Herbst des Mittelalters
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Herbst des Mittelalters (niederl.: Herfsttij der Middeleeuwen. Studie over levens- en gedachtenvormen der veertiende en vijftiende eeuw in Frankrijk en de Nederlanden) ist eine Studie von Johan Huizinga von 1919 über die Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden – so der Untertitel. Es ist neben Homo ludens Huizingas bekanntestes Werk und gilt als ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung.
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[Bearbeiten] Konzept
Herbst des Mittelalters ist eine sprachlich einfallsreiche und vielschichtige Untersuchung dieser Zeit, in dem Huizinga am Beispiel der Hofkultur der Herzöge von Burgund seine Vorstellung eines allmählichen Vergehens der mittelalterlichen Kultur beschreibt. In seinen Betrachtungen von Mensch und Gesellschaft, Leben und Geist sowie Kunst und Literatur des späten Mittelalters ließ Huizinga die Ergebnisse damals aktueller anthropologischer, psychologischer, ethnologischer und linguistischer Forschungen Zeit einfließen und beschreibt anschaulich die enorme Spannung, der der mittelalterliche Mensch zwischen asketischer Weltabgewandtheit und Lebensgier ausgesetzt war sowie seine Flucht daraus, sein Ausweg in die schöne Illusion, die in allen Bevölkerungsschichten - von der Aristokratie bis zu den unteren Ständen - gesucht wurde.
Neben der für seine Zeit ungewöhnlichen Nutzung von Quellen aus Kunst und Literatur unterscheidet sich sein Werk von den damals gängigen Theorien auch durch die Interpretation des Endes dieser Zeit. Huizinga vertritt mit dem ausdrucksstarken Bild vom „Herbst des Mittelalters“ eine Richtung, die das 14. und 15. Jahrhundert als eine „reife Vollendung“ versteht. Bis zu diesem Buch wurde die detailgetreue Darstellung in den Bildern von Jan van Eyck und seinem vermeintlichen Bruder Hubert van Eyck aber als Vorläufer der Renaissance betrachtet. Huizinga wendet sich damit ausdrücklich gegen die Auffassung, das Spätmittelalter stelle lediglich eine Vorbereitung auf die europäische Renaissance oder - in Abwandlung von Huizingas Metapher - nichts weiter als den „Frühling der Neuzeit“ dar.
Sein Werk prägt bis heute unsere Vorstellung von der Spätgotik, so wie Die Kultur der Renaissance in Italien (1860) von Jacob Burckhardt die der Renaissance geprägt hat.
[Bearbeiten] Entstehung
Huizinga begann bereits während seiner Lehrtätigkeit in seiner Heimatstadt Groningen von 1905 bis 1915 mit der Arbeit an dem Werk und vollendete es in Leiden, wo er 1915 an die Universität berufen wurde. Einen ersten Anstoß hatte er 1902 durch eine Ausstellung altniederländischer Malerei in Brügge erhalten, auf die ihn sein Mentor Pieter Jan Blok hingewiesen hatte. Jahre später reifte die entscheidende Erkenntnis vom „Absterben eines Zeitalters“.
[Bearbeiten] Inhalt
Im ersten Kapitel beschreibt Huizinga die „Spannung des Lebens“, das leidenschaftliche und kontrastreiche Dasein in den mittelalterlichen Städten, auf dem Land und an den Fürstenhöfen.
Wie ein Leitmotiv durchzieht der Titel des zweiten Kapitels, „Die Sehnsucht nach dem schönen Leben“, das Buch. Die Wirren der Zeit, die Kriege voller Kampf, Grausamkeit und Elend ließen - wie in kaum einer anderen Epoche - den Traum von einem besseren Leben heranwachsen. Melancholie und Schwermut erkennt Huizinga als die Grundstimmung, die in der Kunst und allen überlieferten schriftlichen Äußerungen anklingt, begleitet von Genuss- und Prunksucht, wie sie stets in Zeiten voller Lebensangst entsteht.
In den folgenden Kapiteln schildert Huizinga, wie sich in den verschiedenen Gesellschafts- und Lebensbereichen die Sehnsucht nach einer besseren Welt äußerte: im Rittertum, im Hofleben, in der Stilisierung und Idealisierung der Liebe, im Bild des Todes und in der Frömmigkeit, im praktischen Leben und in der Kunst. Er erinnert daran, dass die nahezu vollständig überlieferte Literatur und die anderen schriftlichen Überlieferungen ein geschlosseneres Bild der Zeit vermitteln, als die bildende Kunst das vermag, von der nur „spärliche Überreste“ erhalten seien. Die Kunst habe die Aufgabe, die Formen, „in denen sich das Leben vollzieht, mit Schönheit zu schmücken“. Letztlich überwucherten jedoch Prunk und überladene Dekore die Schönheit. Huizinga spricht vom horror vacui ausgehender Geistesperioden.
Die letzten drei Kapitel widmet sich Huizinga der Bekräftigung seiner grundlegenden These, nämlich dass die spätmittelalterliche burgundische Kultur die Endphase einer eigenständigen, aber verblühenden Epoche darstelle. Im abschließenden Kapitel skizziert er, wie die „neue Form“ des Humanismus „im Garten des mittelalterlichen Denkens“ ganz allmählich entsteht.
[Bearbeiten] Reaktionen
Unmittelbar nach seinem Erscheinen erntete das Buch in den Niederlanden viel Kritik. Zu ungewöhnlich erschienen konservativen Mediävisten Huizingas Thesen und die gewählte Darstellungsform. Nur allmählich setzten Beachtung und Zustimmung ein, was schließlich zu einem Welterfolg des Buchs führte.
1920 erhielt Huizinga de D.A. Thiemeprijs, den renommiertesten niederländischen Literaturpreis. 1924 erschien die Studie in Englisch (unter den Titeln The Waning of the Middle Ages und The Autumn of the Middle Ages) und Deutsch. Es wurde in zahlreiche weitere Sprachen übersetzt.
Heute gilt das Werk als Klassiker und Standardwerk der Kulturgeschichte.
[Bearbeiten] Literatur
- Johan Huizinga: Herfsttij der Middeleeuwen: Studie over levens- en gedachtenvormen der veertiende en vijftiende eeuw in Frankrijk en de Nederlanden. H. D. Tjeenk Willink 1975. ISBN 9001409075.
- Christoph Strupp: Johan Huizinga. Geschichtswissenschaft als Kulturwissenschaft. Vandenhoeck & Ruprecht 2000. ISBN 3525362420
[Bearbeiten] Weblinks
- Leseprobe: Kap. XI. Das Bild des Todes (deutsch)
- Projekt Gutenberg eBook, Volltext (niederländisch)