Liberté chérie (Freimaurerei)
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Liberté chérie ist die einzige in einem Strafvollzugslager und auf dem Boden eines ehemaligen Konzentrationslagers gegründete Freimaurerloge in der Zeit des 2. Weltkriegs. In den Jahren 1943/44 wurden in dem Lager Widerstandskämpfer aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden inhaftiert.
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[Bearbeiten] Die Loge
Einem Brief von Luc Somerhausen zufolge gründeten um den 15. November 1943 die sieben belgischen Widerstandskämpfer und Freimaurer Paul Hanson, Luc Somerhausen, Jean De Schrijver, Jean Sugg, Henry Story, Amédée Miclotte und Franz Rochat in der Baracke 6 für ausländische Nacht-und-Nebel-Gefangene des Emslandlagers VII (Esterwegen) die Freimaurerloge Liberté chérie (Liebling Freiheit). Der Name der Loge leitet sich von der sechsten Strophe der Marseillaise her. Sie wählten Paul Hanson zu ihrem Meister vom Stuhl. Danach initiierten die Sieben den Belgier Fernand Erauw. Die Brüder versammelten sich für ihre Logenarbeit in Baracke 6 um einen Tisch, der sonst zum Patronensortieren verwendet werden musste. Dabei passten jeweils katholische Priester auf, damit die Freimaurer ihre Versammlungen abhalten konnten, und umgekehrt beschützten die Brüder Liberté chéries die Katholiken, wenn sie heimlich ihre heilige Messe feierten.
Luc Somerhausen schildert Fernand Erauws Aufnahme zum Freimaurer:
- „..eine ebenso einfache wie geheime Zeremonie, die darin bestand, den Profanen Fernand Erauw aufzunehmen, der vorgeschlagen worden war, sich den Gründern anzuschließen und der bewusst dem Vorschlag zugestimmt hatte. Diese Zeremonie, zu deren Geheimhaltung man die Gemeinschaft der Priester um Hilfe gebeten hatte, die wiederum von uns Beistand bei ihren Gebeten erhielten, fand um einen der Essenstische herum nach einem sehr stark vereinfachten Ritual statt, dessen einzelne Bestandteile dem Neuaufgenommenen aber erklärt wurden, der fortan an der Arbeit der Loge teilhatte.“
Das Logenleben unter den acht Gefangenen gestaltete sich schwierig. Mehr als hundert Gefangene waren in Baracke Nr. 6 fast rund um die Uhr eingesperrt und durften diese nur für einen halbstündigen Spaziergang unter Aufsicht pro Tag verlassen. Tagsüber musste eine Hälfte des Lagers Patronen und Radioteile sortieren. Die Gefangenen der anderen Hälfte des Lagers wurden unter schlimmsten Bedingungen gezwungen, in den umliegenden Torfmooren zu arbeiten. Die Ernährung war so miserabel, dass die Gefangenen im Durchschnitt jeden Monat 4 Kilo Körpergewicht verloren. Nach der ersten rituellen Versammlung mit Aufnahme des neuen Bruders Fernand Erauw wurden weitere Treffen thematisch vorbereitet. Eins war dem Symbol des größten Baumeisters des Universums gewidmet, ein anderes der Zukunft Belgiens, ein weiteres schließlich der Stellung der Frau in der Freimaurerei. Von den Mitgliedern überlebten nur Luc Somerhausen und Fernand Erauw die Haft. Daher stellte die Loge Liberté chérie zum Beginn des Jahres 1944 ihre freimaurerische Arbeit ein.
[Bearbeiten] Liberté chéries Brüder
Paul Hanson, Friedensrichter im Kanton Louveigné-Grivegnée, südlich von Lüttich, wurde am 20. April 1942 von den Deutschen festgenommen und bald darauf vor Gericht gestellt. Zwei Monate vorher hatte er in einem Prozess der 1940 gegründeten CNAA, einer Kollaborationsvereinigung für soziale und wirtschaftliche Herrschaft der Nationalsozialisten, die Legalität abgesprochen und sie mit einer Geldbuße belegt. Das Urteil gegen Hanson wurde am 13. März 1942 in Louveigné verkündet und hatte einen gewaltigen Nachhall. Paul Hanson wurde zunächst in Saint-Léonard, dann in Aix-la-Chapelle und Bochum und schließlich in Esterwegen inhaftiert.
Paul Hanson hielt im Lager Esterwegen trotz des Ausgangsverbotes wiederholt heimlich Vorträge für die Gefangenen der unterschiedlichen Baracken. Als die Stadt Essen, in die Hanson verlegt worden war, am 26. März 1944 von den Alliierten bombardiert wurde, starb der Inhaftierte in den Trümmern des Gefängnisses.
Am 13. März 1947 wurde zu Ehren des Richters Hanson im Gerichtshof von Louveigné eine Gedenkstele mit den wichtigsten Passagen aus seiner Urteilsverkündung vom 13. März 1942 errichtet. Sie sind von einem Akazienzweig eingerahmt, dem Hauptsymbol der Freimaurermeister.
Dr. Franz Rochat, Universitätsprofessor, Apotheker und Direktor eines bedeutenden pharmazeutischen Labors, wurde am 10. März 1908 in Saint-Gilles geboren. Er war Mitarbeiter der Untergrundpresse und des Widerstandsblattes „Stimme der Belgier“; er gehörte der Widerstandsbewegung „ARA“ und der Loge „Die Philantrophischen Freunde“ an. Franz Rochat wurde am 28. Februar 1942 festgenommen und in Saint-Gilles, später in Bochum inhaftiert.
Franz Rochat gelangte im April 1944 nach Untermansfeld und starb dort am 6. April 1945.
Jean Sugg, Pharmavertreter, wurde am 8.September 1897 in Gand und mit deutschschweizerischem Ursprung geboren. Er arbeitete mit Franz Rochat bei der Verbreitung der Untergrundpresse zusammen, übersetzte für diese deutsche und schweizerische Texte, und beteiligte sich an Untergrundblättern wie „La Libre Belgique“, „La Légion noire“, „Le Petit Belge“ und „L’Anti-Boche“. Er unterstützte abgestürzte Bomberflieger und versorgte Leute, die sich der Zwangsarbeit widersetzten, mit Geld und Verpflegungsmarken. Jean Sugg gehörte wie Franz Rochat zu den „Philantrophischen Freunden“. Jean Sugg wurde ins KZ Buchenwald verlegt und verstarb dort am 8. Februar 1945.
Dr. phil. Amédée Miclotte, Studienrat der Oberschule in Forest, wurde am 20. Dezember 1902 in Lahamaide geboren, gehörte mit Luc Somerhausen zur SGRA. Er war Bruder der Loge „Union et Progrès“. Am 29. Dezember 1942 wurde er verhaftet und in Saint-Gillen, später in Essen inhaftiert. Amédée Miclotte wurde nach Groß Rosen gebracht und am 8. Februar 1945 als vermisst gemeldet. Man sah ihn zuletzt im Lager-Krankensaal.
Jean De Schrijver, Oberst in der belgischen Armee und ab 1940 Kabinetschef des Verteidigungsministeriums, wurde am 23. August 1893 in Alost geboren. Bruder der Loge „La Liberté“ in Gand. Am 2. September 1943 wurde er wegen Spionage und Waffenbesitzes festgenommen und saß in Louvain, Breendonk und Saint-Gilles ein. Oberst Jean De Schijver wurde zunächst nach Groß Rosen verbracht und starb im Februar 1945 in Groß Strelitz.
Henry Story schließlich, Industrieller und Schöffe von Gand, wurde am 27. November 1897 in Gand geboren. Bruder der Loge „Le Septentrion“ in Gand. Er gehörte mehreren Widerstandsgruppen an: dem „Service Socrate“, „Service Zéro“ und „Service Luc“. Durch ihn kam der Kontakt der Unabhängigkeitsfront mit London zustande. Er wurde am 22. Oktober 1943 ins Gefängnis von Gand gesperrt und später nach Essen überführt. Henry Story wurde über Rosen nach Groß Strelitz verbracht und verschied am 5. Dezember 1944 im dortigen Gefangenenlager.
Luc Somerhausen, Journalist und Berichterstatter beim Senat, wurde am 26. August 1903 in Hoeylaert geboren. Er diente im Widerstand beim Allgemeinen Nachrichtendienst, dem berühmten SGRA, einem heimlichen Vorgänger des Staatssicherheitsdienstes. Somerhausen wurde am 28. Mai 1943 in Brüssel festgenommen und in Saint-Gilles, später in Essen inhaftiert. Er gehörte der Loge „ACSO III“ an und war Mitglied der Großloge von Belgien (Grand Orient de Belgique) in der Funktion eines stellvertretenden Sekretärs.
Fernand Erauw, diplomierter Verwaltungswissenschaftler des Instituts Cooremans und Beisitzer am Rechnungshof, Reserveoffizier bei den Grenadieren und Mitglied der Geheimarmee, wurde am 29. Januar 1914 im Wemmel geboren. Die Geheimarmee bestand aus aktiven Soldaten und Reservisten im Untergrund. Sie wurde von der belgischen Regierung in London als legal anerkannt. Sie führte versteckte im Interesse der Alliierten stehende militärische Operationen durch.
Fernand Erauw wurde am 4. August 1942 festgenommen, entging als Offizier den Folterungen durch die Deutschen und fand sich im Jahre 1943 nach einer Reise durch verschiedene belgische und deutsche Gefängnisse schließlich in Esterwegen wieder.
[Bearbeiten] Zwei Überlebende
Die einzigen Überlebenden Fernand Erauw und Luc Somerhausen begegneten sich 1944 wieder im KZ Oranienburg-Sachsenhausen und blieben von da an unzertrennlich. Beide standen selbst die von Heinrich Himmler im Frühjahr 1945 veranlassten „Todesmärsche“ durch. Fernand Erauw, 1.84 m und vordem mit der Statur eines Athleten, wog am 21. Mai 1945 im Saint-Pierre-Krankenhaus in Brüssel 32 kg.
Im August 1945 sandte Luc Somerhausen dem Großmeister der Großloge von Belgien einen ausführlichen Bericht, in dem er die Geschichte der Loge „Liberté chérie“ nachzeichnete.
Dieser Bericht, für den Somerhausen eine Empfangsbestätigung erhielt, gilt als verschollen.
Luc Somerhausen verstarb 1982 mit 79 Jahren. Der letzte Zeuge Fernand Erauw verschied 83-jährig im Jahr 1997.
[Bearbeiten] Liberté chérie-Denkmal
Das durch den Architekten Jean De Salle geschaffene Denkmal an dieses Ereignis auf der Gedenkstätte der Emslandlager in Esterwegen („Begräbnisstätte Esterwegen“) besteht seit November 2004.
Der grob behauene, kubische halb mannshohe granitene Stein des Denkmals wird umgeben von aufgebogenem Baustahlgewebe, das symbolisch für Stacheldraht steht. Doppelt handtellergroß wurden links oben die freimaurerischen Hauptsymbole Winkelmaß und Zirkel angebracht. Das Denkmal befindet sich auf einem freimaurerisch so genannten „musivischen Pflaster“ (Schachbrettmuster), dem Sinnbild für die Gegensätze des Lebens.
Unter Beteiligung von sieben ausländischen Großmeistern und Großvertretern sowie Hunderten von Freimaurer-Schwestern und Brüdern wurde am 13. November 2004 eine freimaurerische Gedenkfeier mit Enthüllung des Denkmals veranstaltet. Peter B. Dörfler sprach für die deutschen Großlogen.
[Bearbeiten] Siehe auch
[Bearbeiten] Literatur
- É. Froidure: Le calvaire des malades au bagne d’Esterwegen. Pax Éditions, Liége 1946
- L. Somerhausen: Une loge belge dans un camp de concentration. In: Feuillets d’information du Grand Orient de Belgique. Nr 73, 1975
- Fernand Erauw: L'odysée de Liberté Chérie. 1993 - Erzählung der Geschichte dieser Loge.
- Pierre Verhas: Liberté chérie: Une loge maçonnique dans un camp de concentration. Bruxelles, Labor, 2005, ill., 62 p., 8 €.
[Bearbeiten] Literarische Bearbeitung
- Christian Jacq: Der Mönch und der Meister. Roman, ISBN 3-499-22430-5 (Fiktionale Behandlung des Themas)