Daniel Goldhagen
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Daniel Jonah Goldhagen (* 30. Juni 1959 in Boston, Massachusetts) ist ein US-amerikanischer Soziologe und Politologe.
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[Bearbeiten] Biographie
Goldhagen war einige Jahre lang Assistenzprofessor an der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts), USA, an der auch sein Vater, der Historiker Erich Goldhagen, lehrte. Er beschäftigte sich in dieser Zeit an seiner Forschungsarbeit mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust. Goldhagen wohnt mit seiner Frau Sarah Williams Goldhagen - einer Dozentin für Architektur an der Harvard-Universität - und seinen beiden Kindern in Newton, einem Vorort von Boston. Derzeit arbeitet er an seinem ersten Roman.
[Bearbeiten] Die Goldhagen-Debatte
Mit seinem Buch "Hitler's Willing Executioners" (dt. "Hitlers willige Vollstrecker") sorgte Goldhagen 1996 in Deutschland für eine erneute Debatte um die Ursachen des Holocaust.
[Bearbeiten] Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust: Goldhagens Thesen
Goldhagen geht der Frage nach, warum und wie der Holocaust geschah und was ihn ermöglichte (dt. Ausg., S. 7). Seine Antwort: Hitler und die Deutschen verunglimpften, verfolgten und vernichteten die Juden aus eliminatorischem Antisemitismus heraus (S. 8). Zwar gab es auch in anderen Ländern Antisemitismus; doch nur in Deutschland waren drei Bedingungen erfüllt: Erstens regierten dort die radikalsten Antisemiten der Geschichte, zweitens dachte die Mehrheit der Bevölkerung schlecht von den Juden, und drittens verfügte der Staat über die militärische Macht, infolge des Krieges den Großteil der europäischen Juden in seine Gewalt zu bringen (S. 9-10). Indem Goldhagen den gesamtgesellschaftlichen deutschen Antisemitismus als zentrale Triebkraft des Holocaust ausmacht, widerspricht er den bislang vorherrschenden populären und wissenschaftlichen Erklärungsversuchen. Warum fand Hitler für sein Ziel - die Vernichtung der Juden - so viel Unterstützer und warum traf er auf so wenig Widerstand? Wie konnten die Deutschen ein so beispielloses Verbrechen verüben bzw. zulassen? So lautete immer wieder die Frage, und die bisherigen Antworten klingen für Goldhagen nicht überzeugend: Der angebliche Befehlszwang war eine bloße Schutzbehauptung der Täter; von der angeblichen Staatshörigkeit der Deutschen war in den chaotischen Jahren zwischen 1918 und 1933 wenig zu spüren; der angebliche Gruppenzwang erklärt das Verhalten einzelner, aber nicht das der Gruppe als ganzer, die diesen Druck ja selbst erst erzeugt; der angebliche Karrierismus der Täter konnte nur in Ausnahmefällen durch eine besonders eifrige Teilnahme am Massenmord befriedigt werden; das angebliche Unwissen über die mörderischen Folgen seiner Taten konnte niemanden befallen, der seine Opfer von Angesicht zu Angesicht quälte und erschoss (S. 443-450). Goldhagen vertritt die These, dass die Taten der Deutschen nicht von solchen äußeren Zwängen oder Anreizen herrührten, sondern von inneren Überzeugungen. Die Deutschen wurden nicht gezwungen, Juden zu töten; sie taten es freiwillig, sie waren bereitwillige Vollstrecker.
Der große Irrtum besteht für Goldhagen im folgenden Vorurteil über Deutsche: Hitlers negative Meinung über die Juden könne von den Deutschen unmöglich geteilt worden sein; die Verfolgung und Vernichtung der Juden könne von den Deutschen unmöglich gutgeheißen worden sein. Goldhagen fragt, ob dies wirklich so war und kommt zu dem Ergebnis, dass das scheinbar Undenkbare in Wahrheit das einzig Naheliegende war: "Eine Gesellschaft, die sich [wie Deutschland zwischen 1933 und 1945] mit Herz und Seele zum Antisemitismus bekennt, wird wohl auch antisemitisch sein." Der Antisemitismus, weist Goldhagen nach, gehörte zu den lang tradierten, fast völlig unhinterfragten Grundüberzeugungen der deutschen Kultur (S. 47-48). Bereits im 19. Jahrhundert sei die Option, die Juden tatsächlich physisch zu vernichten, in Deutschland in größerem Ausmaß diskutiert worden.
Kern seiner Arbeit in Anknüpfung an Christopher R. Brownings Untersuchungen ist die Beschreibung eines deutschen Polizeibataillons, das im polnischen Generalgouvernement die dort lebenden Juden aufspürte, folterte und schließlich erschoss oder in die Vernichtungslager verschleppte. Anhand von Prozessakten aus späteren Gerichtsverfahren gegen einige Bataillonsangehörige zeigt Goldhagen, dass diese Männer ihre Taten nicht etwa widerwillig, schamhaft und unter Zwang begingen, sondern freiwillig, ausgesprochen eifrig (z. T. über die ausdrücklichen Befehle hinaus), mit Stolz und in der Überzeugung, das Richtige zu tun. Sie quälten und ermordeten ihre Opfer ohne Mitgefühl oder moralische Skrupel. Diese erstaunliche Tatsache führt Goldhagen auf die Vorstellungen zurück, die die Männer von den Juden hatten: Sie betrachteten ihre Opfer nicht als Menschen, sondern als ein Übel, das beseitigt werden musste, so wie eine bösartige Krankheit beseitigt werden muss. Und bei diesen Männern handelte es sich gerade nicht um eingefleischte Nazis. Die Bataillone bestanden aus willkürlich rekrutierten Durchschnittsbürgern, die für den Einsatz an der Front zu alt waren und deren politische Sozialisation dementsprechend lange vor der Machtergreifung stattgefunden hatte. Sie waren weder Weltanschauungskrieger noch verblendete Jugendliche; sie waren (daher der Titel von Goldhagens Buch) ganz gewöhnliche Deutsche.
Das Verhalten der Bataillonsangehörigen zeigt in den Augen von Goldhagen, wie unumstritten und ausgeprägt der jahrhundertelang gewachsene eliminatorische Antisemitismus in Deutschland war, und wie klein der Schritt von der negativen Einstellung gegenüber Juden zum bestialischen Mord an den Juden war. Ohne die Bereitschaft Hunderttausender Deutscher, die am Genozid direkt teilgenommen oder ihn auf andere Weise unterstützt haben, hätte die Vernichtung der europäischen Juden nicht derart reibungslos vonstatten gehen können. Er ist daher für Goldhagen auch keine Tat der Nazis (oder gar nur der SS), sondern der Deutschen (was natürlich nicht heißt, dass jeder Deutsche in gleichem Maße tatsächlich schuldig wurde). Der deutsche Antisemitismus, das ist Goldhagens zentrale These und Schlussfolgerung, war die Hauptursache des Holocaust.
[Bearbeiten] Kritik an Goldhagen
Goldhagens These stieß international, auch bei deutschen Historikern, auf Widerspruch. Die Kritiker betonen, dass es im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert außerhalb Deutschlands genauso starke, zum Teil sogar stärkere antisemitische Strömungen gegeben habe. Sie weisen etwa auf die Geschehnisse um die Dreyfus-Affäre in Frankreich hin sowie auf die seit den 1880er Jahren immer wieder mit staatlicher Duldung oder gar Unterstützung verübten Pogrome an Juden im zarischen Russland. Der methodische Haupteinwand gegen Goldhagen ist, dass er die Ursprünge des eliminatorischen, angeblich spezifisch deutschen Antisemitismus nur ins 19. Jahrhundert verlagere, die Gründe für dessen Entstehung aber ebenso wenig erkläre wie andere Forscher vor ihm. Auch gehe er nicht vergleichend auf die Kollaboration bei der Judenvernichtung durch Administration, Polizei und Bevölkerung im Krieg besetzter Länder ein, die der deutschen Unterstützung einschließlich jenes exemplarisch untersuchten Polizeibataillons teils beachtlich nahekomme. Der am weitesten verbreitete Vorwurf gegen Goldhagen lautet, er weise den Deutschen eine Kollektivschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus zu. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Bestsellers weist Goldhagen diesen Gedanken unmissverständlich zurück: "Die Vorstellung einer Kollektivschuld lehne ich kategorisch ab." (dt. Ausg., S. 11) Was die Individuen angeht, kommt er allerdings zu dem Ergebnis, dass "die Zahl der Deutschen, die kriminelle Handlungen [d. h. Verbrechen an Juden] begangen haben, enorm hoch" gewesen sei (ebd., S. 12).
Der bisher schärfste Angriff auf Goldhagen erschien 1997 in England. Das „Cambridge Historical Journal” (CHJ) der Universität Cambridge enthält einen Beitrag von Ruth B. Birn, derzeit leitende Historikerin des kanadischen Regierungsamtes für Kriegsverbrechen. Seit Ende der 70er Jahre betreibt Birn ihre Forschungen im Archiv für NS-Verbrechen in Ludwigsburg, dem Goldhagen den größten Teil der angeblichen Belege für seine These entnahm, viele „gewöhnliche Deutsche” hätten sich voller Hingabe am Massenmord an den Juden beteiligt.
Goldhagen bedankt sich in seinem Werk u.a. bei Birn für die Unterstützung seiner Arbeit. Nun hat Birn allerdings seine Forschungen vehement kritisiert. Sie erklärt zu ihrem Artikel im CHJ, sie kenne Goldhagen seit langem und der Angriff auf sein Buch sei »schmerzlich« für sie, aber »man ist der Wahrheit verpflichtet«. Birn schreibt, Goldhagen habe Originaltexte eindeutig falsch wiedergegeben und ein »Netz von Phantasien« gesponnen. In seinem Buch sei »alles in Konjunktivform geschrieben wie in schlechten historischen Romanen«. Aus dem »tonnenweise« vorliegenden Material in Ludwigsburg stütze er sich auf ganze 166 Aussagen vor Kriegsverbrechertribunalen. »Mit Goldhagens Methoden im Umgang mit Beweismaterial könnte man aus dem Ludwigsburger Material leicht die nötigen Zitate heraussuchen, um das genaue Gegenteil von dem zu beweisen, was Goldhagen behauptet.« Er habe selektiv zitiert, so daß er die Dokumente eigentlich verfälsche: »Er nimmt selektive Ausschnitte und bläht sie überproportional auf [...]. Er verwendet Material als Beleg für eine vorgefaßte Theorie.« Für eine akademische Fachzeitschrift ist Birns Polemik gegen Goldhagen von ganz ungewöhnlicher Schärfe.
Eine - moderatere - Kritik an Goldhagens Thesen findet sich auch in Christopher Brownings Werk Die Entfesselung der 'Endlösung'.
[Bearbeiten] Werke
- 1996 - Hitlers willige Vollstrecker ISBN 3442150884
- (Hitler's Willing Executioners ISBN 0679772685)
- 2003 - Die katholische Kirche und der Holocaust ISBN 3886807703
- (A Moral Reckoning ISBN 0349116938)
[Bearbeiten] Literatur
- Jürgen Elsässer: Die Fratze der eigenen Geschichte, 1999, ISBN 3-88520-756-7
- Michael F. Feldkamp, : Goldhagens unwillige Kirche. Alte und neue Fälschungen über Kirche und Papst während der NS-Herrschaft. 2003 ISBN 3789281271
- Matthias Küntzel: Goldhagen und die deutsche Linke. Oder die Gegenwart des Holocaust, 1997, ISBN 3-88520-639-0
- Dieter Pohl: Die Holocaustforschung und Goldhagens Thesen. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 45/1997, S. 1-48.
- Gavriel D. Rosenfeld: The Controversy that isn't: The Debate over Daniel J. Goldhagen's Hitler's Willing Executioners in Comparative Perspective. In: Contemporary European History 8/1999, S. 249-273.
- Julius H. Schoeps (Hg.): Ein Volk von Mördern? Die Dokumentation zur Goldhagen-Kontroverse um die Rolle der Deutschen im Holocaust, Hamburg: Hoffmann & Campe 1996, ISBN 3455103626.
[Bearbeiten] Weblinks
- Goldhagen.com - persönliche Webseite Goldhagens
- Die neue Bedrohung Gastbeitrag in "Süddeutsche Zeitung Magazin" über den politischen Islam
- Literatur von und über Daniel Goldhagen im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- "Hitler war populär" Interview in der Jungle World vom 4. Mai 2005 zum 60. Jahrestag der Niederschlagung des Nationalsozialismus
- Tobias Korenke: Über den absichtlichen Verzicht auf Wissen: Goldhagens Widerstandsrezeption und das Selbstverständnis der Deutschen
- Die "Goldhagen-Debatte" : ein Historikerstreit in der Mediengesellschaft / Michael Schneider. - [Electronic ed.. - Bonn, 1997]
- Jungle World Dossier zur Goldhagenkritik, jungle world, 20. Mai 1998
Personendaten | |
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NAME | Goldhagen, Daniel Jonah |
KURZBESCHREIBUNG | US-amerikanischer Soziologe und Politologe |
GEBURTSDATUM | 30. Juni 1959 |
GEBURTSORT | Boston, Massachusetts |