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Gewissen - Wikipedia

Gewissen

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Das Gewissen (lateinisch conscientia, wörtlich "Mit-Wissen") wird im Allgemeinen als eine spezielle Instanz im menschlichen Bewusstsein angesehen, die einem Menschen sagt, wie er sein eigenes Handeln beurteilen soll. Es drängt den Menschen, aus ethischen bzw. moralischen Gründen bestimmte Handlungen auszuführen oder zu unterlassen. Entscheidungen können dabei als unausweichlich empfunden werden oder mehr oder weniger bewusst, also im Wissen um ihre Voraussetzungen und denkbaren Folgen, getroffen werden (Verantwortung).

Das einzelne Gewissen wird meist als von Normen der Gesellschaft aber auch von individuellen sittlichen Einstellungen der Person abhängig angesehen. Eine eindeutige und allgemein anerkannte Erklärung des Phänomens Gewissen gibt es bis heute nicht. Psychologische, soziologische, ethische oder theologische Theorien des Gewissens betonen jeweils unterschiedliche Aspekte dieser menschlichen Grunderfahrung. Üblicherweise fühlt man sich gut, wenn man nach seinem Gewissen handelt. Man spricht dann von einem guten oder reinen Gewissen. Handelt man indessen entgegen sein Gewissen, so hat man ein subjektiv schlechtes Gefühl. Man spricht dabei von schlechtem Gewissen, nagendem Gewissen oder Gewissensbisse haben.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Begriffsherkunft

Die heutige Bedeutung von „Gewissen“ geht wesentlich auf Luther zurück. Vor ihm konnte "Gewissen" auch Bewusstsein oder ein verstärktes Wissen ausdrücken. Diese verengte Wortbedeutung stammt vom griechischen "syneidêsis" -Begriff und dessen lateinischer Übertragung „conscientia“. "conscientia" kann nicht angemessen mit „Bewusstsein“ oder mit „Gewissen“ übersetzt werden; eine neutrale Übersetzung wäre „Mitwissen“. Darunter kann man konkret das Mitwissen einer übergeordneten Instanz um das eigene Handeln verstehen, manchmal eher unser eigenes, handlungsbegleitendes Wissen um den moralischen Wert dieser Handlung.

[Bearbeiten] juristische Sicht

Der bundesdeutsche Gesetzgeber gesteht dem individuellen Gewissen eine hohe Bedeutung zu; - beispielsweise, indem er seinen Bürgern die Freiheit zur Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen einräumt (Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, GG Artikel 4, Punkt 3).

[Bearbeiten] christliche Gewissensvorstellungen

[Bearbeiten] Gewissen in der Bibel

Das Alte Testament kennt das Herz als Ausgangspunkt guter wie böser Taten, allerdings ist nirgends die Rede von einer kritischen Instanz im Geist oder in der Seele des Menschen. Erst Paulus hat den Begriff Gewissen in die christliche Theologie eingeführt. Ihm zufolge ist das Gewissen keine Instanz, die eigene ethische Maßstäbe setzt, sondern Wissen um das eigene Verhalten angesichts der für dieses Verhalten bestehenden Forderung (siehe Römerbrief 2,14 (Wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, sich trotzdem an das Gesetz halten, sind sie selbst das Gesetz usw.); 1. Korintherbrief 8,7-13 und 10,25-30). Johannes nimmt in seinem 1. Brief Bezug auf das Gewissen, auch wenn er das Wort Herz benutzt. 1. Joh. 3:19 - 21 „Hieran werden wir erkennen, dass wir aus der Wahrheit sind, und wir werden vor ihm unser Herz überzeugen: wenn unser Herz (uns) nicht beschuldigt, ist Gott größer als unser Herz und kennt alle Dinge. Geliebte, wenn unser Herz (uns) nicht beschuldigt, haben wir Freimut zu Gott,...“ Eigentlich beschuldigt (verurteilt) uns unser Gewissen, das nicht nur ein Teil unseres Geistes, sondern auch unseres Herzens ist. Das Gewissen in unserem Herzen vertritt Gottes Herrschaft in uns.

[Bearbeiten] Thomas von Aquin

Thomas von Aquin definiert, im Anschluss an Albertus Magnus, das Gewissen als Vollzug eines Urteils über den moralischen Wert einer Handlung. Er erkennt im Gewissen zwei Aspekte, eine Gewissensanlage (synteresis) und den konkreten Gewissensakt (Conscientia), in dem von Außen herangeführte Normen und Erfahrungen auf Grund der Gewissenanlage zu einem Urteil verschmelzen. Das Urteil des Gewissens ist für Thomas die letzte Instanz, nach der sich der Mensch zu richten hat, auch wenn er damit der offiziellen Kirche widerspricht. Das Gewissen vollzieht die Gründe und Überlegungen nach, die zu dieser Handlung geführt haben, ist aber nicht wie das Streben nach Vermögen, dem Einfluss durch Emotionen und Affekte ausgesetzt. Deshalb kann es zu einem Missverhältnis zwischen Handlungswahl und Gewissensurteil kommen (genannt „schlechtes Gewissen“). Das schlechte im Sinne eines peinigenden Gewissens tritt aber erst bei Luther in den Vordergrund, der dieses zur Grundform des Gewissens erklärt.

[Bearbeiten] John Henry Newman

Für John Henry Newman gibt es im Gewissenserlebnis Momente der Tiefe, in denen der Mensch das Echo der Stimme Gottes vernimmt. Er vertritt damit eine eher mystische Auffassung von der Anwesenheit Gottes im menschlichen Gewissen.

[Bearbeiten] 2. Vatikanisches Konzil

Im zweiten Vaticanum besteht eine Spannung in der Erklärung der Wirkungsweise des Gewissens, die vom Kompromisscharakter der Konzilstexte herrührt. Nach der Pastoralkonstitution Gaudium et spes ist das Gewissen ausgezeichneter Ort der Gottesbegegnung, „verborgenste Mitte“ und „Heiligtum im Menschen“. Im Gewissen ereignet sich demnach der Dialog von Gott und Mensch. Zugleich ist aber die Rede von einem „Gesetz, [...] dem [der Mensch] gehorchen muss“. Hier scheinen wohl Kirchliche Sittennormen und Ähnliches durchzuschlagen. Das feste Gesetz kann man freilich als das christliche Gebot der Nächstenliebe ansehen und damit die Problematik entschärfen. Nachkonziliare Entwicklungen wie die Enzykliken Humanae Vitae oder Veritatis Splendor sprechen allerdings eine andere Sprache.

[Bearbeiten] Spezifische Sichtweisen

[Bearbeiten] Dialektischer Materialismus

Nach dem Dialektischen Materialismus (Marx) spiegelt das Gewissen den wandelbaren Gesellschaftszustand, welcher sich aus wechselnden materiellen Produktionsverhältnissen erkläre, wider. Da die Materie, die einzige Wirklichkeit, sich ständig verändere, gelte keine sittliche Wahrheit absolut.

Viele Nichtmarxisten sehen in dieser Denkweise eine Mitursache für die Verbrechen, die im Namen des Kommunismus begangen wurden.

[Bearbeiten] Kant'sche Philosophie

Nach Immanuel Kant enthält die praktische Vernunft ein a priori, ein jeder Moral vorhergehendes Grundprinzip. Dieses a priori bestimmt den kategorischen Imperativ. Dieser gilt absolut und überall und ist von jedem anwendbar. Er wird auch als „das gute Gewissen“ umschrieben und sei eine notwendige, aber keine hinreichende Grundlage für gutes Handeln.

[Bearbeiten] Freud'sche Psychologie

Die Psychologie nach Sigmund Freud beruht auf der Unterscheidung der drei Instanzen Es, Ich und Über-Ich. Seiner Vorstellung nach wird das unbewusst-triebhafte Es in seinen Äußerungen durch das Über-Ich hemmend kontrolliert. Dabei wird das Über-Ich verstanden als Introjekt, also Verinnerlichung der elterlichen und gesellschaftlichen Autorität, wodurch sich das Gewissen herausbildet. Es veranlasst das Kind, gesellschaftlich übliche oder erwartete Verhaltensweisen und Erwartungen einzuhalten. Das reife Ich, die individuelle Persönlichkeit mit ihren aus Erfahrung gewonnenen bewussten Wertsetzungen, bildet sich in der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner gesellschaftlichen Umwelt und durch Überwindung der Anforderungen des Über-Ich.

[Bearbeiten] Nietzsche

In Nietzsches Genealogie der Moral [Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes., Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Band 5, Hrsg. Colli und Montinari, dtv, de Gruyter, S. 291 ff.] wird das „Gewissen“ mit „Schuld“, „Pflicht“ und „Heiligkeit der Pflicht“ auf eine Ebene gestellt. Instinkte, die nicht aktiv gelebt werden können, „wenden sich nach innen“ [a.a.O., S. 322]. „Schuld“ und „Pflicht“ gegenüber den vorherigen Generationen werden in Gestalt des „schlechten Gewissens“ schließlich zu einer unabzahlbaren Schuld: „[Im Schuldner], in dem nunmehr das schlechte Gewissen sich dermaßen festsetzt, einfrisst, ausbreitet und polypenhaft in jede Breite und Tiefe wächst, bis endlich mit der Unlösbarkeit der Schuld auch die Unlösbarkeit der Busse, der Gedanke ihrer Unabzahlbarkeit (der ‚ewigen Strafe‘) concipiert ist -;...“ [a.a.O., S. 331].

Das „schlechte Gewissen“ in seiner „aktivischen“ Gestalt ist nach Nietzsche möglicherweise die Bedingung für die Entstehung ästhetischer Empfindung im Sinne von „Bejahung und Schönheit“ [vgl. a.a.O., S. 326].

Der Begriff „schlechtes Gewissen“ wird mit unterschiedlicher Konnotation verwandt. Es schimmert eine Parallele zwischen Phylogenese und Menschwerdung im individuellen, subjektiven Sinne durch. Das „schlechte Gewissen“ eine nach Nietzsche offenbar genuin menschliche Eigenschaft, die - ganz klar wird das nicht - wohl jedem Menschen zukommt, zumindest aber dem Künstler eigen ist, muss überwunden werden, bejaht werden, vielleicht auch integriert werden, um Schönheit, Seele, Ideale schaffen zu können.

[Bearbeiten] Luhmann

Luhmann interpretiert das Gewissen als eine Funktion im Dienste der Identitätsbildung.

Die Möglichkeiten, die ein Mensch hat, sich zur Welt zu verhalten, sind weit größer als die Fähigkeit, sie (alle auf einmal) zu realisieren. Ich kann ein Schurke sein, ein Heiliger, ein Feigling, ein Held - aber nicht alles auf einmal. Der Mensch wählt bestimmte Optionen und schlägt andere aus und bildet so eine Persönlichkeit aus, d.h. er wird zu einer selektierenden Struktur, die typischerweise so und nicht anders handelt. Der Mensch braucht Kontrollinstanzen, mit denen es ihm gelingt, eine konstante Persönlichkeit zu sein und zu bleiben, "und eine solche Kontrollinstanz [...] ist das Gewissen [...]. Jedes sichtbare und in diesem Sinne äußere Verhalten des Menschen [...] sagt etwas darüber aus, was der Mensch ist. Er stellt sich, ob er will oder nicht, in seinem Verhalten dar und legt sich damit fest, da die Zeit sein Verhalten unwiderruflich [...] in die Vergangenheit entrückt. Will er sich als identische Persönlichkeit darstellen, muß er die Kontrolle über sein Erscheinen behalten. Das ist nur möglich, wenn er sich durch innere Vorgänge, die dem Einblick entzogen sind, objektiviert. Wie George Herbert Mead gezeigt hat, stützt er sich bei dieser Reflexion auf die Tatsache, daß andere ihn objektivieren und daß er deren Einstellung übernehmen kann. [...] Da seine Situationen und Verhaltensprobleme recht komplex sind, muß er seine Persönlichkeit verinnerlichen, seine persönlichen Werte abstrahieren, seine Selbstdarstellungsgeschichte erinnern können. Je weiter er auf diesem Wege der Persönlichkeitsbildung kommt, desto weiter kann er seine Selbstdarstellung spannen, desto komplexer kann seine Lebenswelt sein. Nie aber braucht er die Komplexität der ganzen Welt in seinem Innern widerzuspiegeln. Die Funktion der Persönlichkeit liegt mithin auf dem Gebiet der Reduktion der unzähligen Potentialitäten des Ich zu einer kohärenten, individuellen Selbstdarstellung."

Dem dient, wie gesagt, das Gewissen. - Genau so versteht auch die Alltagsintuition dessen Rolle, wenn man sagt, man müsse doch noch morgens in den Spiegel sehen können: um zu prüfen, ob man noch derselbe oder was aus einem geworden sei. Das Gewissen stellt die in die Zukunft gerichtete Frage, was aus mir werden soll, und blickt in die Vergangenheit auf das, was aus mir geworden ist - "im Gewissen stellt man das eigene Sein zur Entscheidung". "Nach der Tat [...] [zwingt] das Gewissen [...] zur Identifikation mit der Vergangenheit, zu der Erkenntnis, daß ich auch jetzt noch und für immer einer bin, der so handeln konnte. Das Gewissen fordert mich dann auf, in den Trümmern meiner Existenz die verbleibenden Möglichkeiten neu zu ordnen."

(zitiert aus: Jan Philipp Reemtsma, Über den Begriff "Handlungsspielräume", http://www.eurozine.com/articles/2003-01-24-reemtsma-de.html)

[Bearbeiten] Literatur

  • Dietmar Mieth: Gewissen. In: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. (Bnd. 12) (Enzyklopädische Bibliothek in 30 Teilbänden) Freiburg 1981 , S.138-181.
  • Eberhard Schockenhoff: Wie gewiss ist das Gewissen? Eine ethische Orientierung. Freiburg 2003.
  • Heinz Dieter Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Insel Verlag.

[Bearbeiten] Weblinks

wikt:
Wiktionary
Wiktionary: Gewissen – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme und Übersetzungen

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