Neigetechnik
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Unter Neigetechnik (kurz auch Neitech genannt, GST oder gleisbogenabhängige Wagenkastensteuerung, abwertend auch Wackeltechnik) versteht man eine Technik im Bereich des Eisenbahnwesens, bei der die Wagenkästen gegenüber der Senkrechten zum Gleis geneigt werden. Dadurch wird bei schneller durchfahrenen Kurven („bogenschnell“) vermieden, dass die Fahrgäste höheren Querkräften ausgesetzt werden.
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[Bearbeiten] Technik
Man unterscheidet zwischen passiver und aktiver Neigetechnik:
- Bei der passiven Neigetechnik sind die Wagenkästen oberhalb ihres Schwerpunktes an erhöhten Fortsätzen des Fahrwerksträgers aufgehängt. Dadurch schwingen sie aufgrund der Fliehkraft im unteren Bereich nach außen, im oberen nach innen. Die Schwingungen werden durch Dämpfungselemente beruhigt. Der Neigewinkel ist auf 3,5° beschränkt. Dadurch ist der Geschwindigkeitsgewinn bei Bogenfahrt auch deutlich geringer als bei aktiven Systemen. Ungelöst ist auch die Ausrüstung der Lokomotive mit Neigetechnik. Insgesamt ist die passive Neigetechnik nicht geeignet, durch höhere Bogengeschwindigkeiten nennenswerte Fahrzeitverkürzungen zu erreichen, sie dient lediglich einer Komfortverbesserung.
- Bei der aktiven Neigetechnik sorgen Stellmotoren (Hydraulikzylinder oder Linearmotoren) dafür, dass die Wagenkästen auslenken. Der Neigewinkel kann bis 8° betragen.
Man unterscheidet bei den aktiven Systemen zusätzlich noch zwischen autarken und wissensbasierenden Systemen:
- Beim autarken System wird die Seitenbeschleunigung über Sensoren gemessen und die Neigung entsprechend eingestellt. Fast alle aktuellen Entwicklungen benutzen autarke Systeme.
- Bei wissensbasierenden Systemen wird die notwendige Neigung in Abhängigkeit von der aktuellen Zugposition aus einer Datenbank entnommen.
Es gibt Mischformen, beispielsweise passive Neigesysteme, bei denen die Neigung aktiv ein- und ausgeleitet wird.
Die Einführung von Neigetechnik im Bahnverkehr erweist sich als sehr komplexer Vorgang. Zu Beginn entwickelte Erwartungen haben sich vielfach als überzogen herausgestellt, so dass derzeit nur auf sehr kurvenreichen Strecken ein Potential für den sinnvollen Einsatz von Neigetechnik zu sehen ist.
[Bearbeiten] Beispiele
[Bearbeiten] Fernverkehr
- ICE T und ICE TD der DB (Deutschland)
- Cisalpino zwischen Zürich, Lugano und Mailand der Cisalpino AG Bern
- ICN (RABDe 500) der SBB (Schweiz)
- Pendolino ETR 460 der Trenitalia (Italien)
- X2000 der SJ (Schweden)
- Talgo pendular (Spanien)
- Alaris (Spanien)
[Bearbeiten] Nahverkehr
- Dieseltriebwagen Baureihe 610, Baureihe 611 und Baureihe 612 der DB
[Bearbeiten] Auswirkungen
Die Neigetechnik ermöglicht es Zügen, sich wie ein Motorradfahrer mit bis zu 8° Neigung in die Kurve zu legen. Dadurch wirkt der Zug den Fliehkräften entgegen und kann mit bis zu 30 % höherer Geschwindigkeit durch Kurven fahren, ohne dass der Fahrkomfort der Fahrgäste durch erhöhte Seitenbeschleunigung (Zentrifugalkraft) beeinträchtigt wird. Ziel der Neigetechnik ist es also lediglich, den Komfort für die Fahrgäste zu erhöhen, die Fahrwerksphysik bleibt jedoch gleich – an sicherheitsbedingten Geschwindigkeitsbeschränkungen ändert die Technik nichts.
Durch die Neigetechnik werden auf kurvenreichen Strecken die Reisezeiten verkürzt. Beispielsweise führt der Einsatz von Neitech-Zügen der Baureihe 612 auf der Strecke Chemnitz–Leipzig zu einer Reduzierung der Reisezeit von 59 Minuten auf 52 Minuten. Zudem ermöglicht es diese Technik, zum Teil auf teure Neubautrassen zu verzichten, da auf den alten Trassen höhere Geschwindigkeiten möglich sind.
[Bearbeiten] Nebenwirkungen
Ein europäisches Forschungsteam im Fachmagazin Current Biology (Ausg. 11) weist darauf hin, dass während einer Studie bis zu 30 % der Passagiere Anzeichen von Seekrankheit aufwiesen. Dies erklärt man sich durch die Bewegung des Horizonts (aus der Sicht des Passagiers) während der Kurvenfahrt.
Angeblich kann man das Problem vermeiden bzw. lindern, wenn man 1. am Gang und 2. in Wagenmitte (im Längsschnitt gesehen) sitzt. Außerdem sollten anfällige Personen nicht entgegen der Fahrtrichtung sitzen.
[Bearbeiten] Geschichte
Die Idee neigefähiger Züge ist bereits in den 1940er Jahren in den USA entstanden. Bereits in den 1970er Jahren wurden die ersten Versuche auf rein mechanischer Basis mit dem Talgo Pendular gemacht. Ursprünglich eine deutsche Entwicklung, wurde die Neigetechnik in Italien kultiviert, während die Deutsche Bundesbahn und die von ihr maßgeblich bestimmte deutsche Bahntechnikindustrie kein Interesse mehr zeigte, nachdem sich verschiedene Triebwagenbaureihen (darunter die Dieseltriebzüge der Baureihe 634 und Baureihe 614) mit einer auf der damals neuen Luftfederung basierenden Neigetechnik als Fiasko erwiesen hatten. Der in der gleichen Zeit entwickelte Schnelltriebwagen der Baureihe 403 enthielt dagegen nie eine Neigetechnikausrüstung, obwohl diese in der Entwicklung geplant war. In Italien und auch Schweden (X2000) waren die Pendolino-Züge dagegen rasch erfolgreich, so dass auch in Deutschland das Interesse an dieser Technik erwachte. Der erste deutsche Neitech-Zug Baureihe 610 verkehrte 1992 zwischen Nürnberg und Hof.
[Bearbeiten] Weblinks
- Grundsätze der Trassierung: Neigetechnik (von der TU Wien)
- http://www.bogenschneller.de – Informationen über Neigetechnik (mit Bildern)