Erving Goffman
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Erving Goffman (* 11. Juni 1922 in Manville, Kanada; † 19. November 1982 in Philadelphia, Pennsylvania) war ein US-amerikanischer Soziologe.
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[Bearbeiten] Leben
Erving Goffman wurde am 11. Juli 1922 in Manville/ Provinz Alberta in Kanada als Sohn der jüdischen Einwanderer Max und Anne Goffman geboren.
Goffman begann zuerst ein Studium der Chemie an der University of Manitoba in Winnipeg (Kanada), um schließlich über einen Job am National Film Board in Ottawa zur Gesellschaftswissenschaft zu kommen. Er studierte Soziologie an der University of Toronto (Kanada) und an der University of Chicago, der er noch bis 1951 angehörte. Schließlich verbrachte er 1949-1951 am Department of Social Anthropology der University of Edinburgh in Großbritannien, um währenddessen Feldforschungen auf den Shetland-Inseln durchzuführen. In Chicago schrieb Goffman 1953 unter Anselm Strauss seine Dissertation mit dem Titel Communication conduct in an island community. Die Ergebnisse flossen später in sein bekanntestes Werk The Presentation of Self in Every-day Life (deutsch: Wir alle spielen Theater) ein. Nach einigen Jahren in Bethesda, Maryland, sowie in Washington (D.C.) übersiedelte Goffman 1957 nach Berkeley zur University of California, an der er 1958 eine ordentliche Professur erhielt. Dort arbeitete er zusammen mit Herbert Blumer und avancierte zu einer „Kultfigur“. Ein letztes Mal übersiedelte Goffman 1968 an die Ostküste, um den Posten eines Professors für Anthropologie und Soziologie an der University of Pennsylvania zu übernehmen. Goffman wurde schließlich 1981 zum Präsidenten der American Sociological Association gewählt, verstarb jedoch schon vor seiner geplanten Antrittsvorlesung an den Folgen einer Krebserkrankung.
Von 1952 bis 1964 war er mit der Psychologin Angelica Schuyler Choate verheiratet, mit der er den Sohn Thomas Edward hatte. 1981 heiratete er die Linguistin Gillian Sankoff, mit der er eine Tochter Alice hatte.
[Bearbeiten] Werk
Seine Arbeiten beschäftigten sich mit anthropologischen, sozialpsychologischen und psychiatrischen Problemen der Grundmechanismen sozialen, insbesondere sozial abweichenden Verhaltens. Untersuchungen über Verhaltensmuster, Interaktionsrituale, Rollendistanz sowie persönliche Selbstdarstellung im Alltag haben neuere soziologische Ansätze wesentlich beeinflusst. Zentral ist bei Goffman die Frage, wie das Individuum seine strukturell verletzliche Autonomie aufrecht erhalten kann.
Eins seiner bekanntesten Werke, Asyle (Frankfurt 1972), behandelt Totale Institutionen und löste damit die bis heute anhaltende Zielbestimmung der Entinstitutionalisierung von sozialen Einrichtungen wie Landeskrankenhäusern, Altenheimen, Gefängnissen und Kinderheimen aus.
[Bearbeiten] Interaktion
Goffman defininiert Interaktion als eine "wechselseitige Handlungsbeeinflussung, die Individuen aufeinander ausüben, wenn sie füreinander [Anm.: also in einer Face-to-face-Situation] anwesend sind".
Demnach ist eine Interaktion zwischen Mensch und Maschine keine Interaktion, da es sich bei Maschinen nicht um Individuen handelt.
[Bearbeiten] nicht-zentrierte Interaktion
In diesem Fall sind mindestens zwei Akteure kopräsent und nehmen sich auch gegenseitig wahr. Aufgrund dessen findet eine Ausrichtung des eigenen Verhaltens statt, da jeder weiß, dass er wahrgenommen wird.
[Bearbeiten] zentrierte Interaktion
Unterschied zur nicht-zentrierten Interaktion: Akteure handeln miteinander. Sie kooperieren, indem sie für einen bestimmten Zeitraum in "visueller und kognitiver Aufmerksamkeit" gemeinsam aufeinander und auf eine Sache oder Tätigkeit gerichtet sind.
Beispiele: ein Gespräch miteinander führen, gemeinsam ein Spiel spielen, zusammen tanzen.
[Bearbeiten] Grundannahme
Nach Goffman versucht man also in Interaktionen ein gewisses Bild von sich zu vermitteln, da man weiß, dass man beobachtet wird. Er führt diesen Gedanken fort und kommt darauf, dass alle Menschen prinzipiell immer Theater spielen und sich eine Fassade schaffen, "ein standardisiertes Ausdrucksrepertoire mit Bühnenbild und Requisiten." Goffman sagt: "Wenn ein Darsteller eine etablierte soziale Rolle übernimmt (z.B. Kellner), wird er feststellen, dass es bereits eine bestimmte Fassade für diese Rolle gibt."
Das Theater wird also als Modell für die soziale Welt benutzt.
Dennoch macht Goffman wichtige Unterschiede zwischen der Theater- und der Alltagswelt aus:
- die Realitätsebene des Theaters ist fiktional
- im Theater agieren i.d.R. min. zwei Darsteller, die voreinander ihre Rollen verkörpern; sowie das Publikum
- im Alltagsleben auf zwei Positionen reduziert; ein reines Publikum gibt es nicht, da auch jeder Zuschauer potentiell immer eine Rolle verkörpert
[Bearbeiten] Darstellungsakt
- Bühne
- Darsteller, welcher im Rahmen einer bestimmten Rollenvorgabe agiert (z.B. Student, Lehrer, Streber, Klassenclown, ... )
- Zuschauer
In der realen Welt ist ein ständiger Wechsel zwischen Darsteller und Publikum möglich. Man kann als "Zuschauer" jederzeit in das Geschehen "hineingezogen" werden.
Beispiel: Die Situation in einer typischen Vorlesung verdeutlicht dies: Scheinbar ist der Prof. der Darsteller und die Studenten bilden das Publikum. Tatsächlich sind die Studenten aber Darsteller in der Rolle des [individuell ausgeprägten] Studenten, was nur deutlicher hervortritt, wenn sich nun z.B. ein Student meldet und eine Zwischenfrage stellt.
[Bearbeiten] impression management
Dieses Theater-spielen beschreibt Goffman als impression management. Die englischsprachige Wikipedia definiert impression management wie folgt:
"Impression management (IM) is the goal-directed conscious or unconscious attempt to influence the perceptions of other people about a person, object or event by regulating and controlling information in social interaction.
[http://en.wikipedia.org/wiki/Impression_management]
IM ist also der Ausdruck, den man sich selbst gibt. Dazu zählt die Verwendung besonderer Zeichen ("regulating and controlling information"), die man gesteuert einsetzt (z.B. Sprache, Mimik, Gestik).
[Bearbeiten] Fehlleistungen
Fehlleistungen sind hier allerdings möglich, z.B. Gesichtsröte, stottern, "Freudsche Fehler". Diese können Gefahren fürs IM sein, da man durch sie etwas kommuniziert, was man eigentlich nicht kommunizieren wollte.
[Bearbeiten] Ausdruckstypen
- Ausdruck, den man sich selbst gibt
Wortsymbole und ihre Substitute, die man dazu verwendet, diejenigen Informationen zu vermitteln, die man im allgemeinen mit diesen Symbolen verknüpft
- Ausdruck, den man ausstrahlt
Ausdrücke, die von den anderen als aufschlussreich für den Handelnden aufgefasst werden, soweit sie voraussetzen können, dass diese nicht aus Gründen der Information erfolgten.
Auch in fiktionalen Inhalten ist solch eine Interpretation möglich und wird z.T. auch gezielt provoziert, z.B. in Krimis, in denen der Zuschauer selbst miträtseln soll und erst durch "falsche Fährten" auf falsche Verdächtige gestossen wird.
[Bearbeiten] Vorderbühne/Hinterbühne
Vorderbühne | Hinterbühne |
---|---|
Ort des "offiziellen", für alle sichtbaren Geschehens | Ort des "inoffiziellen", nur für Eingeweihte und Beteiligte sichtbaren Geschehens |
man weiß, dass man beobachtet wird | fühlt sich unbeobachtet |
spielt Rolle | fällt aus der Rolle |
Beispiel: Kellner im Restaurant.
- Vorderbühne: Speisesaal
- Hinterbühne: Küche
Politik.
- Vorderbühne: in Kameras sichtbares Geschehen: Bühne des Parteitags, Bildausschnitt im Studio
- Hinterbühne: hinter den Kameras: in den Gremien, bei inoffiziellen Gesprächen, in der Garderobe des Fernsehstudios
Durch Betrachtung der Hinterbühne wird sichtbar, wie und mit welchen Mitteln die Inszenierung zustande kommt.
[Bearbeiten] Self/Selbst
Unter dem Self/Selbst versteht Goffman das Resultat des IM. Das Selbst ist folglich ein Zuschreibungsprodukt. Man ist das, als was die anderen einen wahrnehmen. Es ist also nichts anderes als "eine dramatische Wirkung, die sich aus einer dargestellten Szene entfaltet" (vgl. Khazaleh).
[Bearbeiten] frame analysis
Unter Rahmen versteht Goffman durch Sozialisation erlernte Erfahrungsschemata deren Benutzung unbewusst sind und die uns helfen Situationen sinnhaft wahrzunehmen. Diese Erfahrungsschemata oder auch Rahmen sind Definitionen für Situationen und folglich wichtig zum richtigen Erkennen von Situationen. Der Mensch versucht jede Situation einzuordnen in seine bestehenden Erfahrungsschemata/Rahmen. Die Rahmen-Analyse setzt also "beim hier und jetzt situierten Akteur an, der (sich) die Frage >Was geht hier eigentlich vor?< stellt" (Willems 1997: 35). Ohne passenden bzw. erlernten Rahmen, ist die Situation nicht sinnhaft begreifbar.
Die Benutzung dieser Rahmen erfolgt unbewusst bis Irritationen erfolgen (Beispiel: runterfallender Scheinwerfer in "The Truman Show").
- Situationen werden in Erfahrungsschemata eingeordnet, in bestimmtem Rahmen wahrgenommen und erhalten vor diesem Hintergrund einen Sinn.
- Situationen sind nur im Rahmen des eigenen Wissensvorrats sinnhaft.
Rahmen sind also Elemente, mit Hilfe derer wir Situationen definieren und somit für uns sinnhaft machen.
[Bearbeiten] Primäre Rahmen
- sind allgemeine Interpretationsschemata zur Situationsdefinition.
- werden als ursprünglich erlebt und zumeist nicht bewusst angewendet.
- ermöglichen ein unmittelbares Erkennen und Identifizieren von Situationen und Ereignissen aller Art.
- gewährleisten die Vorstellung von Normalität.
- gewährleisten die Unterstellung, dass sich alles, was vor sich geht, auf irgendeine Weise in die „Kosmologie“, d.h. in den gesellschaftlichen Wissensvorrat bzw. die institutionalisierte Rahmenzuordnung, einordnen lässt.
[Bearbeiten] Modulation und Täuschung
[Bearbeiten] Keying – "Modulation"
Der deutsche Übersetzer hat Goffmans Begriffe "upkeying" und "downkeying" etwas missverständlich mit ihrer musikalischen Bedeutung der "Modulation" übersetzt ("herauf-, heruntermodulieren"). Es empfiehlt sich, im Deutschen allgemein verständlichere Begriffe wie Illusionierung – Desillusionierung zu verwenden oder sich auf die Terminologie der Erzähltheorie zu stützen (vgl. Diegese).
Das "Keying" definiert Goffman als:
Bezeichnung für die Anwendung eines „System[s] von Konventionen, wodurch eine bestimmte Tätigkeit, die bereits im Rahmen eines primären Rahmens sinnvoll ist, in etwas transformiert wird, das dieser Tätigkeit nachgebildet ist, von den Beteiligten aber als etwas ganz anderes gesehen wird“
(Goffman 1977, Rahmen-Analyse, S. 55)
Unter Keying, gleichsam im Wechselspiel zwischen Ernst und Scherz, versteht Goffman die Transformation primärer Rahmen, also eine modifizierte Außenrahmung, obwohl der Kern der Situation der gleiche bleibt. Ein Keying kann durch vieles bewerkstelligt werden: Schauspielern, Probealarm, Ironisierung, Scherzkommunikation, Satire, etc.. Keying ist insofern gefährlich, als immer die Gefahr besteht, dass es nicht als solche erkannt wird.
1. Beispiel: Alfred Tetzlaff (Ein Herz und eine Seele), eine Rolle, die satirisch als "permanenter Meckerer, Nörgler und Familientyrann" angelegt war, wurde von vielen nicht als Satire, sondern für bare Münze genommen. Das Keying wurde also nicht erkannt.
2. Beispiel: Streit zwischen Paar:
- Streit zwischen Paar auf der Bühne
- Filmszene mit Streit zwischen Ehepaar auf der Bühne
- Zitat des Filmausschnitts im medienwissenschaftlichen Seminar
Heutzutage sind in einigen Formaten Rahmenwechsel Standard. Mit dem Spiel der Rahmen lassen sich mediale Effekte erzielen, die sich eindimensional nicht realisieren lassen. Auch im Bereich des Spielfilms sind solche Vermischungen möglich, wie beispielsweise der Film JFK zeigt. Hier werden auf sehr suggestive Weise jeweils s/w und farbiges Doku-Material mit entsprechenden fiktionalen Bildern verbunden und so Grenzen erheblich verwischt. Die Rahmen sollen schwerer erkennbar gemacht werden.
Beispiele: Doku-Soap, Doku-Drama
[Bearbeiten] Täuschung
„... das bewusste Bemühen eines oder mehrerer Menschen, das Handeln so zu lenken, dass einer oder mehrere andere zu einer falschen Vorstellung von dem gebracht werden, was vor sich geht.“
[(Goffman 1977, Rahmen-Analyse, 98)]
Beispiele: Feueralarmprobe ohne die Beteiligten einzuweihen, "Verstehen Sie Spaß?", Betrüger der sich als Arzt verkleidet und ausgibt;
Dabei differenziert Goffman jedoch zwischen der gutgemeinten Täuschung und der böswilligen Täuschung.
gutgemeinte Täuschung
- Eine Aufklärung würde die Beziehung der Beteiligten nicht beeinträchtigen.
böswillige Täuschung
- Eine Aufdeckung kann zu weitreichenden, eventuell auch juristischen Konsequenzen führen.
Er führt aus, dass es Kontexte bzw. Situationen bzw. Orte gibt, die charakteristische Täuschungsmanöver fördern, z.B. Therapeutenpraxen oder Beziehungen.
[Bearbeiten] Klammern...
- ...dienen zur Markierung und Abgrenzung sozialer Vorgänge von der sie umgebenden Umwelt,
- ...können Ereignisse sowohl zeitlich als auch räumlich begrenzen,
- ...markieren die Übergänge der verschiedenen Rahmen,
- ...Modulationssignale, die die Beteiligten auf Rahmentransformationen hinweisen;
Besonders letzter Punkt verdient Betonung! Klammern werden benutzt, um Modulationen anzuzeigen. Dabei kann es sich um: ein Lachen, eine Kirche, Ritualhandlungen, bei Filmen um Titelmusik und Themen oder die Titelsequenz, ein Logo, und vergleichbares handeln.
[Bearbeiten] Werke (Auswahl)
- 1956: The presentation of self in everyday life (dt. Wir alle spielen Theater)
- 1961: Asylums (dt. Asyle)
- 1963: Stigma. Notes on the management of spoiled identity. (dt. Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität)
- 1967: Interaction ritual (dt. Interaktionsrituale)
- 1969: Strategic interaction (dt. Strategische Interaktion)
- 1971: Relations in public (dt. Das Individuum im öffentlichen Austausch)
- 1974: Frame analysis (dt. Rahmen-Analyse)
[Bearbeiten] Literatur
- Robert Hettlage u. Karl Lenz (Hg.): Erving Goffman – ein soziologischer Klassiker der zweiten Generation. Bern u. Stuttgart: Haupt 1991. (= UTB. 1509.) ISBN 3-258-03968-2. (mit Bibliographie)
- Herbert Willems: Rahmen und Habitus. Zum theoretischen und methodischen Ansatz Erving Goffmans. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1997. ISBN 3-518-28919-5
- Hubert Knoblauch: Erving Goffman. In: Stephan Moebius & Dirk Quadflieg (Hg): Kultur. Theorien der Gegenwart. VS - Verlag für Sozialwissenschaften 2006. ISBN 3-531-14519-3.
[Bearbeiten] Weblinks
- Literatur von und über Erving Goffman im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- http://wiki.experimentelles.org/index.php/Erving_Goffman
- http://www2.pfeiffer.edu/~lridener/courses/GOFFSELF.HTML (From Erving Goffman, The Presentation of Self in Everyday Life. New York: Doubleday, 1956, pp. 22-30, 70-76.)
- http://www.univie.ac.at/linguistics/publikationen/diplomarbeit/schepelmann/Daten/goffman.htm
Personendaten | |
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NAME | Goffman, Erving |
KURZBESCHREIBUNG | US-amerikanischer Soziologe |
GEBURTSDATUM | 11. Juni 1922 |
GEBURTSORT | Manville, Kanada |
STERBEDATUM | 20. November 1982 |
STERBEORT | Philadelphia, Pennsylvania, USA |