Viktimismus
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Mit Viktimismus (engl. victimism) wird seit einiger Zeit eine Haltung oder eine Einstellung bezeichnet, die sich dadurch auszeichnet, sich selbst oder andere Personen, die man vertritt oder zu vertreten vorgibt, als Opfer (in einer sehr weit gefassten Bedeutung des Wortes) nicht nur von Rassismus, Sexismus, Faschismus, Kapitalismus, Neoliberalismus, Kolonialismus, sondern auch von Sozialstrukturen, Sozialen Rollen, Institutionen, Wissenschaften, Kultur, Erziehung, Sozialisation, Abhängigkeit, Co-Abhängigkeit, Sucht, Krankheit, anderen Personen, insbesondere aber europäischen oder aus Europa stammenden, auch schon verstorbenen Männern etc. zu betrachten.
In der Sicht der Kritiker und Skeptiker geht Viktimismus insbesondere einher mit Politischem Moralismus, d. h. dem "Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft" (Hermann Lübbe), mit "Soft Power", mit Feminismus, mit Multikulturalismus, mit zur Schau getragenem Antirassismus und mit Antifaschismus. Natürliche, zumindest aber naheligende Verbündete scheinen zudem Psychologisierung und Medikalisierung zu sein: Alle Opfer gelten in der Perspektive des Viktimismus als krank und bedürfen dringend der Therapie, während alle Täter einer systematischen Umerziehung unterworfen werden müssen.
"Um sich als Opfer aufzuspielen, darf man so ziemlich alles sein, nur nicht normal; normale Menschen müssen zahlen. An sie richtet sich ja der Kehrreim, der den Aufmarsch aller dieser Opfergruppen zu begleiten pflegt: "Wir, die Betroffenen, fordern ..." Das Opfer braucht den Täter wie die Luft zum Atmen. Ohne ihn läßt sich ja nicht anmelden, einklagen und durchsetzen, um was es dabei geht, der Anspruch nämlich auf Ersatz des Schadens. Um seinen Status zu genießen, braucht das Opfer den Schuldigen. Der wird so lang belagert und bedrängt, bis er sich selbst als Opfer fühlt. Dann ist das Spiel zu Ende." Konrad Adam: "Parade der Opfer", DIE WELT, 24. Juli 2006
Vertreter des Viktimismus dagegen sind der Auffassung, dass nur solche Personen, die sich selbst als Opfer verstehen oder von (beauftragten oder selbsternannten) Opfer-Vertretern als Opfer betrachtet werden oder (beauftragte oder selbsternannte) Opfer-Vertreter sind, beurteilen können, ob ihre Sicht adäquat ist und ob sie deshalb Restitution oder Kompensation beanspruchen können. Jede Kritik am Viktimismus ist in ihrer Sicht ipse eo illegitim und steht im Verdacht, Rassismus, Sexismus, Faschismus, Kapitalismus, Neoliberalismus, Kolonialismus etc. zumindest implizit zu unterstützen.
Gegner des Viktimismus betrachten gerade diese Entgegnung als den Paradefall einer Immunisierungsstrategie im Sinne von Hans Albert.
[Bearbeiten] Literatur
- Anstötz, Christoph, Hegselmann, Rainer, und Kliemt, Hartmut (Hrsg.): Peter Singer in Deutschland – Zur Gefährdung der Diskussionsfreiheit in der Wissenschaft: Eine kommentierte Dokumentation. Peter Lang, Frankfurt a. M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1995
- Baier, Annette, "Violent Demonstrations" (erstmals 1991), in dies.: Moral Prejudices – Essays on Ethics. Harvard University Press, Cambridge, MA / London 1994, S. 203-223
- Bernholz, Peter, "Notwendige Bedingungen für Totalitarismus: Höchste Werte, Macht und persönliche Interessen", in Gerard Radnitzky und Hardy Bouillon (Hrsg.): Ordnungstheorie und Ordnungspolitik. Springer-Verlag, Berlin / Heidelberg / New York 1991, S. 241-284
- Honderich, Ted: Violence for Equality – Inquiries in Political Philosophy. Penguin Books, Harmondsworth 1980
- Krockow, Christian Graf von: Gewalt für den Frieden? Die politische Kultur des Konflikts. Piper, München / Zürich 1983
- Lübbe, Hermann, "Politischer Moralismus. Zum Komplementärverhältnis von Gesinnungsintensität und common-sense-Schwund", in: Politisierende Moral – Moralisierende Politik? Ein Cappenberger Gespräch veranstaltet am 29. Januar 1985 in Frankfurt am Main. Kohlhammer, Köln 1985, S. 14-30
- Lübbe, Hermann: Politischer Moralismus: Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft. Siedler, Berlin 1987
- Lübbe, Hermann, "Totalitäre Rechtgläubigkeit. Das Heil und der Terror", in ders. (Hrsg.): Heilserwartung und Terror – Politische Religionen des 20. Jahrhunderts. Patmos Verlag, Köln 1995, S. 15-34
- Popper, Karl R., "Utopia and Violence" (erstmals 1948), in ders.: Conjectures and Refutations – The Growth of Scientific Knowledge. Harper Torchbooks, New York 1968, S. 355-363
- Schwanitz, Dietrich: Der Campus. Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 1995
- Singer, Peter, "On Being Silenced in Germany", The New York Review of Books, 15. August 1991, S. 34-40
- Sykes, Charles J.: A Nation of Victims: The Decay of the American Character. St. Martin's Press, New York 1992
- Topitsch, Ernst, "Machtkampf und Humanität" (erstmals 1970), in ders.: Gottwerdung und Revolution – Beiträge zur Weltanschauungsanalyse und Ideologiekritik. Verlag Dokumentation, Pullach 1973, S. 135-217
- Walther, Rudolf, "Terror, Terrorismus", in Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe – Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 6. Klett-Cotta, Stuttgart 1990, S. 323-444
- Windschuttle, Keith: The Killing of History – How Literary Critics and Social Theorists are Murdering our Past. Encounter Books, San Francisco 1996, insbes. Kapitel 8
[Bearbeiten] Weblinks
- On the Spread of Victimism
- On Victimism
- Clinical Psychology: Problems and Prospects
- “It’s Not My Fault!"
- More Fake "History" from Glenco
- Höchstes Gericht kultiviert victimism