Variationsrechnung
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Die Variationsrechnung ist eine Sparte der Mathematik, die um 1800 von Joseph-Louis Lagrange entwickelt wurde. Sie beschäftigt sich mit reellen Funktionen von Funktionen, die auch Funktionale genannt werden. Solche Funktionale können z. B. Integrale über eine unbekannte Funktion und ihre Ableitungen sein. Dabei interessiert man sich für stationäre Funktionen, also solche, für die das Funktional ein Maximum, ein Minimum oder einen Sattelpunkt annimmt. Einige klassische Probleme können sehr elegant mit Hilfe von Funktionalen formuliert werden.
Ein Beispiel ist das Brachistochronenproblem: Auf welcher Kurve in einem Schwerefeld von einem Punkt A zu einem Punkt B, der unterhalb, aber nicht direkt unter A liegt, benötigt ein Objekt die geringste Zeit zum Durchlaufen der Kurve? Von allen Kurven zwischen A und B minimiert eine den Ausdruck, der die Zeit des Durchlaufens der Kurve beschreibt. Dieser Ausdruck ist ein Integral, das die unbekannte, gesuchte Funktion, die die Kurve von A nach B beschreibt, und deren Ableitungen enthält.
Das Schlüsseltheorem der Variationsrechnung ist die Euler-Lagrange-Gleichung. Sie beschreibt die Stationäritätsbedingung eines Funktionals. Wie bei der Aufgabe, die Maxima und Minima einer Funktion zu bestimmen, wird sie aus der Analyse kleiner Änderungen um die angenommene Lösung hergeleitet.
Die Variationsrechnung ist besonders in der theoretischen Physik wichtig, so z. B. im Lagrange-Formalismus der klassischen Mechanik bzw. der Bahnbestimmung, in der Quantenmechanik in Anwendung des Prinzips der kleinsten Wirkung und in der statistischen Physik im Rahmen der Dichtefunktionaltheorie. In der Mathematik wurde die Variationsrechnung z. B. bei der Riemannschen Behandlung des Dirichlet-Prinzips für harmonische Funktionen verwendet. Auch in der Steuerungs- und Regelungstheorie findet die Variationsrechnung Anwendung wenn es um die Bestimmung von Optimalreglern geht.
Die Methoden der Variationsrechnung tauchen bei den Hilbertraum-Techniken, der Morse-Theorie und bei der symplektischen Geometrie auf. Der Begriff Variation wird für alle Extremal-Probleme von Funktionen verwendet. Geodäsie und Differentialgeometrie sind Bereiche der Mathematik, in denen Variationen eine Rolle spielen. Besonders am Problem der minimalen Oberflächen, die z. B. bei Seifenblasen auftreten, wurde viel gearbeitet.
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[Bearbeiten] Ein Hilfsmittel aus der Analysis reeller Funktionen in einer reellen Veränderlichen
Im Folgenden wird eine wichtige Technik der Variationsrechnung demonstriert, bei der eine notwendige Aussage für eine lokale Minimumstelle einer reellen Funktion mit nur einer reellen Veränderlichen in eine notwendige Aussage für eine lokale Minimumstelle eines Funktionals übertragen wird. Diese Aussage kann dann oftmals zum Aufstellen beschreibender Gleichungen für stationäre Funktionen eines Funktionals benutzt werden.
Sei ein Funktional auf einem Funktionenraum X gegeben (X muss mind. ein topologischer Raum sein). Das Funktional habe an der Stelle ein lokales Minimum.
Durch den folgenden einfachen Trick tritt an die Stelle des "schwierig handhabbaren" Funktionals I eine reelle Funktion F(α), die nur von einem reellen Parameter α abhängt "und entsprechend einfacher zu behandeln ist".
Mit einem ε > 0 sei eine beliebige stetig durch den reellen Parameter α parametrisierte Familie von Funktionen . Dabei sei die Funktion x0 (d.h., xα für α = 0) gerade gleich der stationären Funktion x. Außerdem sei die durch die Gleichung
F(α): = I(xα)
definierte Funktion an der Stelle α = 0 differenzierbar.
Die stetige Funktion F nimmt dann an der Stelle α = 0 ein lokales Minimum an, da x0 = x ein lokales Minimum von I ist.
Aus der Analysis für reelle Funktionen in einer reellen Veränderlichen ist bekannt, dass dann gilt. Auf das Funktional übertragen heißt das
Beim Aufstellen der gewünschten Gleichungen für stationäre Funktionen wird dann noch ausgenutzt, dass die vorstehende Gleichung für jede beliebige ("gutartige") Familie mit x0 = x gelten muss.
Das soll im nächsten Abschnitt anhand der Euler-Gleichung demonstriert werden.
[Bearbeiten] Beispiel: Euler-Lagrange-Gleichung
Gegeben seien zwei Zeitpunkte mit te > ta und eine in allen Argumenten "genügend oft" stetig differenzierbare Funktion .
Als Funktionenraum X wird die Menge aller mind. zweimal stetig differenzierbaren Funktionen gewählt, die zum Anfangszeitpunkt ta und zum Endzeitpunkt te die fest vorgegebenen Orte xa bzw. xb einnehmen: x(ta) = xa, x(tb) = xb.
Mit der oben bereit gestellten Funktion G wird nun das Funktional durch die Gleichung
definiert. Gesucht ist diejenige Funktion , die das Funktional I minimiert.
Entsprechend der im vorhergehenden Abschnitt vorgestellten Technik untersuchen wir dazu alle differenzierbaren einparametrigen Familien , die für α = 0 durch die stationäre Funktion x des Funktionals gehen (es gilt also x0 = x). Genutzt wird die im letzten Abschnitt hergeleitete Gleichung
Hereinziehen der Differentation nach dem Parameter α in das Integral liefert mit der Kettenregel die Gleichung
Dabei stehen für die Ableitungen nach dem zweiten bzw. dritten Argument und für die partielle Ableitung nach dem Parameter α.
Es wird sich später als günstig erweisen, wenn im zweiten Integral statt wie im ersten Integral steht. Das erreicht man durch partielle Integration:
An den Stellen t = ta und t = tb gelten unabhängig von α die Bedingungen xα(ta) = xa und xα(te) = xe. Ableiten der zwei Konstanten nach α liefert . Deshalb verschwindet der Term und man erhält nach Zusammenfassen der Integrale und Ausklammern von die Gleichung
und mit xα(t) | α = 0 = x(t) die Gleichung
Außer zum Anfangszeitpunkt und zum Endzeitpunkt unterliegt xα(t) keinen Einschränkungen. Damit sind die Zeitfunktionen bis auf die Bedingungen beliebige zweimal stetig differenzierbare Zeitfunktionen. Die letzte Gleichung kann also nur dann für alle zulässigen erfüllt sein, wenn der Faktor im gesamten Integrationsintervall gleich null ist (das wird in den Bemerkungen etwas detaillierter erläutert). Damit erhält man für die stationäre Funktion x die Euler-Lagrange-Gleichung
die für alle erfüllt sein muss.
[Bearbeiten] Bemerkungen
Bei der Herleitung der Euler-Lagrange-Gleichung wurde benutzt, dass eine stetige Funktion a, die für alle mind. zweimal stetig differenzierbaren Funktionen b mit b(ta) = b(te) = 0 bei Integration über
den Wert Null ergibt, identisch gleich null sein muss.
Das ist leicht einzusehen, wenn man berücksichtigt, dass es zum Beispiel mit
eine zweimal stetig differenzierbare Funktion gibt, die in einer ε-Umgebung eines willkürlich herausgegriffenen Zeitpunktes positiv und ansonsten null ist. Gäbe es eine Stelle t0, an der die Funktion a größer oder kleiner null wäre, so wäre sie aufgrund der Stetigkeit auch noch in einer ganzen Umgebung (t0 − ε,t0 + ε) dieser Stelle größer bzw. kleiner null. Mit der eben definierten Funktion b ist dann jedoch das Integral im Widerspruch zur Voraussetzung an a ebenfalls größer bzw. kleiner null. Die Annahme, dass a an einer Stelle t0 ungleich null wäre, ist also falsch. Die Funktion a ist also wirklich identisch gleich null.
Ist der Funktionenraum X ein affiner Raum, so wird die Familie in der Literatur oftmals als Summe xα(t): = x(t) + αh(t) mit einer frei wählbaren Zeitfunktion h festgelegt, die der Bedingung h(ta) = h(te) = 0 genügen muss. Die Ableitung ist dann gerade die Gateaux-Ableitung des Funktionals I an der Stelle x in Richtung h. Die hier vorgestellte Version erscheint dem Autor etwas günstiger, wenn die Funktionenmenge X kein affiner Raum mehr ist (wenn sie z.B. durch eine nichtlineare Nebenbedingung eingeschränkt ist; siehe z.B. Gaußsches Prinzip des kleinsten Zwanges). Sie ist ausführlicher in [1] dargestellt und lehnt sich an die Definition von Tangentialvektoren an Mannigfaltigkeiten an (siehe auch [2]).
Vor allem in Physikbüchern wird statt oftmals kurz δI(x) geschrieben. Die Größe δI(x) wird dann als (erste) Variation des Funktionals I bezeichnet. Analoge Bezeichnungen werden auch für andere Variablen eingeführt, wie z.B. .
[Bearbeiten] Literatur
- [1] W. I. Smirnow, Lehrgang der höheren Mathematik, Teil (IV/1), 17. Auflage, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1990.
- [2] H. Fischer und H. Kaul, Mathematik für Physiker, Band 3, 1. Auflage, Teubner Verlag, Wiesbaden 2003.