Marxistische Gruppe
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Die Marxistische Gruppe (MG) war die mitgliederstärkste kommunistische Organisation der "Neuen Linken" in Deutschland. Die MG veröffentlichte u.a. das Magazin MSZ- Gegen die Kosten der Freiheit, die Marxistische Arbeiterzeitung (MAZ), verschiedene Hochschulzeitungen sowie die Buchreihen Resultate, Abweichende Meinungen und Kritik der bürgerlichen Wissenschaft.
Das Programm der MG bestand in der Abschaffung des Privateigentums. Die Marktwirtschaft sollte ersetzt werden durch eine gesellschaftliche Planung der Produktion zwecks bestmöglicher Befriedigung der anfallenden Bedürfnisse.
Hervorgegangen ist die MG aus den sog. "Roten Zellen", die im Jahre 1968 in der Münchener Studentenbewegung entstanden sind. Der Aufbau der eigentlichen MG erfolgte erst ab etwa 1980, also zu einer Zeit, als die größtenteils ähnlichen Milieus entstammenden maoistisch orientierten K-Gruppen sich überwiegend bereits im Niedergang oder in der Auflösungsphase befanden.
Die vom Verfassungsschutz beobachtete (und auch nachrichtendienstlich ausgespähte) und von ihm als "linksextremistisch" eingeschätzte Organisation soll bis zu 10.000 Mitglieder gehabt haben. Zahlreiche Mitglieder der MG - vor allem in Bayern - wurden auf Grundlage der vom Verfassungsschutz gesammelten Daten aus dem öffentlichen Dienst entlassen, private Arbeitgeber wurden vom Verfassungsschutz über bei ihnen angestellte MG-Mitglieder informiert und zu deren Entlassung aufgefordert.
Im Mai 1991 gab die MG ihre Selbstauflösung bekannt. Als Begründung gab sie an, dass sie anlässlich einer gerade über sie erschienenen Broschüre des Verfassungsschutzes mit verschärften Repressalien für ihre Mitglieder rechne. Die MSZ- Gegen die Kosten der Freiheit wurde eingestellt, aber eine entsprechende publizistische Tätigkeit wurde durch den GegenStandpunkt-Verlag und die Zeitschrift GegenStandpunkt fortgesetzt.
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[Bearbeiten] Die kommunistische Theorie der Marxistischen Gruppe
Die MG berief sich nie auf den "Marxismus-Leninismus", sondern unterzog die von Lenin geprägte und durch die kommunistischen Parteien tradierte Interpretation der Theorie von Karl Marx einer scharfen Kritik. Sie ging dabei von der erst in den 1960er Jahren aufgekommenen neuen, auf einer hohen theoretischen Abstraktionsebene ansetzenden Diskussion über die begriffliche Logik des Marxschen Kapitals aus, wobei sie sich stark auf die für Marx stilbildende Wissenschaft der Logik von Hegel stützte.
Hiervon ausgehend verstand die MG die Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft nicht als Ergebnis des Wirkens einzelner Kapitalisten oder Kapitalfraktionen, sondern sah in Kapitalisten wie Lohnarbeitern nur "Charaktermasken" (Marx) eines in der bürgerlichen (auf allgemeiner Warenproduktion und dem Warencharakter der Arbeitskraft beruhenden) Gesellschaft strukturell invarianten Ausbeutungsverhältnisses zwischen Kapital und Lohnarbeit. Während beispielsweise die DKP mittels ihrer Theorie des "staatsmonopolistischen Kapitalismus" ihre Kritik am bürgerlichen Staat in der Bundesrepublik Deutschland primär daran festmachte, dass das "Monopolkapital" auf vielfältige Weise direkt Einfluss auf die Politik nehme und dadurch den an sich zumindest teilweise "fortschrittlich-demokratischen" Charakter der im Grundgesetz formulierten staatlichen Ordnung hintertreibe und zerstöre, lehnte die MG solche Kritiken als "idealistisch" ab, weil ihrer Analyse zufolge ein bürgerlicher Staat, ganz unabhängig vom Agieren der Einzelkapitale, prinzipiell nichts anderes ist als ein "ideeller Gesamtkapitalist" (Friedrich Engels), der zu keinem anderen Zweck existiere als zur Sicherung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und der Garantie der Rahmenbedingungen der Kapitalverwertung mithilfe des staatlichen Gewaltmonopols. Die für das DKP-Umfeld typischen Appelle zur Bildung von Bündnissen "demokratischer Kräfte" gegen rechte und faschistische Tendenzen wies die MG entsprechend als "moralische Heuchelei" zurück, welche der Demokratie lauter menschenfreundliche Zwecke unterstelle, die ihren tatsächlichen Daseinsgrund verfehlten - schließlich gehöre die "Sortierung des Menschenmaterials in Brauchbare und Überflüssige" ebenso wie die kriegerische Durchsetzung des Anspruchs auf Umwandlung sämtlicher Ressourcen in Objekte der Kapitalvermehrung zum ganz normalen demokratischen Geschäft, während der Faschismus das demokratische Ideal der sich für das Gelingen des Staatszwecks aufopfernden Volksgemeinschaft besonders konsequent verwirkliche. Der demokratische Pluralismus institutionalisiere den Verzicht der Bürger auf ihre Bedürfnisse und Interessen, in den unterschiedlichen Meinungen zur Staatspolitik führen sie einen von diesen Bedürfnissen völlig losgelösten Streit um die in verschiedenen Varianten (Parteien) vorliegenden Staatsinteressen. Auch die Gewerkschaften überzog die MG mit scharfer Polemik, da sie, indem sie für höhere Löhne kämpfen, nichts anderes zum Ausdruck brächten als das grundsätzliche Einverständnis der Lohnarbeiter mit der kapitalistischen Vernutzung ihrer Arbeitskraft.
Von Lenin übernahm die MG das Konzept der Kaderorganisation aus geschulten Berufsrevolutionären, sie lehnte jedoch seine Theorie des Imperialismus als "höchstes Stadium des Kapitalismus", in dem dieser in den Zustand der "Fäulnis" und des Niedergangs übergegangen sei, ab - denn der Kapitalismus sei nicht dafür zu kritisieren, dass er schlecht funktioniert, sondern dafür, dass er leider zu gut funktioniert. In dem auf "Das Kapital", die Kritik der politischen Ökonomie konzentrierten Marx-Verständnis der MG spielten die geschichtsphilosophischen Einschläge im Denken von Marx und Engels, die der "Marxismus-Leninismus" zu einer "Weltanschauung" ("dialektischer und historischer Materialismus") ausgebaut hat, überhaupt keine Rolle.
Die Zielvorstellungen der MG ließen sich in erster Linie indirekt aus ihrer Kritik an den Staaten des "realen Sozialismus" entnehmen. Diesen warf die MG den "Fehler" vor, nicht konsequent Warenproduktion und Geld zugunsten einer geplanten Produktion von Gebrauchswerten überwunden, sondern den Widersinn einer Planung unter Zuhilfenahme von Ware-Geld-"Hebeln" (ein in sowjetischen Ökonomielehrbüchern gängiger Terminus) erfunden zu haben; der Widerspruch zwischen Planung und Anerkennung von Ware-Geld-Beziehungen sei die Ursache der Ungereimtheiten und Funktionsstörungen der Ökonomien der "revisionistischen" Länder. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die MG annahm, nach einer Revolution auf der Basis des richtigen Verständnisses der marxschen Theorie und der Abschaffung des Geldes sei die Versorgung der Bevölkerung mit Gebrauchswerten einfach und arbeitsteilig zu bewerkstelligen.
[Bearbeiten] Agitatorische Praxis
Zwar verteilte die MG Zeitungen und Flugschriften in großem Umfang auch vor Betriebstoren, aber ihr Schwerpunkt lag aus taktischen Erwägungen zunächst an den Hochschulen. Die Anwerbung neuer Mitglieder erfolgte über "Teach-ins" und Sympathisantenplena. (Als Veranstalter traten, um Hörsäle nutzen zu dürfen, mitunter Organisationen mit Namen wie "Verein zur Förderung der wissenschaftlichen und politischen Diskussion" auf).
Mit ihren Positionen grenzte die MG sich fundamental von allen Bemühungen um "systemimmanente" Verbesserung der Lebensverhältnisse ab: Sie wies die Auffassung zurück, über "Kämpfe für konkrete Interessen der arbeitenden Bevölkerung" werde sich ein Bewusstsein der Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus einstellen. Vielmehr kritisierte die MG in ihren Publikationen das falsche Bewusstsein der Arbeiter in Bezug auf Staat und Lohnarbeit, da nur auf dessen Grundlage, das Mitmachen der Ausgebeuteten dauerhaft zu haben sei.
Kritik der bürgerlichen Wissenschaft hatte für die MG einen zentralen Stellenwert. Anders als bei den K-Gruppen bestand diese Kritik nicht darin, mehr Diskussionen über Arbeiterthemen usw. einzufordern - es wurde nicht verlangt, die Wissenschaft auf "proletarische" Themen "anzuwenden", und es ging auch nicht um Propagierung einer alternativen "marxistischen Weltanschauung" auf der Grundlage eines "Klassenstandpunkts". Sondern es sollte - mit sorgfältig vorbereiteten Beiträgen, die von der zunächst vorsichtigen kritischen Infragestellung der in der Lehrveranstaltung diskutierten Problemstellungen bis zur Diskreditierung des Dozenten und Sprengung des Seminars führen sollten - gezeigt werden, dass der gesamte bürgerliche Wissenschaftsbetrieb - von der Moralphilosophie über Literaturinterpretation bis zu sozialwissenschaftlichen Methodologien - gerade keinen wissenschaftlichen Begriff der Realität entwickle, sondern dazu diene, das konformistisch-pluralistische, "problembewusste" und auf praktische Folgenlosigkeit verpflichtete Mitmachen im demokratischen Staat einzuüben.
Sympathisanten absolvierten umfangreiche Schulungskurse, in deren Zentrum die Durcharbeitung des marxschen Kapitals stand. Dies sollte die neuen Anhänger dazu führen, sich die gesamte bürgerliche Weltanschauung zu erklären und damit eine wissenschaftlich fundierte Stellung dazu zu entwickeln. Nach Absolvieren der Schulung erhielten die Sympathisanten den Status von "Kandidaten" - diese Praxis war und ist in streng "leninistischen" Organisationen üblich, bei denen der Kandidatenstatus allerdings zeitlich auf einige Monate begrenzt ist, während bei der MG der Weg vom Sympathisanten zum Vollmitglied mehrere Jahre in Anspruch nahm.
Herausragende Vertreter der MG waren die aus dem Münchener SDS hervorgegangenen Karl Held, Theo Ebel und Herbert Ludwig Fertl. (Über Fertl kursierte das Gerücht, er habe den finanziellen Grundstock der MG mit Bier-Aktien gelegt, die er von seinem Vater, einem Brauereibesitzer, übernommenen habe. In Wahrheit besaßen die Eltern von Fertl jedoch nur eine kleine Metzgerei in München-Bogenhausen, die sie Ende der 1960er-Jahre aufgeben mussten). Alle Mitglieder stellten ihrer Organisation große Teile ihres Einkommens zur Verfügung; bereits Sympathisanten entrichteten regelmäßig Spenden. Leitende Kader verlegten ihren Wohnsitz an einen für ihre politische Arbeit zweckmäßigen Ort. (Bundesweit fiel bei vielen MG-Agitatoren der bayerische Akzent auf, so dass Studenten mit bayerischem Akzent an außerbayrischen Universitäten nicht selten als MG-Mitglieder verdächtigt wurden). Ortsvereine der MG arbeiteten auch in Österreich.
Die Selbstauflösung der MG im Jahr 1991 erfolgte ohne Vorankündigung; allerdings fiel in den vorangegangenen zwei Jahren auf, dass die Frequenz des Erscheinens von Publikationen abnahm und die Ausstattung sparsamer wurde (weniger Farbdrucke).
Die marxistische Theorie der MG wird nach der Auflösung von der 1992 erstmals erschienen Zeitschrift GegenStandpunkt weiter verbreitet. Den Ausgaben liegen oft Zettel bei, in denen auf Termine von öffentlichen Diskussionsveranstaltungen hingewiesen wird.
[Bearbeiten] Zitate
- "Von der Performance her unerreicht war immer die Marxistische Gruppe (MG). Die Jungs mit Münchner Akzent und schicken Lederjacken wussten immer alles besser. Immer. Legendär ihre Auftritte in philosophischen Seminaren, in denen sie die einzigen waren, die Hegel gelesen hatten. Marxistische Gruppe, dass bedeutete: keine Kompromisse. Mit der Arbeiterbewegung hatten sie nichts am Hut, mit freien Wahlen und dem ganzen Demokratiescheiß auch nicht. Die MG stand für die reine, knallharte Kapitalismuskritik. Traurig: 1991 gab sie ihre Selbstauflösung bekannt. Übrig geblieben ist lediglich die Zeitschrift GegenStandpunkt. Wichtig an einer Wahl ist also zuerst und vor allem das, was nicht zur Wahl steht, mit der Wahl aber stillschweigend abgehakt wird. Das ist nämlich nichts Geringeres als die gesamte politische Herrschaft, steht in der aktuellen Ausgabe. Der Kampf geht weiter." (taz nord, 2. Juni 2005[1])