Pygmalion (Rousseau)
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Pygmalion ist neben dem Dorfwahrsager (Le Devin du village, 1752) das einflussreichste, wenn auch selten aufgeführte Bühnenwerk des Philosophen Jean-Jacques Rousseau. Es ist eines der ersten Melodramen (das heißt, es bestand aus gesprochenem Text und pantomimischer Gestik mit Musikbegleitung) und begründete vor allem in deutschen Sprachgebiet, wo es sich in neuen Vertonungen (z. B. von Anton Schweitzer und Georg Benda) verbreitete, eine neue Theatergattung.
Rousseau schrieb den Text vermutlich 1762. Zusammen mit dem Amateurkomponisten Horace Coignet verfasste er auch die Musik. Aufgeführt wurde das mit seiner Ouvertüre etwa halbstündige Stück im April 1770 in Lyon. Ohne Rousseaus Einverständnis, der auf der Unwiederholbarkeit der Uraufführung bestand und seine Treue zur ersten Interpretin der Statue bekräftigte, war es seit 1775 etwa fünf Jahre lang im Repertoire der Comédie-Française.
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[Bearbeiten] Vorgeschichte
Die Sage vom Bildhauer Pygmalion, der sich unglücklich in eine seiner Statuen verliebt, bis die Göttin Venus sich seiner erbarmt und die Statue lebendig macht, stammt aus Ovids Metamorphosen. Im Mittelalter, das sich um die Eindämmung jedes weltlichen Bilderkults bemüht, ist der Stoff gewissermaßen tabu. Seit der Renaissance gibt es jedoch wieder Neufassungen, und im Barock wird er ein beliebtes Thema für Ballette. In allen Versionen werden die Nichtigkeit und Ausweglosigkeit von Pygmalions Bemühen und die göttliche Gnade als Lösung des Problems herausgestellt. Damit ist Pygmalion ein wichtiges Vanitas-Symbol.
[Bearbeiten] Rousseaus Beweggründe
Rousseaus Pygmalion ist die erste Fassung des Stoffs, in der die Hauptfigur sein Bild durch Perfektionierung ohne göttliche Hilfe lebendig macht. Beim letzten Ansetzen des Meißels wird der Stein lebendig. Galathée beginnt zu sprechen und erkennt ihren Schöpfer umgekehrt als ihr Spiegelbild: Sie berührt sich und sagt „ich“, berührt eine andere Statue und sagt „nicht ich“. Daraufhin berührt sie Pygmalion und sagt: „Nochmals ich.“
Von Bedeutung ist, dass der Bildhauer seinem belebten Standbild darauf ewige Treue schwört. Er ist kein Sammler. In Jean-Philippe Rameaus Oper Pigmalion (1748), die Rousseau zweifellos als Gegenbild vorschwebte, wird die auf das Bild fixierte Hauptfigur stets noch einer lebendigen Geliebten untreu, was der bilderfeindlichen Tradition der Pygmalion-Darstellungen entsprach. Bei Rameau geschieht die Belebung der Statue durch den zu Hilfe eilenden Amor.
Bei der Belebung des Bildes ohne göttliche Hilfe, wie sie Rousseau vorstellt, spielt Musik eine entscheidende Rolle. Die Absicht, Musik erklingen zu lassen, war ihm aber offenbar wichtiger war als die Art der Musik. Dies zeigt zugleich mit der stolzen Überwindung der Vanitas einen Bedeutungswechsel des Musikalischen an: Musik beklagt fortan nicht mehr ein unausweichliches Vergehen durch ihr eigenes machtloses Verklingen, sondern sie wird zum Zeichen eines Lebendigwerdens, als Chiffre für die Imagination des Betrachters, der das unbewegte und stumme Bild bewegt und beredt macht. Musik steht von nun an für den kollektiven Willen eines "Publikums", der nicht mehr zum Scheitern verdammt sein soll. Dass Rousseau der melodramatischen Musik diese Bedeutung verleiht, steht im Zusammenhang mit seiner Theorie der Volonté générale.
Instrumentalmusik wurde bis zum 18. Jahrhundert als minderwertig gegenüber dem Gesang betrachtet. Dass die geisterhaften Stimmen von Musikinstrumenten zur Belebung eines Bildes beitragen könnten, war damals eine neue und gewagte Behauptung. Rousseau war insofern konservativ, als er Instrumentalmusik nur als Tanzmusik, also im Zusammenhang mit der Körperbewegung akzeptierte. Die melodramatische Musik in Pygmalion kann im Zusammenhang mit den Bemühungen jener Zeit gesehen werden, das Ballett von den formalisierten Schrittfolgen des Gesellschaftstanzes zu befreien, wie es Jean Georges Noverre im Sinn hatte.
Auch die Ouvertüre, die das wackere Hämmern des Bildhauers nachahmt, demonstriert selbstbewusste Lebensbejahung statt demütiger Lebensverneinung. Allerdings zögerte Rousseau lange Jahre und inszenierte sein Scheitern, bis ihm der Kaufmann Coignet beistand und die Sache zur Aufführung brachte.
[Bearbeiten] Zeitgeschichtliche Parallelen
Im Entstehungsjahr 1762 wurde Glucks Oper Orfeo ed Euridice uraufgeführt, in der Orpheus seine verstorbene Frau Eurydike durch Gesang lebendig macht, statt sie durch mangelndes Vertrauen in die Götter zu verlieren. Bei Gluck ist es allerdings noch der Gott Eros, der rettend dazwischentritt und die Belebung bewirkt. An die Selbstherrlichkeit Pygmalions reicht Orfeo noch nicht heran.
Mit Orfeo zusammen demonstriert Rousseaus Pygmalion in den 1760er-Jahren ein scheinbares Umkippen des künstlerischen Scheiterns in ein Gelingen, das sich in der Zeit Beethovens verschärft und bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs zur herrischen Pose steigert (vgl. Also sprach Zarathustra (Strauss)).
Mediengeschichtlich betrachtet hängt dies zusammen mit dem vergrößerten Stellenwert von Aufzeichnungen, seien es bürgerliche Verträge gemäß Rousseaus im gleichen Jahr erschienenem Gesellschaftsvertrag (1762) oder seien es Musiknoten großer Komponisten, die mehr und mehr zum Repertoirewerk erklärt werden. Das "Festgehaltene" sollte künftig gelten.
[Bearbeiten] Literatur
- Annegret Dinter: Der Pygmalion-Stoff in der europäischen Literatur. Heidelberg: Winter 1979. ISBN 3533027767
- Milovan Stanic, "Pygmalion révolutionnaire", in: Revue d’esthétique, 17:1990, S. 79-96.
- Carl Dahlhaus, Sieghart Döhring (Hg.): Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 5, München: Piper 1994, S. 464f. ISBN 3492024157
[Bearbeiten] Siehe auch
Vanitas, Melodram (Musik), Melodram (Theater), Pantomime, Pygmalion-Effekt