Tagelied
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Das Tagelied, in den Romanischen Sprachen nach der "Weiße" des Morgengrauens benannt (okzitanisch Alba, altfranzösisch Aube), ist eine höfische Liedgattung der mittelalterlichen Lyrik, die primär inhaltlich definiert ist und die Situation des geheimen Beisammenseins und des Abschieds zweier Liebender beim Tagesanbruch nach einer vollbrachten Liebesnacht thematisiert.
Gemeinsam mit der Pastourelle, die das Zusammentreffen eines Ritters mit einer Schäferin niederen Standes schildert, ist das Tagelied ein Sonderfall in der höfischen Dichtung, insofern es nicht die entsagende, auf Aufschub und ethische Verfeinerung gerichtete Hohe Minne besingt, sondern die körperliche Vereinigung zuläßt und sogar in den Mittelpunkt stellt, wobei das Tagelied im Unterschied zur Pastourelle sein Thema nicht in derber und ironischer Weise behandelt, sondern das Glück der Vereinigung und den Schmerz über die bevorstehende Trennung zum Ausdruck bringt.
Das Tagelied wurden von den okzitanischen Trobadors und nordfranzösischen Trouvères als Gattung ausgebildet und von den mittelhochdeutschen Minnesängern übernommen und weiterentwickelt, wobei jeweils auch Elemente älterer volkstümlichen Liedgutes und Anknüpfungen an mittellateinische Dichtung zum Tragen kommen konnten. Das Tagelied verbindet erzählende mit monologischen und szenischen Elementen, vergegenwärtigt den Tagesanbruch durch charakteristische Motive wie das Morgenlicht, den beginnenden Gesang der Vögel und den warnenden Ruf der Wächter und verbindet den Ausdruck von Liebesglück und Trennungsschmerz mit der Klage über Neider und den eifersüchtigen Ehemann, die als Repräsentanten einer feindlichen Gesellschaft die Trennung der Liebenden erzwingen. Obwohl auch volkstümliche Elemente wie Refrain und Wächterruf aufgenommen werden und keine Bindung an ein festgelegtes formales Bauprinzip vorliegt, wird das Tagelied in der Regel mit formal anspruchsvoller Reim- und Strophentechnik durchgeführt.
In der mittelhochdeutschen Dichtung wird das mutmaßlich älteste überlieferte Tagelied Slâfest du, friedel ziere Dietmar von Aist zugeschrieben. Weitere wichtige Vertreter waren u.a. Heinrich von Morungen, Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide und später Oswald von Wolkenstein.
Anknüpfungen an das mittelalterliche Genre finden sich in moderner Zeit u.a. bei Rainer Maria Rilke, Ezra Pound, R. Boschart und Peter Rühmkorf.