Zeitgenössische Kunst
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Zeitgenössische Kunst und ähnliche Sammelbegriffe scheinen, oberflächlich genommen, die Menge der in der Gegenwart von Zeitgenossen hergestellten Kunstwerke zu meinen.
"Zeitgenössische Kunst" ist auch ein Etikett für ein schwer abgrenzbares kulturelles und ökonomisches System der Kunstproduktion, das sich teilweise mit dem Kunstbetrieb überschneidet und teilweise am Kunstmarkt orientiert.
Ausdrücke wie "Kunst der Gegenwart" oder "Gegenwartskunst" verweisen jedoch, wie "Zeitgenössische Kunst", auch auf einen philosophischen Aspekt: Die Kunst selbst als Genosse einer bestimmten Zeit: Wenn sich Kunst treffend zur komplexen Gegenwart verhält, also im besten Sinne gegenwärtig ist, fängt sie das direkt nicht Mitteilbare "zeitlos" ein. Es wird interpretierbar und seine potentielle Bedeutung kann sich in der Zukunft entfalten und wirksam werden. Dieser Vorgang wird oft erst deutlich und beschreibbar, wenn die künstlerisch vorweggenommene Zukunft zur Vergangenheit geworden ist.
Künstler sind oft daran interessiert, mit ihrer Arbeit auf diese Art den Nerv der Zeit zu treffen. Kunstkenner, Kunstkritiker und das kunstinteressierte Publikum suchen nach solcher Kunst. Da sich in einer offenen und global vernetzten Gesellschaft die möglichen Zukünfte entwickeln statt vorherbestimmt zu werden, kann es keine vorherbestimmbare oder vorhersagbare Richtung und keine sicheren Erkennungszeichen dafür geben. Seit dem Beginn der Postmoderne hat daher der Begriff "Avantgarde" als "künstlerische Vorhut" oder als "künstlerische Vorreiter" seinen Sinn verloren.
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[Bearbeiten] Schein als Sprache
Wie alle menschlichen Wahrnehmungs- und Wissenssysteme liefern Wissenschaft und Kunst keine ewigen und endgültigen Wahrheiten. Kunst unterliegt, wie Wissenschaft und Religion, den Bedingungen des Seins, vertritt ebenso aber auch ihr eigenes Erkenntnisinteresse. Ähnlich Wissenschaft folgt Kunst einer eigenen inneren Logik als sich selbst reproduzierendes kulturelles System. Das "anders als durch Kunst nicht Mitteilbare" kann erfahren und vermittelt werden, wenn die Voraussetzungen dafür vorliegen. Kunst zeigt sich, anders als rationalitätsbetonte Wissenschaft, als ungewisser Schein, und Künstler haben diesen nicht immer nur "Schönen Schein" mit Mitteln der Kunst reflektiert und thematisiert.
Zeitgenössische Kunst ist wie zeitgenössische Wissenschaft, ein eigenes kulturelles System, eine eigene Sprache, die zu ihrem Verständnis Interesse und Lernen voraussetzt. Ihr Entwicklungscharakter und Spiel mit dem Schein wird dabei nicht selten von großen Teilen kunstinteressierten Publikums als trügerisch und subjektiv beliebig abgelehnt. Die individuellen Projektionen von Betrachtern oder die kulturellen Erwartungen gesellschaftlicher Gruppen können die Interpretation zeitgenössischer Kunst so beeinflussen, dass sie unterdrückt oder zerstört wird. In diktatorischen oder geschlossenen Gesellschaftssystemen wird zeitgenössische Kunst, die sich kulturell nicht unterordnet und nicht instrumentalisieren lässt, als Angriff und Bedrohung interpretiert. Im deutschen Sprachraum, in Fortführung nationalsozialistischer Propaganda, ist die Abwertung zeitgenössischer Kunst zu sogenannter "Scharlatanerie" verbreitet.
[Bearbeiten] Kunst als Kapitalismus
Zeitgenössische Kunst ist, wie andere Produktionssysteme auch, eine Matrix der Metaphysik des Kapitalismus: Sie muss sich ständig erneuern und dabei alles Verwertbare künstlerisch ausbeuten, einschließlich der Kunst, die bereits Geschichte ist. Jedes Werk muss etwas erobern, eine Nische besetzen, eine Wand dekorieren, verändernd wirken, unterhaltend sein, einen geistigen Mehrwert bieten. Die hoffnungsvolle Utopie "Jeder Mensch ein Künstler" (Joseph Beuys) wird zur Satire: "Jeder Kunstkonsument ein Hobbykünstler!".
Nachhaltig erfolgreiche Künstler müssen Unternehmer in eigener Sache sein, Projekte machen, Ideen intensiv entwickeln und ihre besonderen Talente ausbeuten bzw. ökonomisch einsetzen. Zeitgenössische Kunst definiert sich dem Verwertungsinteresse entsprechend fortwährend selbst und neu.
[Bearbeiten] Selbstdefinition als Markenzeichen
Zeitgenössische Kunst definiert sich selbst für die verschiedensten Ansprüche, intellektuellen Niveaus und Plateaus. Durch pädagogische Erklärungen und anspruchsvolle Analysen im Jargon der Kunstkritiker; durch hermetische (Nicht-) Mitteilungen von Künstlern und Künstlerinnen, die sich nach Jahrzehnten als Flop oder mentale oder materielle Goldgruben erweisen können; durch Bilder, Stücke, Veranstaltungen in Museen und Konzertsäälen; durch Sendungen in den Medien. Sie scheint ein Nebenschauplatz im Strom der fortschrittlichst ausgefeilten Interpretationsindustrie auf allen Kanälen zu sein, der den wilden Unangepassten, den Empfindsamen und Gebildeten, den statusbewussten Bürgern, und manchmal auch den Reichen, viel wert ist.
Zeitgenössische Kunst hat einen emanzipatorischen Anspruch, sie sucht und vertritt die geistige Freiheit. Dafür ignoriert sie scheinbar alle Bedingungen, akademischen Regeln und Einteilungen, alle Kunststile und kulturellen Grenzen, während sie sich die Freiheit nimmt, diese Bedingungen je nach künstlerischem Bedarf zu reflektieren, zu bearbeiten und zu nutzen.