche Wissenschaft bezweifelt, genau wie die muslimische, die Echtheit dieser Suren. Auch für dieses Koranexemplar gibt es eine muslimische Tradition über eine stark abweichende Anordnung der Suren.
Die beiden im Topkapi Museum in Istanbul und in Taschkent befindlichen Exemplare werden von der westlichen Wissenschaft in keinem Fall als die bis heute erhaltenen Exemplare der Edition Uthmans angesehen. Man hat aber 1972 in der Hauptmoschee von Sana'a Fragmente alter Kodices auf Pergament gefunden, die nicht nur orthographische Abweichungen im Rasm, sondern auch eine andere Anordnung der Suren enthalten, die die Richtigkeit entsprechender Angaben in der Literatur, vor allem im Fihrist des Ibn al-Nadim, verfasst gegen 987-988, bestätigen. Zweifelsfrei sind die ältesten Fragmente diejenigen, die in der sog. hidschazischen mâ'il-Schrift aufgezeichnet worden sind. Fragmente dieser Kodices liegen in San'a, ein weiteres Fragment aus der Surat al-nur liegt im British Museum unter der Nr. Or.2165 und geht auf das frühe achte Jahrhundert zurück.
Die meisten heutigen Koranexemplare gehen auf eine Edition der Al-Azhar-Universität aus dem Jahre 1924 zurück, die damit einen bestimmten Konsonantentext und eine einzige Lesart quasi zur verbindlichen gemacht hat, obwohl die ältere muslimische Tradition ganze Enzyklopädien über abweichende, aber dennoch anerkannte Lesarten kennt. Die handschriftlichen Grundlagen dieser Ausgabe sind unbekannt.
Eine textkritische Edition des Korans nach westlichem Standard gibt es bis heute nicht. Die Schaffung eines textus receptus anhand vorliegender Koranhandschriften aus der Frühzeit mit der Verzeichnung der Lesevarianten in einem textkritischen Apparat wird von der islamischen Welt strikt abgelehnt. Ansätze dazu wurden in den 1920er und 1930er Jahren von Gotthelf Bergsträsser, Arthur Jeffery und Otto Pretzl unternommen, jedoch wegen des Todes von Bergsträsser und Pretzl nie zu Ende geführt.
[Bearbeiten] Neuere Forschungen
Die Funde von alten Koranfragmenten z. T. aus dem ersten muslimischen Jahrhundert in Sanaa haben vieles, was lange als gesichert galt, wieder in Frage gestellt. Gerd-Rüdiger Puin fasst seine Forschungen so zusammen:
“My idea is that the Koran is a kind of cocktail of texts that were not all understood even at the time of Muhammad. Many of them may even be a hundred years older than Islam itself. Even within the Islamic traditions there is a huge body of contradictory information, including a significant Christian substrate; one can derive a whole Islamic anti-history from them if one wants. The Qur’an claims for itself that it is ‘mubeen,’ or clear, but if you look at it, you will notice that every fifth sentence or so simply doesn’t make sense. Many Muslims will tell you otherwise, of course, but the fact is that a fifth of the Qur’anic text is just incomprehensible. This is what has caused the traditional anxiety regarding translation. If the Qur’an is not comprehensible, if it can’t even be understood in Arabic, then it’s not translatable into any language. That is why Muslims are afraid. Since the Qur’an claims repeatedly to be clear but is not—there is an obvious and serious contradiction. Something else must be going on.”
[Bearbeiten] Literatur
- Bergsträsser, Gotthelf: Plan eines Apparatus Criticus zum Koran. München 1930
- Pretzl, Otto; Die Fortführung des Apparatus Criticus zum Koran. 1934
- Nöldeke, Theodor: Geschichte des Qorans. Zweiter Teil: Die Sammlung des Qorans (1919). Dritter Teil: Die Geschichte des Korantexts (1938). Leipzig
- Watt, W. Montgomery: Bell's Introduction to the Qur'an Edinburgh 1970, p. 40-56
- Gerd-Rüdiger Puin: Observations on Early Qur'an Manuscripts in San'a'. In: Stefan Wild (ed.): The Qur'an as Text. Brill. Leiden 1996. ISSN 0169-8729
- Hans-Caspar Graf von Bothmer, Karl-Heinz Ohling und Gerd-Rüdiger Puin: Neue Wege der Koranforschung. In: Magazin Forschung. Universität des Saarlandes. Nr. 1/1999. S. 33-46. ISSN 0937-7301
- John Burton:The collection of the Qur'ân. Cambridge; New York: Cambridge University Press, 1977.
- Jane Dammen Mcliffe (ed.): Encyclopaedia of the Qur'ân. Bd. I. A-D. Brill. Leiden-Boston-Köln 2001. ISBN 90-04-11465-3
- Christoph Luxenberg: Die syro-aramäische Lesart des Koran, ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache. Das Arabische Buch, Berlin 2000.
- Gerd-Rüdiger Puin: Observations on Early Qur'an Manuscripts in San'a'. In: Stefan Wild (ed.): The Qur'an as Text. Brill. Leiden 1996. ISSN 0169-8729
- Hans-Caspar Graf von Bothmer, Karl-Heinz Ohling und Gerd-Rüdiger Puin: Neue Wege der Koranforschung. In: Magazin Forschung. Universität des Saarlandes. Nr. 1/1999. S. 33-46.