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Justizirrtum

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Ein Justizirrtum ist ein Fehler der Justiz, der in einer gerichtlichen Entscheidung (Urteil, Beschluss, Verfügung) Niederschlag gefunden hat und auf einer Fehlvorstellung beruht. Im Unterschied zur Rechtsbeugung, die ein Tatbestand des Strafgesetzbuchs (StGB) ist (§ 339 StGB) und vorsätzliches Handeln voraussetzt, setzt der Justizirrtum als Irrtum eine Fehlvorstellung des oder der Entscheidenden über die Wirklichkeit voraus. Die Fehlvorstellung kann in rechtlicher oder tatsächlich Hinsicht, also entweder im Hinblick auf das anzuwendende Recht oder bezüglich der gerichtlich festgestellten Tatsachen bestehen. Justizirrtümer sind auf allen Feldern der Justiz (Strafrecht, Zivilrecht und öffentliches Recht) denkbar.

Eine Schwierigkeit zur Abgrenzung von Justizirrtümern ergibt sich daraus, dass das Recht als Maßstab der Entscheidung notwendig eine gewisse Unschärfe (Unbestimmtheit) aufweist, die bei seiner Anwendung (auch in der Feststellung eines Sachverhaltes mit Hilfe des Beweisrechts) sich noch vergrößert: Wenn der rechtliche Gehalt einer Regel feststeht, ist es häufig noch eine Frage der Anwendung durch die Entscheider, ob und welche Folgen die Regel für einen Fall hat. Zwischen dem Justizirrtum als Fehler und einer richtigen Entscheidung ergibt sich deshalb ein Graubereich.

Die Hinrichtung eines irrtümlich zum Tode Verurteilten wird von Kritikern der Todesstrafe gelegentlich als Justizmord bezeichnet.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Fehlerkorrektur in der Justiz

Die Vermeidung von Justizirrtümern, ihre Aufdeckung und Korrektur der Entscheidung selbst oder wenigstens ihrer Folgen ist ein rechtliches Problem, dem viele Regeln gewidmet sind. Dazu gehören insbesondere das Beweisantragsrecht, die Rechtsmittel (Berufung und Revision), die sonstigen Rechtsbehelfe, das Recht der Wiederaufnahme und schließlich z.B. die Gesetzgebung zum Entschädigungsrecht.

Im Beweisrecht, in der Begrenzung von Rechtsbehelfen, im Recht der Wiederaufnahme und im Recht der Entschädigung sind Grenzen erkennbar, die sich auch eine zur Einsicht in die Fehlbarkeit ihrer Justiz bereite Gesellschaft wahrscheinlich auferlegen muss. So wird im Beweisrecht mit höchstrichterlicher Billigung für die richterliche Überzeugung und damit die Feststellung eines Sachverhaltes nur der sogenannte Maßstab der praktischen Vernunft angelegt. Theoretische Zweifel müssen außer acht bleiben. Bei den Rechtsbehelfen können und dürfen viele Entscheidungen nicht überprüft werden, weil z.B. Fristen versäumt wurden, Beschwergrenzen nicht erreicht werden oder sogar (z.B. im Ordnungswidrigkeitenrecht) "nur" eine Einzelfall-Fehlentscheidung vorliegt. Im Recht der Wiederaufnahme muss die Rechtskraft von Entscheidungen geschützt werden, weil ansonsten ein Anknüpfen an frühere Entscheidungen nicht möglich wäre. Und schließlich wird dem einzelnen im Entschädigungsrecht ein Opfer an die Gemeinschaft zugemutet, weil die vollumfängliche Entschädigung aller Fehler (etwa nach dem Prinzip der Totalreparation gem. § 249 BGB) die öffentliche Hand überfordern würde.

[Bearbeiten] Wissenschaftliche Behandlung von Justizirrtümern

Die wissenschaftliche Behandlung von Justizirrtümern ist durch die Schwierigkeit der Abgrenzung von Fehlern und richtigen Entscheidungen behindert. Im Bereich des Strafprozessrechts hat in Deutschland eine Untersuchung von Peters, Fehlerquellen im Strafprozess, erheblichen Einfluss gehabt. Intensiv wird auch an der Validierung von Beweismitteln geforscht (Glaubwürdigkeitsforschung zur Zeugenaussage). Die Einführung von objektiven Beweismitteln (im Gemeinen Recht waren nur Beweis und Geständnis zulässige Beweismittel) bis hin zur DNA-Analyse ist vom Bemühen um die Vermeidung von Fehlern oder Aufdeckung von Fehlern gezeichnet (vgl. Todesstrafe).

Schließlich haben statistische Untersuchungen zur Aufhellung von Fehlern beigetragen (Häufigkeit der Verurteilung zum Tode in Abhängigkeit von der Hautfarbe usw.).

[Bearbeiten] Strafvollzug und Justizirrtümer

Im deutschen Strafvollzug wird von der Richtigkeit des Urteils ausgegangen und somit werden auch die gegebenen Fakten nicht erneut überprüft. Dadurch kann es so aussehen, als erlitten Betroffene besondere Benachteiligungen, denn wer eine schwere Straftat nicht gesteht und damit auch nicht an den dazu führenden Problemen arbeitet, der wird in der Regel keine Vollzugslockerungen und auch keine vorzeitige Entlassung erreichen.

Stellt sich nachträglich heraus, dass ein Justizirrtum vorliegt, so erhalten die Betroffen abhängig von der Haftdauer eine Entschädigung für die Haftzeit. Von dieser Summe wird eine Pauschale für die tägliche Verpflegung abgezogen.

[Bearbeiten] Berühmte Justizirrtümer oder bis heute fragliche Entscheidungen

  • Adolph Beck verbrachte zwischen 1896 und 1904 mehrere Jahre für vom Trickbetrüger John Smith begangene Straftaten im Gefängnis.
  • Derek Bentley wurde 1953 für einen von einem Komplizen begangenen Mord an einem Polizisten hingerichtet.
  • Caryl Chessman wurde für mehrere Raubüberfälle und Vergewaltigungen zum Tode verurteilt und 1960 nach 12 Jahren in der Todeszelle hingerichtet, obwohl seine Schuld stark umstritten war.
  • John Demjanjuk wurde für seine angebliche Tätigkeit im KZ Treblinka 1988 zum Tode verurteilt und später begnadigt, da die Beweise für seine Schuld umstritten waren.
  • Alfred Dreyfus wurde für einen von Major Walsin-Esterhazy begangenen Geheimnisverrat zur lebenslänglichen Verbannung auf der Teufelsinsel verurteilt. Sein Prozess führte zur Dreyfus-Affäre.
  • Timothy Evans wurde 1950 irrtümlich für einen vom Serienmörder John Christie begangenen Mord hingerichtet.
  • James Hanratty wurde 1962 für einen Mord an Michel Gregsten hingerichtet, obwohl es im Prozess zu widersprüchlichen Zeugenaussagen gekommen war und starke Zweifel an seiner Schuld bestanden.
  • Bernd Herbort wurde im Mai 1989 zu Unrecht wegen angeblichen sexuellen Mißbrauchs seiner Tochter zu 18 Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.
  • Hans Hetzel saß 14 Jahre für einen angeblich begangenen Mord unschuldig im Gefängnis, ehe er 1969 freigesprochen wurde.
  • Christian Ranucci wurde 1976 für einen Mord hingerichtet. Das Urteil ist umstritten, da die Untersuchung des Falles heute mangelhaft erscheinen muss.
  • Sacco und Vanzetti wurden 1927 für einen doppelten Raubmord hingerichtet. Das Urteil ist bis in die Gegenwart umstritten.
  • Sam Sheppard verbrachte 10 Jahre im Gefängnis für einem von einem Einbrecher begangenen Mord an seiner Frau.
  • Donald Stellwag saß acht Jahre wegen eines Bankraubes zu Unrecht im Gefängnis.
  • Fritz Teufel verbrachte zwei Jahre im Gefängnis für das Herstellen von Brandsätzen, wobei jedoch keine Beweise für eine Beteiligung Teufels vorlagen.
  • Die Guildford Four (Paul Hill, Gerry Conlon, Patrick (Paddy) Armstrong und Carole Richardson) wurden 1974 für ein IRA-Attentat zu je 30 Jahren Haft verurteilt, das sie nicht begangen hatten. Sie wurden 15 Jahre später begnadigt, der britische Premierminister Tony Blair entschuldigte sich für das Urteil. Die Geschichte der Guildford Four war Thema des Films Im Namen des Vaters.

[Bearbeiten] Literatur

  • Hans Martin Sutermeister: Summa Iniuria - Ein Pitaval der Justizirrtuemer: fuenfhundert Faelle menschlichen Versagens im Bereich der Rechtsprechung in kriminal- und sozialpsychologischer Sicht, Elfenau Verlag, Basel 1976. (Das Fehlurteil als kulturgeschichtlicher Betrachtungsgegenstand wird mit einer immensen Materialfülle dargeboten, die Quellen ausführlich dokumentiert. Detaillierte Analyse zu falschem Wiedererkennen, der Belastung durch Mitgefangene, unkritische Bewertungen von Expertisen, Suggestibilität und Gefühlslogik der Geschworenen und psychologische Fehler der Richter. Durch ein ausgewähltes Literaturverzeichnis ergänzt.)

[Bearbeiten] Weblinks

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