Konstruktive Mathematik
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Der mathematische Konstruktivismus ist eine Richtung der Philosophie der Mathematik, die den Standpunkt vertritt, der Existenzbegriff solle auf konstruierbare Objekte beschränkt werden. Er entspricht somit einer Einschränkung der axiomatischen Mathematik. In der Gegenwart ist er wegen seiner Nähe zum Berechenbarkeitsbegriff hauptsächlich in der Informatik aufgegangen.
Konstruktivismus wird oft verwechselt mit Intuitionismus, jedoch ist der Intuitionismus nur eine von mehreren Arten des Konstruktivismus. Nach dem Intuitionismus liegen die Grundlagen der Mathematik in der Intuition des individuellen Mathematikers, wodurch die Mathematik zu einer inhärent subjektiven Tätigkeit wird. Der Konstruktivismus vertritt diese Ansicht nicht, sondern bezieht sich auf ein objektives Verständnis der Mathematik.
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[Bearbeiten] Konstruktivistische Mathematik
Die konstruktivistische Mathematik benutzt die intuitionistische Logik, bei der Wahrheit in enger Verbindung mit Beweisbarkeit steht. Um P∨Q konstruktiv zu beweisen, wird eins (oder beide) von P und Q bewiesen. Um konstruktiv zu beweisen, wird ein
zusammen mit einem Beweis für P(a) angegeben. Um
konstruktiv zu beweisen, wird ein Algorithmus angegeben, der für jedes
einen Beweis von P(a) konstruiert.
Im Konstruktivismus sind unendliche Objekte (wie unendliche Mengen und Folgen) nur unter der Bedingung zulässig, dass sie konstruierbar sind. Konstruktivisten bezeichnen dies als potentielle Unendlichkeit dieser Objekte. Noch einschränkender ist der Finitismus, der nur endlich viele Konstruktionsschritte zuläßt, also keine unendlichen Objekte als existent betrachtet.
[Bearbeiten] Beispiele aus der Analysis
Eine mögliche Definition der reellen Zahlen in der Analysis benutzt Paare von Cauchy-Folgen der rationalen Zahlen. So etwas ist jedoch ohne weitere Einschränkungen nicht hinreichend in der konstruktivistischen Mathematik, da eine überabzählbare Anzahl solcher Folgen nicht konstruierbar wäre.
Stattdessen werden von dem konstruktiven Mathematiker Errett Bishop reelle Zahlen als Konstruktionsanweisung f repräsentiert, die aus einer positiven natürlichen Zahl n ein Paar rationale Zahlen konstruiert, so dass
und für größere n das Intervall kleiner wird, sowie die Schnittmenge der ersten n Intervalle nicht leer ist. f kann benutzt werden, um eine beliebig genaue rationale Annäherung an die dadurch repräsentierte reelle Zahl zu konstruieren.
Analog kann die reelle Zahl durch die Konstruktionsanweisung repräsentiert werden, die für alle
die größte natürliche Zahl ai konstruiert, so dass
, und dann das Paar
ausgibt.
Entsprechend der Definition der reellen Zahlen lassen sich mit der zusätzlichen Einschränkung der Konstruierbarkeit der Cauchy-Folgen die konstruktivistischen reellen Zahlen definieren. Diese Zahlen bilden die Grundlage für die konstruktivistische Analysis und Algebra. Da die Menge der konstruktivistischen reellen Zahlen selbst jedoch nicht konstruierbar ist, betrachten Konstruktivisten immer nur konstruierbare Teilmengen davon.
Da jede Konstruktionsanweisung ξ notwendigerweise eine endliche Folge von Anweisungen aus einer endlichen Menge Σ ist, gibt es eine bijektive Funktion . Also sind die konstruktivistischen reellen Zahlen eine abzählbare Menge. Aus Cantors Diagonalbeweis folgt, dass die konstruktivistischen reellen Zahlen eine niedrigere Kardinalität haben als die Menge der reellen Zahlen und somit eine echte Teilmenge von ihnen sind. Konstruktivisten vertreten den Standpunkt, diese Teilmenge enthielte alle reellen Zahlen, die man für Anwendungen braucht.
[Bearbeiten] Standpunkt der Mathematiker
Traditionell sind die meisten Mathematiker misstrauisch, wenn nicht sogar kritisch gegenüber dem mathematischen Konstruktivismus eingestellt, größtenteils wegen der Einschränkungen, welche die konstruktive Analysis fordert. Diese Ansichten wurden von David Hilbert deutlich zur Sprache gebracht: "Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen, soll uns niemand vertreiben können." Die konstruktivistische Mathematik enthält auf dem Gebiet der Mengenlehre nicht den ganzen Satzbestand der Mathematik. Insbesondere lässt sich die Existenz überabzählbarer Mengen nicht beweisen, weil dazu der Satz vom ausgeschlossenen Dritten notwendig wäre. Andere Beweise benötigen das Auswahlaxiom.
Errett Bishop versuchte 1967 in seiner Arbeit Foundations of Constructive Analysis, diese Zweifel durch die Entwicklung eines großen Teils der Analysis nach konstruktivistischen Prinzipien zu entkräften. Jedoch sind nicht alle Mathematiker der Meinung, dass Bishop damit erfolgreich war, da das Buch notwendigerweise komplizierter war als klassische Texte über Analysis.
In Deutschland arbeitete Paul Lorenzen an einer operativ-konstruktiven Mathematik einschließlich Analysis und Algebra. Diesem mathematisch-philosophischen Ansatz, der auch in den Erlanger Konstruktivismus einfloss, geht es (im Vergleich zum deduktiven axiomatischen Ansatz) um einen induktiven Aufbau durch die auf Symbole bezogene ausübende und kalkulierende Tätigkeit des Mathematikers.
Unabhängig davon sehen jedoch nahezu alle Mathematiker keine Notwendigkeit, sich auf konstruktivistische Verfahren zu beschränken, selbst wenn dies möglich wäre.
[Bearbeiten] Stellung im Grundlagenstreit
Der Konstruktivismus stand im 20. Jahrhundert im Grundlagenstreit der axiomatischen und der logizistischen Mathematik gegenüber.
[Bearbeiten] Konstruierbarkeit und Berechenbarkeit
Man kann eine Parallele zwischen Konstruierbarkeit und Berechenbarkeit ziehen. Hierbei ist die totale Berechenbarkeit nicht verlangt, in der Berechenbarkeitstheorie spricht man dann von partiell berechenbar, bezogen auf Mengen spricht man von rekursiv aufzählbar.
Die konstruktive Mathematik definiert viele Begriffe anders als in der Mathematik sonst üblich, was sehr häufig zu Missverständnissen geführt hat. Die konstruktivistische Mathematik selbst lässt den Konstruktionsmechanismus undefiniert, jedoch lassen sich die Begriffe wie folgt berechenbarkeitstheoretisch interpretieren:
konstruktivistische Bezeichnung |
berechenbarkeitstheoretische Interpretation |
---|---|
Existenz/ Konstruierbarkeit |
Berechenbarkeit |
Menge | rekursiv aufzählbare Menge |
Folge | berechenbare Folge |
aktual/aktuell unendlich | nicht berechenbar (folglich auch unendlich) |
potentiell unendlich | unendlich, aber berechenbar |
Reelle Zahlen | geeignet zu wählende, rekursiv aufzählbare Teilmenge der berechenbaren Zahlen |
Reelle Zahl | ein Element der gerade betrachteten Teilmenge |
Konstruktionsmittel | Algorithmus |
indefiniter Quantor | Quantor über die Elemente einer nicht rekursiv aufzählbare Menge |
[Bearbeiten] Mathematiker mit Beiträgen zum Konstruktivismus
- Leopold Kronecker (Vorläufer, Ablehnung reeller Zahlen)
- L.E.J. Brouwer (Begründer des Intuitionismus)
- Paul Lorenzen (Hauptvertreter in Europa)
- Errett Bishop (englischsprachiger Hauptvertreter)
[Bearbeiten] Siehe auch
- Mathematischer Intuitionismus
- Berechenbarkeit
- Berechenbare Zahlen
- Finitismus
- Ultrafinitismus
- Erlanger Konstruktivismus
[Bearbeiten] Literatur konstruktiver Mathematiker
- Kronecker, Leopold: Vorlesungen über die Theorie der einfachen und der vielfachen Integrale. hrsg: Netto, Eugen, Leipzig Teubner 1894
- du Bois-Reymond, Paul: Allgemeine Functionentheorie, Tübingen 1882
- Lorenzen, Paul: *1951 Maß und Integral in der konstruktiven Analysis. Mathematische Zeitung 54: 275
- Lorenzen, Paul: Einführung in die operative Logik und Mathematik, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955
- Lorenzen, Paul: Metamathematik, Mannheim 1962
- Lorenzen, Paul: Differential und Integral. Eine konstruktive Einführung in die klassische Analysis, Frankfurt 1965
- Beeson, Michael, 1985, Foundations of Constructive Mathematics, Heidelberg: Springer-Verlag.
- Bishop, Errett, 1967, Foundations of Constructive Analysis, New York: McGraw-Hill.
- Bridges, D., and Richman, F., 1987, Varieties of Constructive Mathematics, London Math. Soc. Lecture Notes 97, Cambridge: Cambridge University Press.
- Martin-Löf, P., 1968, Notes on Constructive Analysis, Almquist & Wixsell, Stockholm.
- Lorenzen, Paul: Konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt 1974
- Lorenzen, Paul: Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie, Zürich 1987, Stuttgart 2000 ISBN 3-476-01784-2
- Lorenzen, Paul: Elementargeometrie als Fundament der Analytischen Geometrie, Mannheim/Zürich/Wien 1983 ISBN 3-411-00400-2
- Zahn, Peter: Ein konstruktiver Weg zur Masstheorie und Funktionalanalysis. (Broschiert) 1978; ISBN 3534077679
[Bearbeiten] Literatur
- Diane Loring Souvaine: Paul Lorenzen and constructive mathematics ASIN B0007BQW9K
- Eric Schechter, Constructivism is difficult, American Mathematical Monthly 108 (2001), 50–54.
- David Hilbert, Über das Unendliche, Mathematische Annalen 95 (1926), 161–190.
- Solomon Feferman, Relationships between Constructive, Predicative and Classical Systems of Analysis, ibid., 221–236.
- J J O'Connor und E F Robertson: Errett Albert Bishop. MacTutor History of Mathematics, November 2004.
[Bearbeiten] Weblinks
- Eintrag (englisch) in der Stanford Encyclopedia of Philosophy (inkl. Literaturangaben)
- Der Mengenbegriff in den Mathematiken - Diskussion der klassischen und konstruktivistischen Standpunkte