Stiller (Max Frisch)
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Stiller gilt als einer der wichtigen Romane des 20. Jahrhunderts, der dem Schweizer Schriftsteller Max Frisch 1954 zum Durchbruch verhalf. Die in diesem Werk in Tagebuchform behandelte Identitätsproblematik nimmt auch in den anderen Romanen Frischs eine Schlüsselfunktion ein.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Inhalt
James Larkin White aus New Mexiko wird auf der Durchreise in der Schweiz verhaftet und in ein Zürcher Gefängnis verbracht. Es heisst, er sei der verschollene Bildhauer Anatol Ludwig Stiller, der verdächtigt wird, in eine Spionageaffäre zugunsten Rußlands verwickelt zu sein. Im Laufe der Haft trifft er auf Menschen aus der Vergangenheit Stillers: dessen Frau Julika Stiller-Tschudy, die ehemalige Geliebte Sibylle (deren Gatte Rolf ein Staatsanwalt ist), den Bruder und die Freunde Stillers. Im Laufe der Zeit erhärtet sich der Verdacht, dass White tatsächlich der verschollene Stiller ist, so dass er am Ende des Romanes dazu verurteilt wird, seine alte Rolle weiter zu spielen. Er lebt fortan mit Julika in Glion am Genfer See von seinen Töpferarbeiten. Zwei Jahre später stirbt Julika am Ostermontag an Tuberkulose.
[Bearbeiten] "Erstes Heft"
Der Roman beginnt mit dem Satz: "Ich bin nicht Stiller! ". Der anfangs namenlose Protagonist schreibt während seiner Haft in einem Zürcher Gefängnis auf Wunsch seines Verteidigers sein Leben auf. Dieser erhofft sich, aus diesem Aufschreib Informationen zu seinem Mandanten. Stiller/White wurde verhaftet, da er einen Polizisten ohrfeigte, der seinen Pass prüfen wollte. Zu seinen ständigen Kontaktpersonen gehören in dieser Zeit sein Wärter Knobel sowie sein Offizialverteidiger Dr. Bohnenblust. James Larkin White, so der Name der Person, die man für Stiller hält, beginnt damit, Knobel Mordgeschichten zu erzählen, welche dieser für durchaus wahrheitsgetreu empfindet. Damit stellt er für White einen aufmerksamen Zuhörer dar. Knobel ist zu dieser Zeit, im Gegensatz zu White's Verteidiger, der Einzige, welcher ihm die Identität Stillers nicht aufzwingt. Sein Verteidiger benennt ihn, entgegen jeglicher Versuche Whites nicht als Stiller bezeichnet zu werden, als denselben und verhindert somit das Zustandekommen eines wahren Gespräches zwischen ihm und seinem Mandanten. Es werden einige Photos von White gemacht um sie Stillers Gemahlin Julika Stiller-Tschudy zwecks einer Identifizierung ihres Gatten nach Paris zu schicken. Anders als in Dr. Bohnenblust findet White in seinem Staatsanwalt einen offenen und interessierten, aber dennoch skeptischen Gesprächspartner, welcher Whites Aussage, er sei der Mörder seiner Ehefrau, sofort versteht.
Zwischenzeitlich erhält der Gefangene einen Brief von Stillers Bruder Wilfried, in dem dieser die Absicht ankündigt, ihn zu besuchen. White erzählt seinem Verteidiger Erlebnisse seines Mexiko-Aufenthaltes. Frau Julika Stiller-Tschudy besucht den Erzähler erstmals in seiner Zelle, wobei dieser sich weiterhin weigert Stiller genannt zu werden. Als White fühlt er sich (wie einst Stiller) von Julika angezogen. Inzwischen hat sein Verteidiger einen Lokaltermin in Stillers verlassenem Atelier angeordnet, doch es kommt zunächst zu einem Besuch des Sanatoriums in Davos, wo Stiller Julika damals besucht hatte. Julika hinterlegt eine Kautionssumme, welche es dem Gefangenen ermöglicht, an ihrer Seite das Gefängnis befristet zu verlassen. Sie machen daraufhin einige gemeinsame Spaziergänge und es kommt zu einer Liebeserklärung an Julika, Stiller /White geht nun seinerseits zum künftigen "Du" in ihrer Beziehung über.
Am Ende des ersten Heftes deutet Stiller/White anlässlich des Selbstmordes eines jüdischen Häftlings eigene Erfahrungen mit diesem Thema an.
[Bearbeiten] "Zweites Heft"
Der Verteidiger kann nach der Lektüre des ersten Heftes nichts damit anfangen - dennoch schreibt White/Stiller weiter. Er gibt im zweiten Heft seiner Aufzeichnungen das wieder, was er von Julika über ihr Leben mit Stiller erfährt: Dieser hat Julika im Ballett kennengelernt, als sie 23 Jahre alt war und als hoffnungsvolles Talent galt. Die beiden heiraten. Doch Stiller hat mit seiner Arbeit nicht den erhofften Erfolg und als Julika trotz ihres Tuberkulose-Leidens hart an ihren Ballettkünsten feilt, kommt es zu Differenzen zwischen den beiden. Sie sind durch ihre Ängste aneinander gebunden, entfernen sich dadurch aber auch voneinander: Julikas Frigidität lässt sie sich vor protzender Männlichkeit fürchten - sie schätzt Stiller als brüderlichen Gefährten. Stiller dagegen wird von Versagensängsten geplagt und sucht seine Bewährung bei Julika.
Als nun eine anonyme Rivalin Stiller zu umwerben scheint, muss Julika wegen ihres Lungenleidens Aufenthalt in Davos nehmen. In dieser Zeit wachsen Stillers Schuldgefühle gegenüber Julika. Gelegentlich kommt Streit auf ums Geldausgeben. Es fällt auf, wie egozentrisch Stillers Wesen ist, so fühlt er sich beispielsweise wie von Feinden umgeben, wenn Freunde ihn wohlmeinend darauf ansprechen, wie ungerecht er Julika teilweise behandelt. Julika findet in einem jungen Jesuiten, der Patient des Sanatoriums ist, für kurze Zeit einen teilnahmsvollen Gesprächspartner, der ihr auch vom Bildnisverbot erzählt. In dieser Zeit verspürt Julika auch libidinöse Regungen und träumt von fremden Männern.
Stiller besucht sie sehr selten und macht ihr, nachdem sie aus Davos zu fliehen versucht hatte, in einem lieblosen Brief statt Hoffnung unbegründete Vorwürfe. Als er sie nach drei Wochen besuchen kommt (es ist Stillers letzter Kontakt zu ihr), erzählt er lediglich über sich selbst einschließlich der Spaniengeschichte, welche an dieser Stelle vom Erzähler nachgereicht wird. (Stiller btrachte es als freiwilliger Soldat nicht über sich, drei spanische Soldaten aus einem Hinterhalt heraus zu erschießen, und redet sich vor Zuhörern mit dem angeblichen Versagen seines russischen Gewehrs heraus.) Er offenbart ihr den Bruch seiner Beziehung zu Sibylle und möchte Julika in diesem Zusammenhang nun auch endgültig verlassen.
[Bearbeiten] "Drittes Heft"
Mit verschiedenen Mitteln versucht man Stiller/White von seiner wahren Identität zu überzeugen. Dieser erzählt dem Wärter Knobel inzwischen eine abenteuerliche Geschichte, die er angeblich in den USA erlebt habe: Als Cowboy entdeckt James Larkin White eine riesige unterirdische Tropfsteinhöhle, welche er mit seinem Freund erkundete. Doch als sich dieser (in der 67sten Stunde ihres Unternehmens) den Fuß bricht, kommt, aus Angst voreinander, eine tödliche Feindschaft zwischen ihnen auf, welche letztendlich zu einem erbitterten Ringkampf zwischen den beiden führt, aus dem Jim White als Sieger hervorgeht. Auf Knobels Frage, ob er denn wirklich Jim White sei, weicht der Erzähler zum ersten Mal verbal von dieser Fiktion ab.
Julika besucht den Erzähler häufig und sie verbringen einige gemeinsame Nachmittage. Der Erzähler berichtet von einem Traum, in dem er von einem Offizier als Mitrailleur Stiller bezeichnet wird. Auch der Pass auf den Namen White, welchen der Erzähler am Bahnhof bei sich gehabt hat, erweist sich als unecht. Es ist an dieser Stelle fast sicher, dass White und Stiller ein und dieselbe Person sind. Der Erzähler hat einige Konversationen mit seinem Staatsanwalt (Sibylle ist dessen Gattin).
Er tischt seinem Staatsanwalt und inzwischen Freund eine Lügengeschichte über Stillers angeblich verstorbenen Vater auf. Selbst Knobel nennt White inzwischen Stiller, ein weiteres Indiz für dessen zunehmende Unglaubwürdigkeit.
[Bearbeiten] "Viertes Heft"
White/Stiller gibt wieder, was ihm Rolf über seine Ehe mit Sibylle erzählt: Rolf, Stillers Staatsanwalt, erzählt Stiller von seinem Genua-Aufenthalte: seine Frau Sibylle hatte offensichtlich ein Verhältnis mit einem Fremden, wollte dies jedoch noch nicht zugeben. Nur um irgendwie weg zu kommen, ist Rolf nach Genua gefahren, fällt dort aber einer Gaunerei zum Opfer, ein amerikanischer Marinesoldat muss einen Ballen Stoff loswerden, kann aber kein Italienisch, Rolf muss dolmetschen. Als nun der Italiener, welcher Interesse an dem Stoff zeigt, zuwenig Geld dabei hat, bittet er Rolf, auf ihn zu warten. Der Soldat muss zwischenzeitlich schnell auf sein Schiff, Rolf legt das Geld aus, wartet mit dem Ballen auf den Italiener, der nicht mehr kommt. Der Stoff erweist sich als unverkäuflich, von schlechter Qualität, endet in einer Herrentoilette. Rolf macht sich in dieser Zeit Gedanken über seine Ehe, die er immer so geplant hatte, was ihn dazu verführte, sich über Differenzen in selbiger den Kopf nicht zu zerbrechen. Rolf kehrt nach Hause zurück, wo er sogleich damit beginnt, seinen Architekten, der dabei ist ihr (Rolfs und Sibylles) neues Heim zu erschaffen, der Liebschaft mit seiner Frau zu verdächtigen. Rolf ist zu diesem Zeitpunkt noch kein Staatsanwalt, wird jedoch später zu diesem ernannt. Einmal hat er telefonisch Kontakt mit Stiller, welchen er als den "Maskenball-Pierrot", der Sibylles Liebhaber zu sein scheint, identifiziert. Es zeigt sich immer mehr der Scheidungswille bei Sibylle, sie ist hin- und hergerissen zwischen Rolf und Stiller. Sie wandert schließlich mit ihrem Sohn Hannes in die USA aus.
[Bearbeiten] "Fünftes Heft"
Der Verteidiger Stillers organisiert ein Treffen mit Kritikern von dessen Kunst. Stiller bekommt Besuch von einem Ehepaar, dessen homosexueller Sohn - ein Pianist - sich tötet und der zuvor ein ausführliches Gespräch mit Stiller geführt hatte, und soll deren Fragen beantworten. Wie so oft rettet er sich in Ausflüchte. Er träumt von Julika, die um Erlösung von einem Zwang fleht und besucht Sibylle in der Frauenklinik. Ein Zahnarztbesuch kann Stillers Identität nicht lüften, da der alte Praxisinhaber verstorben ist und der neue ihn nicht kennen kann.
White entwirft ein Bild von Stiller als einen Menschen, der in seinem Minderwertigkeitsgefühl und Moralismus nicht bereit ist, sich selbst anzunehmen.
[Bearbeiten] "Sechstes Heft"
White/Stiller schreibt in diesem Heft nieder, was ihm Sibylle von ihrer Liebschaft mit Stiller erzählt hat. Stiller war Sibylle der Ausgleich zu ihrem allzu selbstsicheren Mann Rolf. Bei ihrem ersten Beisammensein stellt sich Stiller als Versager dar. Sibylle besucht ihn in seinem Atelier und er erzählt ihr unter anderem die "Spaniengeschichte", welche Sibylle hinterher zu deuten versucht. Dies missfällt Stiller offensichtlich, er kann nicht mit ihr übereinstimmen. Später unternehmen sie noch einen nächtlichen Ausflug und verbringen die Nacht gemeinsam. Sibylle gesteht Rolf ihr Verhältnis zu Stiller worauf Rolf verreist. Sie beschließt sich mit Stiller nach Paris zu begeben, dieser möchte jedoch zuvor Julika einen längst fälligen Besuch im Sanatorium abstatten.
Sibylle leidet unter der scheinbaren Gleichgültigkeit ihres Ehemanns gegenüber der Beziehung zu Stiller. Sie wird schwanger von Stiller, was dieser jedoch nicht erfährt. Sibylle treibt , enttäuscht von Stiller, heimlich ihr Kind ab, so dass auch Rolf niemals etwas davon erfahren wird. Es kommt zu einer verbalen Konfrontation zwischen den Ehepartnern, die für Sibylle jedoch nicht die erhoffte Lösung bringt.
Es kommt schließlich zum Verwürfnis zwischen Sibylle und Stiller und sie trennt sich auch von Rolf.Daraufhin reist sie mit ihrem Sohn Hannes nach Amerika, wo sie eine gutbezahlte Stelle findet und wohnhaft wird. Mehrmals meint sie, Stiller in New York gesehen zu haben. Amerika beginnt ihr zu gefallen, dennoch vermisst sie die "europäische Atmosphäre" mit ihrer "menschlichen Wärme" und ihrem Gefühlswert. Als Rolf sie unerwartet besucht, versöhnen sie sich.
[Bearbeiten] "Siebtes Heft"
Für den Erzähler nur wichtig, von Julika nicht verwechselt zu werden. Rolf eröffnet ein Gespräch mit dem Satz. "Die weitaus meisten Menschenleben werden durch Selbstüberforderung vernichtet." Es geht um Lebenslüge und Selbstentfremdung, Selbstüberforderung und Selbstannahme; das Wort "Den lieb ich, der unmögliches begehrt" aus Faust II steht in Rede, ebenso wie Selbsterkenntnis und die Existenz einer absoluten Realität, die menschlicher Deutung entzogen bleibt. Stiller fragt sich, warum Rolf das Wort "Gott" konsequent vermeidet. Er bekennt sich zum Motiv seiner Wünsche und Hoffnungen: "Ich bin ganz einfach nicht bereit, ein nichtiger Mensch zu sein."(S.320) Julika, mittlerweile wieder den Umständen entsprechend lebensfähig, weilt noch immer in Paris.
Stiller besucht gemeinsam mit Wilfried das Grab der vor vier Jahren verstorbenen Mutter. Sie sprechen über ihre Erinnerungen. Gegenüber Bohnenblust verweigert Stiller plötzlich das Bekenntnis seiner Identität. Er wartet auf einen Brief von Julika. Freunde von früher suchen Stiller im Gefängnis auf; er spricht sie mit dem unvertrauten "Sie" an und empfindet sich "nicht wirklich als ihren Freund" (S.329). Er träumt, Julika habe ihn verraten. Er muss in einem Lager als Häftling Fotos an Baumstämme zwecken, er tut dies auch mit einem Foto von Julika. Stiller nennt Julika, in einer einem Tagtraum ähnelnden Erinnerung, eine Frau, "die noch nie geliebt worden ist und noch nie geliebt hat".(S.336) Er beschließt, Julika seine Liebe zu gestehen, gesetzt den Fall, wenigstens sie hält ihn nicht für den verschollenen Stiller. Stiller bekommt Mitteilung durch seinen Verteidiger, dass das Plädoyer fertig sei. Bei einer Befragung durch seinen Staatsanwalt erkennt Stiller in dem Direktor Schmitz den "Haarölgangster", den er, nach einer seinem Wärter Knobel erzählten Geschichte, angeblich auf Jamaika ermordet habe, wieder. Schmitz hatte ihm seinerzeit das halbe Honorar für eine Auftragsarbeit vorenthalten und den völlig Mittellosen auf den Klageweg verwiesen, wohl wissend, dass dafür kein Geld vorhanden war.
Rolf kündigt einen Lokaltermin in Stillers Atelier an. Er plädiert an Stiller, seine Identität bereits vor der Verhandlung auszusprechen. Stiller erwidert: "Wenn sie mein Freund sind, müssen sie auch meinen Engel in Kauf nehmen."(S.351) Was er mit dem Engel meint, kann er nicht erklären, denn "...sobald ich ihn zu schildern versuche, verläßt er mich..."
Am Nachmittag im Atelier findet sich alles so, wie es Sibylle beschrieben hatte. Nachdem man seinen Vater hereinführt, verwüstet Stiller, im Zuge eines aus dieser unverschämten Geste des Verteidigers resultierenden Tobsuchtsanfalls, fast das gesamte künstlerische Werk des Verschollenen. Er sieht Julikas Verhalten als Verrat an, da sie sich auf die Seite der Gesellschaft stellt: sie kann den veränderten Stiller nicht annehmen.
Es folgt eine Kernstelle des Romans. Aus dem Gefühl heraus gegenüber dem Lauf der Dinge ohnmächtig zu sein, gesteht Stiller ein: Vor zwei Jahren hatte er versucht sich das Leben zu nehmen. Ein Streifschuss hatte ihn verletzt, und er lernte das schreckliche Gefühl kennen, "plötzlich nichts mehr zu können", auch nicht zu sterben.(S.375) Für den damals Achtunddreißigjährigen war der Misserfolg des Suizid-Versuchs gleichzeitig der Beginn eines neuen Lebens.
Das gerichtliche Urteil lautet wie erwartet: Stiller hat Stiller zu sein und außerdem einen durch Mahnungen und Gerichtskosten entstandenen Geldbetrag zu bezahlen. Er legt keine Berufung ein.
[Bearbeiten] "Nachwort des Staatsanwalts"
Der Staatsanwalt veröffentlicht Stillers Aufzeichnungen im Gefängnis. Er berichtet in diesem Nachwort alles Weitere nach Stillers Verurteiluung. Er nennt Stillers Verstummen in der Freiheit den entscheidenden Schritt zu seiner inneren Befreiung, der Befreiung von der Sucht, überzeugen zu wollen.
Stiller wird kurz nach der Verhandlung frei gesprochen, nachdem der Verdacht, dass er in die Smyrnow-Affäre verwickelt sein könnte, fallen gelassen wurde.
Zusammen mit Julika wohnt er zunächst in einer kleinen Pension am Genfer See (in Territet). Später ziehen Stiller und Julika in ein kleines Chalet in Glion, von dem er Rolf als "das Haus unseres Lebens" berichtet. Stiller beginnt zu töpfern, während Julika als Lehrerin für rhythmische Gymnastik arbeitet. Bei einem Besuch kommt es zu einem Gespräch zwischen Julika und Rolf. Dieser ist von Julikas Kühle befremdet. Sie gesteht ihm, dass sie sich operieren lassen muss und dabei ihren linken Lungenflügel verlieren wird. Allerdings weiß Stiller nichts von ihrem brisanten Gesundheitszustand.
Sibylle und Rolf besuchen Stiller erneut in Glion, als Julika operiert wird. Stiller und Rolf führen ein Nachtgespräch bei viel Wein und Stiller beklagt sich über Julikas Unfähigkeit, seine Liebe zu erwidern. In diesem nächtlichen Gespräch zwischen Rolf und Stiller bekennt dieser: "Ich habe diesen Menschen (Julika) kaputtgemacht..."(S.414) Er ist überzeugt: "....sie will sterben!"(S.416) Stiller's Fazit aus ihrer Beziehung: "Ein gegenseitiges Opfer, wobei beide draufgehen".(S.420)
Am nächsten Morgen fährt Rolf auf Stillers Wunsch in die Klinik - Julika ist gestorben. Stiller nimmt die Nachricht mit der Gefasstheit eines Geistesabwesenden entgegen.
Der Roman endet mit den Worten: "Stiller blieb in Glion und lebte allein".(S.432)
Die Wirklichkeit der Literatur über den Roman "Stiller" von Max Frisch: "Ich bin nicht Stiller". Den Satz notierte sich Max Frisch, als er 1954 nach einem einjährigen Amerikaaufenthalt in die Schweiz zurückkehrte und, wenn wir seinen damaligen Aufsätzen über die schweizerische Enge und Kleinlichkeit glauben dürfen, der Heimat recht überdrüssig war, um diese Beteuerung an den Anfang eines schon fast fertigen Manuskripts zu stellen, worin man romanhaft von einen Amerikareisenden, angeblich Schweizer Künstler, erfahren konnte und dessen Verdruss mit dem heimatlichen Staat. Das Buch mit dem Titel "Stiller" beweist dann beides: Dass der Ich-Erzähler von Anfang an Stiller ist, obwohl er dies so energisch leugnet, und bis zum traurigen Ende Stiller bleibt, nämlich eine Rollenperson, deren Entwürfe für ein "wirkliches Leben" ständig von der Umwelt und ihr selbst ans literarische Klischee verraten werden.
[Bearbeiten] Aufbau und Stil
Der Roman besteht aus den sieben Heften mit Stillers Aufzeichnungen im Gefängnis und dem Nachwort des Staatsanwaltes. Der Roman hat demnach zwei Erzähler. Der Stiller kann als Roman mit einem Ich-Erzähler betrachtet werden, auch wenn die Hauptperson, eben Stiller, nie offiziell ich sagt - weder im zweiten Teil, wo eine Nebenfigur (Rolf) den Text redigiert, noch im ersten Teil des Romans, wo sich der Ich-Erzähler mit der Hauptperson deckt, diese aber bekanntlich nicht sein will. Die Titelfigur erscheint durchweg in der Er-Form. Im Tagebuch schreibt nie ein Stiller über sich selbst, so dass in Stillers Aufzeichnungen eigentlich nur Stillers Schweigen erzählt wird - als Widerstand dagegen, sich selbst zu erzählen (vgl. hierzu Albarella, S. 82 ff.). Darin besteht eine der Ironien des Textes.
Stiller entpuppt sich als ein alles andere als olympischer Erzähler. Die Eintragungen in sein Tagebuch wirken ungeordnet und sprunghaft. Stiller erzählt vielschichtig, mischt Orte und Zeiten ohne erkennbare Logik. Rolf dagegen fällt durch seine Klarheit und Ordnung auf. Seine Erzählweise ist eindimensional und chronologisch geordnet.
Das über weite Strecken gebrauchte Präsens wirkt in Bezug auf die Tagebuchform entfremdend - sind Tagebücher doch zumeist in Vergangenheitsformen verfasst. Insgesamt erscheint es lohnend, die Tempuswechsel innerhalb des Erzählgefüges genauer zu betrachten.
Die sieben Hefte Stillers gliedern sich folgendermaßen:
- in den Heften I, III, V und VII berichtet Stiller tagebuchartig darüber, was er während seiner Gefangenschaft erlebt und welche Gedanken er sich dazu macht.
- die Hefte II, IV und VI geben protokollartig wieder, was Julika, Rolf und Sibylle ihm erzählen.
Der Staatsanwalt ist es, der Stillers Aufzeichnungen herausgibt, nachdem dieser sie ihm im Winter vor Julikas Tod zuschickt. Das Nachwort setzt die Reihe der Hefte II, IV und VI fort und sein Autor gibt ihm einen gewissen Protokollcharakter. Rolf erscheint im Nachwort als Stillers Freund und nimmt nicht mehr die Rolle des Vertreters der Gesellschaft ein.
[Bearbeiten] Erzählsituation
In Stillers Aufzeichnungen im Gefängnis spricht durchweg jenes Ich, das in seinem ersten Satz gleich betont: Ich bin nicht Stiller! Da der erste Teil des Romanes bereits als "Stillers Aufzeichnungen im Gefängnis" betitelt sind, erscheint das Erzähler-Ich von vorneherein als gespalten: in das vorgespielte (=fingierte) Ich Whites und in das verdeckte (=latente) Ich Stillers. So kommt es auch, dass White (der in dieser Form erst seit 2 Jahren, sprich seit dem Selbstmordversuch, existiert) nicht in der Lage ist, sein Leben aufzuschreiben. Das latente Ich Stillers hätte zwar eine Lebensgeschichte, allerdings kann White nur in der Er-Form darüber berichten.
Beides, die Einträge über das Leben in der Untersuchungshaft sowie die Protokolle der Erzählungen Julikas, Rolfs und Sibylles, werden durch die Perspektive des fremden Blickes geprägt.
Auf diese Art kommt es zu einem Verfremdungseffekt: es wird die Illusion zerstört, dass die erzählte Geschichte wirklich passiert sei. Als Effekt stellt sich hier die Polyperspektive ein - also die Häufung von Perspektiven, in denen bestimmte Episoden erscheinen. So wird Stillers Liebschaft mit Sibylle aus der Sicht Julikas, Rolfs und Sibylles dargestellt. Dazu kommt, dass der Protokollant selbst die Geschichte auch miterlebt hatte, so dass seine Perspetive ebenfalls in den Text mit einfließt.
Im Nachwort des Staatsanwaltes ist ein peripheres Ich die Erzählinstanz - Rolf steht nur am Rande dessen, was er berichtet. (vgl. dazu auch Rothenbühler, S. 46 ff.)
[Bearbeiten] Chronologie des Romans
Die Aufzeichnungen Stillers im Gefängnis umfassen eine Zeitspanne von ca. zehn Wochen im Herbst 1952, das Nachwort des Staatsanwaltes erzählt von den darauf folgenden zweiundeinhalb Jahren bis zu Julikas Tod an Ostern 1955. Auffällig ist hierbei der unterschiedliche Maßstab, mit dem erzählt wird: Siller erzählt stark vergrößernd, sozusagen mit Zeitlupe, während Rolf im Zeitraffer erzählt. Dies kommt daher, dass der erste Teil als Tagebuch angelegt ist, der die Innensicht des Betroffenen (Stiller/White) wiedergibt, während der zweite Teil von Außen erzählt wird: der Staatsanwalt berichtet von einem anderen Leben.
Innerhalb des Romas lassen sich folgende Zeit- und Handlungseinheiten rekonstruieren:
vor 1945: Vorgeschichte und Ehe mit Julika
1937: erstes Zusammentreffen mit Julika
1938: Heirat Stiller/Julika
1945: Erste Hauptgeschichte (Ehekrise)
Sommer 1945: Julika in Davos/Liebschaft Stillers mit Sybille
August 1945: erster Besuch Stillers in Davos
September 1945: Der Jesuit stirbt; Rolf wird Staatsanwalt; Sibylle lässt Stillers Kind abtreiben
November 1945: Stiller trennt sich von Julika und Sibylle
Dezember 1945: Sibylle reist in die USA
1946-1952: Stiller in Amerika
Anfang 1946: Stiller in New York
1945-1952: Stiller lebt in den USA und Mexiko
18. Januar 1946. Smyrnow-Affäre
1950: Selbstmordversuch Stillers
1952: Gefängnis
Herbst 1952: Verhaftung und Untersuchungshaft Stillers
1952-1955: Das neue Leben
Winter 1952/53: Stiller und Julika in Territet
Februar 1953: Besuch Rolfs und Sibylles in Territet
Sommer 1953: Umzug ins Chalet in Glion
Oktober 1954: Erster Besuch Rolfs und Sibylles in Glion
[Herbst 1954: Publikation des Stiller]
Winter 54/55: Stiller schickt Rolf seine Aufzeichnungen
März 1955: Operation Julikas, Zweiter Besuch Rolfs und Sibylles
Ostermontag: Tod Julikas
nach dem Frühjahr 1955: Entstehung des Nachwortes
[Bearbeiten] Interpretationsmöglichkeiten
Zentrale Themen des Romans:
- gelebtes Leben (Ich) gegenüber von außen gegebenen Rollen und Klischees (Bildnis)
- unvermeidbare Wiederholungen, in schon Erlebtem oder Gesagtem zu leben
- Bewährung in Beziehungen oder in vermeintlichen Taten
- Ironie von Selbstverfehlung und Selbstüberführung
- Erzählbarkeit bzw. Nicht-Erzählbarkeit des Lebens und Gier nach Geschichten
- das "Unsagbare", das sich nur umschreiben lässt
(vgl. Rothenbühler, S. 29)
Der tödliche Ausgang des Romanes erscheint unausweichlich: Julika, die an Ostern stirbt, bezahlt mit ihrem Tod dafür, dass sie Stiller nicht als verwandelt akzeptieren und lieben kann. Sie kann ihn nicht aus dem Bildnis befreien, das sie sich von ihm gemacht hat - dadurch steht sie auf der Seite der Gesellschaft und nicht auf der ihres Mannes.
"Die damit über Stiller hereinbrechende letzte Einsamkeit, von der der Schlußsatz des Nachwortes spricht, ist ebenso wie sein Verstummen die geradlinige Folge der früher gefallenen Entscheidung; Julikas Verrat ist die Peripetie einer Tragödie, die beide in die Katastrophe hineinzieht. Der Ausgang bestätigt, daß die Träume während Stillers Untersuchungshaft, die etwas von einer wechselseitigen Kreuzigung wußten, die Wahrheit vorausgesagt haben." (Naumann, S. 162)
[Bearbeiten] Parabelhafte Geschichten
Innerhalb der Aufzeichnungen im Gefängnis sind drei kleinere Geschichten zu finden:
- die Geschichte von Isidor, dem Apotheker
- das Märchen von Rip van Winkle
- die Höhlengeschichte des echten James Larkin White
Zweck dieser Geschichten und Märchen ist es, parabelhaft auf die eigene Situation hinzuweisen. Stiller/White kann seine Wahrheit nicht einfach in Worten ausdrücken, daher drückt er sie als erweiterten Vergleich aus. Stiller möchte so seine einzigartige Existenz indirekt und probeweise ausdrücken. Mit den Geschichten, die er erzählt, versucht er die Vision eines neuen Selbst unversehrt zu bewahren und den Versuchen der Gesellschaft zuvor zu kommen, die ihr festes Bildnis des verlorengegangenen Mitbürgers wieder aufzunehmen wünscht.
[Bearbeiten] Frischs geistige Wurzeln
Im Stiller sind eine Fülle von intertextuellen Verweisen zu finden. Eine Sonderstellung dürfte hierbei die Philosophie des Dänen Sören Kierkegaard einnehmen. Frisch stellt seinem Roman zwei Motti voran, die der Schrift "Entweder-Oder" (1843) entstammen.
Neben Kierkegaard sind an dieser Stelle Bezüge auf die Bibel, zu Thomas Mann, C. G. Jung, Ludwig Klages, Albin Zollinger und Bertolt Brecht zu nennen.
[Bearbeiten] Entstehungsgeschichte
Anfang 1953 hat Frisch die Idee zum Stiller und greift bei der Niederschrift auf Manuskripte zurück, die er 1951-1952 in den USA und Mexiko verfasst hatte. Frisch stellt den Stiller im Frühjahr 1954 am Genfer See, in der Nähe von Glion, fertig. Das Werk wurde 1954 erstmals im Suhrkamp-Verlag veröffentlicht. Der berühmte erste Satz "Ich bin nicht Stiller" wird erst in der Fahnenkorrektur eingefügt (vgl. Rothenbühler, S. 30).
Es existieren mehrere Vorstufen des Stillers, deren Einfluss im Roman erkennbar ist: so können an dieser Stelle Frischs Roman "Die Schwierigen", das "Tagebuch 1946-1949" sowie mehrere Reiseberichte aus den USA und Mexiko genannt werden.
[Bearbeiten] Wirkungsgeschichte
Stiller war für Frisch der Durchbruch als Romanschriftsteller. Das Werk wurde in mehrere Fremdsprachen übersetzt und mit Literaturpreisen wie dem Grossen Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung oder dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet.
[Bearbeiten] Sonstiges
Stiller war der erste Roman, den der Suhrkamp-Verlag veröffentlichte. Aus Anlass des fünfzigsten Jubiläums der Erstausgabe veröffentlichte der Suhrkamp-Verlag im September 2004 eine Ausgabe, deren Aussehen an das der Originalausgabe 1954 angelehnt ist.
[Bearbeiten] Literatur
- Helmut Naumann: Max Frischs "Stiller" oder das Problem der Kommunikation, Rheinfelden/Berlin 1991, ISBN 3-87718-802-8
- Franziska Schößler und Eva Schwab: Max Frisch Stiller. Ein Roman, Oldenbourg Interpretationen Band 103, München 2004, ISBN 3-486-01414-5
- Rothenbühler, Daniel: Max Frisch: Stiller. Königs Erläuterungen und Materialien (Bd. 356). Hollfeld: Bange Verlag 2004. ISBN 978-3-8044-1813-4
- Paola Albarella: Roman des Übergangs. Max Frischs Stiller und die Romankunst um die Jahrhundertmitte, Wrzburg 2003, ISBN 3-8260-2478-8