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Jean-Jacques Rousseau

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Jean-Jacques Rousseau, Portrait von Maurice Quentin de La Tour
Jean-Jacques Rousseau, Portrait von Maurice Quentin de La Tour

Jean-Jacques Rousseau (* 28. Juni 1712 in Genf; † 2. Juli 1778 in Ermenonville bei Paris) war ein französisch-schweizerischer Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge und Komponist. Er war einer der einflussreichsten europäischen Autoren des 18. Jahrhunderts.

Inhaltsverzeichnis

Leben und Schaffen

Rousseau wurde in der calvinistischen schweizer Republik Genf als Sohn des Uhrmachers Isaak Rousseau geboren, dessen Vorfahren als Hugenotten aus Frankreich dorthin ausgewandert waren. Rousseaus Mutter, die Tochter eines protestantischen Pfarrers war, starb wenige Tage nach seiner Geburt, woraufhin eine jüngere Schwester väterlicherseits einzog und sich um Kind und Haushalt kümmerte. Der Vater erzog den etwas kränklichen Knaben offenbar im Rahmen seiner Möglichkeiten und förderte z. B. seine Lust am Lesen, doch musste er 1722 Genf wegen Tätlichkeiten bei einem Streit verlassen. Der Zehnjährige kam zunächst zu einem Pastor in Pension und lebte dann einige Zeit im Haushalt einer anderen Tante. Mit zwölf wurde er als Lehrling zu einem Gerichtsschreiber gegeben, ein Jahr später zu einem Graveur.

Als er 1728 bei der Rückkehr von einem Sonntagsausflug das Stadttor schon verschlossen fand, folgte er einer schon länger gehegten Idee und ging auf Wanderschaft. In Savoyen geriet er nach einigen Tagen an einen katholischen Geistlichen, der ihn an eine Madame de Warens in Annecy vermittelte, die gerade aus der Schweiz nach Savoyen ausgewandert und Katholikin geworden war. Sie nahm Rousseau auf, schickte ihn aber drei Tage später nach Turin, wo er sich nach kurzer Unterweisung im Hospice des catéchumènes katholisch taufen ließ.

Nach einem Jahr Turin, wo er sich zunächst als Diener, dann als Sekretär in adeligen Häusern verdingt hatte, kehrte er 1729 zurück zu Mme de Warens. Ihrem Vorschlag folgend trat er in das Priesterseminar von Annecy ein, verließ es aber bald. Da er sich an ihren Hausmusikstunden gern singend beteiligt hatte, vermittelte sie ihn nun an den Leiter der Dom-Musikschule, der ihn zu sich nahm und ihn in Chorgesang und Flöte unterrichtete. Einige sehr fruchtbare Monate, in denen Rousseau die Grundlagen seiner musikalischen Kenntnisse legte, endeten mit dem plötzlichen Weggang des Musikmeisters nach Lyon. Rousseau blieb zunächst bei ihm, kehrte dann aber zurück nach Annecy.

Dort stellte er fest, dass Madame de Warens nach Paris abgereist war. Hierauf ging auch er auf Wanderschaft, die ihn unter anderem nach Lausanne und Neuchâtel führte, wo er sich als Musiklehrer zu betätigen versuchte, und erstmals nach Paris, wo er den Sommer 1731 als Diener eines jungen Schweizers verbrachte.

Nachdem er erfahren hatte, dass Mme de Warens wieder in Savoyen war, nunmehr in Chambéry, wurde er dort wieder vorstellig bei ihr. In der Tat nahm sie ihn nun wie einen Ziehsohn bei sich auf und vermittelte ihm eine Schreiberstelle im Katasteramt, die er jedoch 1732 nach acht Monaten aufgab, um sich als Musiklehrer zu betätigen.

Es folgten fünf relativ glückliche, für seine Bildung – die er fast gänzlich autodidaktisch erwarb – sehr wichtige Jahre. Er las, musizierte, experimentierte und begann zu schreiben. Auch wurde er etwas widerstrebend von „Maman“, wie er sie nannte (obwohl sie nur 13 Jahre älter war als er), in die Liebe eingeführt.

Im Sommer 1737 erlitt er eine Augenverletzung bei einem chemischen Experiment und reiste im Herbst zu einem Arzt nach Montpellier. Als er Anfang 1738 zurückkehrte, hatte Madame de Warens mit ihrem neuen Sekretär und Hausverwalter ein Verhältnis begonnen. Rousseau blieb trotzdem noch zwei Jahre, bis er sich im Frühjahr 1740 als Hauslehrer in Lyon verdingte.

1742 reiste er nach Paris, um ein von ihm entwickeltes Notensystem von der Académie des Sciences patentieren zu lassen. Er durfte es dort präsentieren, bekam auch ein Zertifikat und ließ Anfang 1743 seine Präsentation als Dissertation sur la musique moderne im Druck erscheinen, doch blieb die Sache folgenlos.

Immerhin erhielt er in Paris Zugang zum Salon von Madame Dupin und konnte einige Verbindungen knüpfen. Auch begann er eine Oper: Les Muses galantes. Im Sommer 1743 wurde er dem neuernannten französischen Botschafter in Venedig als Privatsekretär empfohlen und reiste dorthin. Das Verhältnis endete aber im Streit und Rousseau kehrte im Herbst 1744 zurück nach Paris.

Paris

Hier fand er 1745 Anschluss an diverse Mäzene (bei denen er seine fertige Oper aufführen konnte) und an andere junge Intellektuelle, insbes. Denis Diderot und, etwas später, Jean le Rond d’Alembert, den Mitherausgeber der 1746 von Diderot initiierten Encyclopédie. Daneben liierte er sich mit der 23-jährigen Wäscherin Thérèse Levasseur.

Die nächsten Jahre waren, ohne eigentlich erfolglos zu sein, eine Zeit des Tastens (z.B. schrieb er 1747 eine Komödie, L’Engagment téméraire) und der materiellen Unsicherheit. Letztere führte auch dazu, dass Thérèse ihre 1746 und 48 geborenen Kinder jeweils bei den „Findelkindern“ (Enfants trouvés) ablud, wo sie wahrscheinlich, wie die meisten der so entsorgten Säuglinge, nicht überlebten. Rousseau entschuldigte diese damals durchaus gängige Problemlösung damit, dass seine Arbeit schlecht oder gar nicht honoriert werde, so dass Thérèse für beider Lebensunterhalt aufkommen müsse und sich nicht mit Kindern belasten könne.

1749 war ein entscheidendes Jahr für Rousseau. Zu Jahresbeginn wurde er von d'Alembert mit der Abfassung musikologischer Artikel für die Encyclopédie betraut. Im Herbst besuchte er den in der Festung Vincennes inhaftierten Diderot und las unterwegs im Mercure de France die Preisfrage der Académie von Dijon: « Le Rétablissement des sciences et des arts a-t-il contribué à épurer les mœurs? » (deutsch: „Hat die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen, die Sitten zu reinigen?“). Er hatte die provokante Idee, die Frage zu verneinen, und schrieb seinen Discours sur les Sciences et les Arts („Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste“), worin er die nach Luxus strebende zeitgenössische europäische Gesellschaft in die sittliche Dekadenz abgleiten sieht. Der Discours lief den Vorstellungen der meisten Intellektuellen der Zeit zwar völlig entgegen, fiel aber trotzdem auf erstaunlich fruchtbaren Boden. Rousseau erhielt 1750 den ersten Preis und wurde, auch dank der Diskussion, die er auslöste, über Nacht berühmt.

Inzwischen verdiente er auch etwas Geld und konnte mit Thérèse zusammenziehen, was sie beide nicht hinderte, 1751 auch ein drittes Neugeborenes als Findelkind abzugeben.

Ende 1752 wurde mit großem Erfolg seine Oper Le Devin de village („der Dorfwahrsager“) zunächst vor dem Hof und 1753 auch in Paris aufgeführt. Rousseau sollte sogar dem König vorgestellt werden, doch entzog er sich der Ehrung (und verpasste wahrscheinlich die Zuweisung einer jährlichen „Pension“). Nach dem Erfolg des Devin wurde vom Théâtre-Français auch seine Komödie Narcisse, ein Jugendwerk, angenommen.

Beginnende Schwierigkeiten

Rousseau hätte sich nun etablieren können, doch fing er im Gegenteil an, sich in eine Art Fundamentalopposition zu begeben. Noch 1753 begann er eine zweite höchst kritische Preisschrift (s. u.) und ließ er eine wenig schmeichelhafte Lettre sur la musique française erscheinen, auf die das Opernorchester mit dem Erhängen einer Rousseau-Puppe reagierte. 1754 reiste er (mit Zwischenstation bei Mme de Warens) nach Genf, nahm dort die Staatsbürgerschaft wieder an und schwor dem Katholizismus ab.

1755 publizierte er, vorsichtshalber in Amsterdam, seinen Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes („Abhandlung über Ursprünge und Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“), der wiederum die Antwort auf eine Preisfrage der Académie de Dijon war: « Quelle est l'origine de l'inégalité parmi les hommes, et est-elle autorisée par la loi naturelle? » (deutsch: „Was ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, und wird sie vom Naturrecht erlaubt?“). Rousseau, der Kleinbürger ohne Besitz, erklärt hierin die soziale Ungleichheit aus der Herausbildung der Arbeitsteilung und der dadurch ermöglichten Aneignung der Erträge der Arbeit Vieler durch einige Wenige, die anschließend auch die Herrschaft übernehmen und autoritäre Staatswesen organisieren, um ihren Besitzstand zu schützen. Rousseau wurde mit dieser wahrhaft revolutionären Schrift einer der Väter des europäischen Sozialismus.

Montmorency

Rousseaus Grab in Paris
Rousseaus Grab in Paris

Anfang 1756 lehnte er den Bibliothekarsposten ab, den ihm die Stadt Genf anbot. Stattdessen siedelte er um nach Montmorency nördlich von Paris als Gast der vielseitig interessierten, selbst schriftstellernden Mme d'Épinay, einer Freundin von Diderot. Mit diesem und dem Kreis der „philosophes“ um ihn verfeindete er sich allerdings 1758, als er auf den kritischen Genf-Artikel, den d’Alembert für die Encyclopédie verfasst hatte, mit der Lettre à d'Alembert sur les spectacles reagierte, worin er das Theater, ein Lieblingskind der Aufklärung (und zunächst ja durchaus auch von ihm), als potentiell unsittlich und als unnütz angeprangerte.

In Montmorency, wo er 1758 ein Häuschen für sich und Thérèse mietete, vorübergehend aber auch Gast des hochadeligen Duc de Luxembourg war, schrieb er – teilweise nebeneinander – innerhalb von knapp sechs Jahren seine erfolgreichsten und langfristig wirksamsten Werke: den empfindsamen Briefroman La Nouvelle Héloïse („Die neue Heloise“, 1756–58, erschienen 1761), der die letztlich unmögliche Liebe des bürgerlichen Intellektuellen Saint-Preux zu der adligen Julie d'Étanges darstellt und z. T. von Rousseaus Leidenschaft für die Schwägerin von Mme d’Épinay, Mme d’Houdetot, inspiriert war; weiter den Bildungsroman Émile (1759–61, erschienen 1762), der eine ideale Erziehung darstellt, die Kinder und Jugendliche nicht zivilisatorisch verdirbt; und drittens die staatstheoretische Schrift Du Contrat social („der Gesellschaftsvertrag“, 1760/61, erschienen 1762), die die Rechte der Individuen gegenüber dem Staat, aber auch dessen Ansprüche gegenüber den Individuen zu definieren und zu begründen versucht und den heute so wichtigen Begriff der Volkssouveränität prägt, auf dem die Legitimität von Volksentscheiden und allgemeinen Wahlen gründet.

Während La Nouvelle Héloïse sofort nach ihrem Erscheinen Anfang 1761 großen Erfolg hatte und eine Welle von Briefromanen in ganz Europa auslöste (darunter Goethes Werther), wurde der Contrat social nach seinem Erscheinen im April 1762 verboten. Dem Émile erging es ähnlich, als er Ende Mai erschien. Die Sorbonne verurteilte das Buch Anfang Juni, das Parlement von Paris verbot es wenige Tage danach und erließ einen Haftbefehl gegen den Autor. Stein des Anstoßes war vor allem die im Emile als Einschub enthaltene Profession de foi d'un vicaire savoyard („Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars“), worin Rousseau eine quasi religiöse Verehrung der Natur propagiert. Auch die calvinistischen Oberen in Genf waren entrüstet. Sie verboten das Buch noch im Juli und erließen ebenfalls Haftbefehl.

Neuerliches Wanderleben

Rousseau, der sofort geflüchtet war, fand Aufnahme bei einem Freund im Kanton Bern, wurde aber sehr rasch ausgewiesen. Im Juli wandte er sich über den Gouverneur der damaligen preußischen Exklave Neuchâtel/Neuenburg an Friedrich den Großen, der ihm Asyl und etwas später sogar Bürgerrecht gewährte. Rousseau ließ sich nieder in dem neuenburgischen Städtchen Môtiers, wohin er Thérèse nachholte und wo er begann, sich als Armenier zu kleiden. Anfang 1763 stellte er hier sein wohl noch in Montmorency begonnenes Dictionnaire de la musique fertig. 1764 fing er an botanische Studien zu treiben.

Als er sich Ende 1765 auch in Môtiers unwillkommen und verfolgt fühlte, nahm er eine Einladung des Philosophen David Hume an und ließ sich einen Durchreise-Pass für Frankreich ausstellen. Bei einem Aufenthalt in Straßburg wurde er mit einer Aufführung des Devin de village geehrt, in Paris war er Gast des Prince de Conti und empfing bei ihm Besuche von Sympathisanten.

1766 und die erste Jahreshälfte 1767 verbrachte er überwiegend in England, anfangs bei Hume, mit dem er sich aber zerstritt und der ihn attackierte. Immerhin fand Rousseau in England auch Sympathisanten, die z.B. den König bewogen, ihm eine Pension zu gewähren. 1767 und 1768 lebte er an verschiedenen Orten Frankreichs, unter anderem auf einem Schloss von Conti. Hierbei bewegte er sich, denn der Haftbefehl war ja nicht aufgehoben, unter falschem Namen und gab Thérèse als seine Schwester aus. 1769 und 1770 lebten sie auf einem Bergbauernhof in der südostfranzösischen Dauphiné, nachdem sie im August 68 dort endlich geheiratet hatten.

In Folge der zahlreichen Verunglimpfungen und realen Verfolgungen seit 1762 entwickelte Rousseau nach und nach einen Verfolgungswahn. Dieser erzeugte einen Erklärungs- und Rechtfertigungsdrang, aus dem heraus er ab 1763 eine ganze Reihe kürzerer und längerer autobiografischer Texte verfasste. Der bekannteste und umfangreichste darunter waren die auch intime und für den Autor unvorteilhafte Details ausbreitenden Confessions („Bekenntnisse“, 1765–70), die erst posthum publiziert wurden und die Untergattung der selbstentblößenden Autobiografie begründeten. Den Titel wählte Rousseau in selbstbewusster Anspielung auf die Confessiones des Augustinus.

Im Frühjahr 1770 verließ Rousseau seinen Bauernhof Richtung Paris. Bei einem Aufenthalt in Lyon ließ der Vorsteher der Kaufmannschaft ihm zu Ehren seinen Devin und sein lyrisches Kleindrama Pygmalion aufführen. Ab Juni lebte er wieder, zurückgezogen und von den Behörden geduldet, mit Thérèse in Paris. Er wurde hin und wieder zu Lesungen eingeladen und es scharten sich (denn sichtlich arbeitete die Zeit nun für ihn) einige Sympathisanten und Jünger um ihn, darunter ab 1771 der später sehr bekannte Autor Bernardin de Saint-Pierre.

1772-1775 verfasste er den autobiografischen Dialog Rousseau juge de Jean Jacques. 1774 gab er sein Dictionnaire des termes d’usage en botanique in Druck. 1776-1778 schrieb er sein letztes längeres Werk: die in lyrischer Prosa gehaltenen Rêveries du promeneur solitaire, („Träumereien des einsamen Spaziergängers“), die auf ebenfalls neue Art Gegenwartsmomente zum Ausgangspunkt von autobiografischen Rückblicken machen und mit ihrem Einfangen von Naturstimmungen als eine Vorbereitung der Romantik gelten.

Im Mai 1778 folgte er einer Einladung des Marquis de Girardin auf dessen Schloss Ermenonville, wo er kurz danach starb. Er wurde auf der Île des peupliers („Insel der Pappeln“) im Schlosspark begraben.

1794 ließ der jakobinische Wohlfahrtsausschuss seine Gebeine triumphal ins Pariser Panthéon überführen.

Rousseaus Einfluss auf das politische Denken der Französischen Revolution, als deren wichtigster geistiger Wegbereiter er gilt, ist kaum zu überschätzen. Auch die politischen Theorien des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts verdanken ihm viel.

Musik und Theater

Mit selbst gedichteten und vertonten Stücken initiierte Rousseau zwei der bedeutendsten „bürgerlichen“ Theatergattungen des 19. Jahrhunderts: Mit dem publizistisch durch seine Lettre sur la musique française (1753) unterstützten Intermezzo Le Devin du village (1752) begründete er die Opéra comique, und mit seinem Melodram Pygmalion (1770, Musik von Coignet) schuf er das Theatermelodram. Durch sein Musiklexikon Dictionnaire de musique (1767) wurde er zudem zu einem der meistzitierten Ästhetiker des 18. Jahrhunderts.

Rousseaus Theorien

Menschenbild

Ausgangspunkt des Rousseau'schen Denkens ist der Abscheu vor der etablierten Kultur und Gesellschaft seiner Zeit. Er stellt fest, dass die in Gesellschaft lebenden Menschen böse und eitel sind. Durch aufeinandertreffende unterschiedliche Interessen werden sie dazu verleitet, ihre wahren Absichten voreinander zu verbergen.

„Die Menschen sind böse; eine traurige und fortdauernde Erfahrung erübrigt den Beweis; jedoch, der Mensch ist von Natur aus gut, ich glaube, es nachgewiesen zu haben; […] Man bewundere die menschliche Gesellschaft, soviel man will, es wird deshalb nicht weniger wahr sein, dass sie die Menschen notwendiger Weise dazu bringt, sich in dem Maße zu hassen, in dem ihre Interessen sich kreuzen, außerdem sich wechselseitig scheinbare Dienste zu erweisen und in Wirklichkeit sich alle vorstellbaren Übel zuzufügen.“

– Zweiter Diskurs, Anmerkung IX

Rousseau kritisiert nicht nur die Gesellschaft seiner Zeit, sondern die Vergesellschaftung des Menschen schlechthin. Damit steht er in starkem Gegensatz zum Denken seiner Zeit: Seine Theorien wurden von den Vertretern der christlichen Kirchen sowie auch von vielen Denkern der Aufklärung abgelehnt. Die christlichen Kirchen hielten die Idee des edlen Wilden für abwegig; der Mensch war für sie durch die Erbsünde belastet. Die Aufklärer schließlich betrachteten die Menschen als vernunftbegabt, lern- und gesellschaftsfähig.

Wenn jedoch der Mensch ein gemeinschaftsfähiges Wesen (griechisch: zoon politikon) wäre, wie auch Aristoteles von Stagira behauptete, dann sollte gemäß Rousseau eigentlich überall freudvolle Harmonie herrschen. Da das nicht der Fall ist – die Menschen hassen, betrügen, verleugnen, belügen und morden – schließt er, dass der Mensch von Natur aus ein ungeselliges Wesen und nur außerhalb der Gesellschaft „gut“ ist. Diese These projiziert er nun mittels der genetischen Methode an ihren logischen und zeitlichen Anfang und gelangt so zum Begriff Naturzustand.

Im hypothetischen Naturzustand ist der einzige Trieb des Menschen die Selbstliebe (amour de soi). Sie gebietet ihm: „Sorge für dein Wohl mit dem geringstmöglichen Schaden für die anderen“ (Zweiter Diskurs). Neben der Selbstliebe kennt der Naturmensch das Mitleid (pitié), ein Gattungsgefühl, das nach Rousseaus Überzeugung auch die Tiere kennen. Alle anderen Fähigkeiten des Menschen ruhen noch, also die Vernunft, die Einbildungskraft und das Gewissen. Der Mensch ähnelt im Naturzustand einem wilden Tier, welches nur um sich selbst kreist. Sein Gutsein ist keine Bravheit im moralischen Sinne, sondern eher im Sinne von „naturgehorchend“.

Auf Grund äußerer Umstände, etwa Naturkatastrophen, wird er jedoch dazu gezwungen, sich mit anderen Gattungsexemplaren zusammenzutun. So entstehen Kultur und Gesellschaft und das Böse tritt in die Welt. Von großer Bedeutung ist die Einbildungskraft, mittels derer das Individuum aus seinem urwüchsig-narzisstischen Schlummer erwacht und sich in andere Wesen hineinversetzen kann. Sie ermöglicht aber auch den Vergleich der Individuen untereinander. Dadurch kann die Selbstliebe (amour de soi) in die böse Eigenliebe (amour propre) umschlagen: Der Mensch sieht sich nun nur noch mit den Augen der anderen. Er möchte als leidenschaftlicher Rangkämpfer immer den ersten Platz einnehmen. Darüber hinaus verspürt er den drängenden Wunsch, dass die Nebenmenschen ihn sich selbst vorziehen. Dies ist jedoch schwer möglich, da auch alle anderen Menschen von der Eigenliebe angetrieben werden. So kommt es dazu, dass die Menschen ihre wahren Absichten verbergen. Sie geben ihr Eigeninteresse als Allgemeininteresse aus. Quelle des Übels sind also das naturferne Konkurrenzdenken und die amour propre. Im Gesellschaftzustand erwachen zudem die Vernunft, das bewusste Mitleid sowie auch die „widernatürliche“ moralische Reflexion.

Grundlage der Rousseau'schen Ethik ist nicht die Vernunft. Diese kann bestenfalls helfen, Vorteilhaftes und Unvorteilhaftes zu unterscheiden. Damit der Mensch aber auch gut handelt, bedarf es des Instinktes. Rousseau verwendet hier zwar den Begriff des christlichen „Gewissens“ und spricht gar von einer „angeborenen Liebe zum Guten“. Aber wie aus seinen Ausführungen im Émile hervorgeht, ist hier eine vorbewusste, gewissermaßen urweltliche Grundfähigkeit, eben der Instinkt, gemeint. Jemand, der gegen seinen Instinkt handelt, ist ein depravierter und unglücklicher Mensch. Die urwüchsige Selbstliebe zwingt uns geradezu, instinktgesteuert zu handeln, da sie die Befriedigung unserer Bedürfnisse verlangt. Rousseaus Denken zeichnet sich also dadurch aus, dass er nicht allgemeine ethische Regeln aufstellt, sondern zeigt, welches Interesse der Einzelne daran hat, „gut“ zu handeln.

Eine Rückkehr in den Naturzustand schließt Rousseau ausdrücklich aus, auch wenn viele Kritiker, allen voran Voltaire, ihm vorhielten, sie empfohlen zu haben. Rousseau fragt vielmehr, wie in konkurrierenden Gesellschaften kollektives, vom Instinkt gesteuertes Handeln möglich werden kann. Dabei beschäftigt er sich nicht nur mit der Kunst der Aufzucht des Einzelmenschen, der Pädagogik, sondern auch mit der Theorie des an der Natur orientierten Staates.

Staatstheorie

Rousseau stellt sich in seinen staatstheoretischen Texten die Frage, wie ein von Natur aus wildes und freies Individuum seine Freiheit behalten kann, wenn es aus dem Naturzustand in den Zustand der Gesellschaft eintritt bzw. diesen Zustand begründet. Rousseau geht davon aus, dass die Menschen im Naturzustand unabhängig voneinander leben. Sie verfügen über ausreichend Güter und sind friedlich. Insbesondere ist der Mensch weder der Vernunft und der Wissenschaft noch der Gier nach Luxusgütern verfallen. Im Unterschied zu Hobbes oder Locke zeichnet Rousseau ein positives Bild vom Menschen. Andererseits hegt er jedoch auch Verachtung für die genuin menschlichen Eigenschaften, v. a. für die Neigung zum übertriebenen Vernünfteln. Anderen Vertragstheoretikern wirft er vor, bei ihren Schilderungen des Menschen im Naturzustand nicht realitätsnah geblieben zu sein und dem „natürlichen Menschen“ überwiegend negative Attribute zugeschrieben zu haben. Nach Rousseau setzt eine realistischere Betrachtung des Menschen nicht vor dem Gesellschaftszustand an. Der Mensch lebt immer in Gesellschaft. Erste gesellschaftliche Strukturen entstehen durch das Auftauchen der Institution des Eigentums. Der Mensch ist deshalb niemals autark, sondern von anderen abhängig; sei es als Herr, oder als Knecht. Um seinen Leidenschaften folgen zu können, unterdrückt der Eigentümer seine Knechte. Dies sind nach Rousseau die „schlechten“ Gesellschaftzustände, die er in seiner Abhandlung zum Sozialvertrag (contrat social) kritisiert. Grundlage dieser Zustände ist ein Vertrag, der jedem ermöglicht, sich wieder so frei zu fühlen, wie im Naturzustand. Dabei unterscheidet Rousseau „natürliche Unabhängigkeit“ von „bürgerlicher Freiheit“. Im Gegensatz zu Montesquieu wollte Rousseau das Volk in allen Bereichen der Politik einbeziehen und nicht nur in einer Gewalt (Legislative) mitwirken lassen.

Nach Auffassung von Rousseau verpflichtet sich jeder, sich dem allgemeinen Willen, der volonté générale, zu unterwerfen. Dieser Allgemeinwille ist ein auf das Wohl des ganzen Volkes gerichteter Wille aller Bürger. Als solcher ist er die Summe der sich überschneidenden Teile der Einzelwillen. Jeder Einzelbürger ist Teil eines religiös überhöhten und konfessionell neutralen Staatswesens, welches den allgemeinen Willen vollstreckt und zugleich totale Verfügungsgewalt über ihn hat. Der Staat ist befugt, Gesetze zu verabschieden, die jederzeit den unantastbaren Willens des Volksganzen zum Ausdruck bringen.

Rousseaus Theorie des allgemeinen Willens stellt einen originellen und wirkungsmächtigen Versuch dar, der feudalistischen Königs- und Adelsherrschaft seiner Zeit die Legitimationsgrundlage zu entziehen. Neben Voltaire gilt er als einer der wichtigsten Staatstheoretiker im Zeitalter der französischen Revolution. Immanuel Kant war wesentlich von Rousseau beeinflusst. Darüberhinaus ist bis heute umstritten, ob und inwiefern Rousseaus Staatsauffassung auch einen signifikanten Einfluss auf Robespierre und andere Revolutionäre im Frankreich des 18. Jahrhunderts hatte. Fraglich ist, ob Rousseau auch auf die totalitären Ideologen und Politiker des 20. Jahrhunderts wirkte, wie es vor allem konservative Kritiker behaupten.

Pädagogik

In Rousseaus pädagogischem Hauptwerk Emil oder über die Erziehung wird die fiktive Erziehung eines Jungen beschrieben. Die Erziehung beginnt im Kindesalter und endet mit der Heirat Émiles mit 25 Jahren. Der Zögling wird in seiner Kindheit von allen kulturellen Einflüssen abgeschottet. So wie die Natur einfach da ist, soll auch die urwüchsige Natur des Kindes zur Entfaltung gebracht werden. Jegliche direkte Einflussnahme von außen ist demnach zu vermeiden.

Das Hauptziel in der Jugendzeit Émiles ist die Herausbildung der sozialen Instinkte. Rousseau betont zwar immer wieder die Selbsttätigkeit des Zöglings, der sich vieles selbst aneigne, doch die eigentliche Kunst der Erziehung besteht darin, Émile soweit zu beeinflussen, dass sein Wille mit dem des Erziehers übereinstimmt. Die pädagogische Arbeit findet gewissermaßen „hinter seinem Rücken“ statt.

Rousseaus Theorien beeinflussten viele namhafte Pädagogen und Pädagoginnen, so z. B. Johann Heinrich Pestalozzi, Johann Gottfried Herder, Adolph Diesterweg, Maria Montessori und Ellen Key.

Werke

s:
Wikisource
Wikisource: Jean-Jacques Rousseau – Quellentexte
  • Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes (Abhandlung über den Ursprung und die Grundlage der Ungleichheit unter den Menschen), 1755
  • Julie ou la Nouvelle Héloïse (Julie oder Die neue Héloïse), 1761
  • Du contrat social ou principes du droit politique (Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes), 1762
  • Émile (Emil oder über die Erziehung), 1762
  • Les Confessions (Die Bekenntnisse), 1782
  • Rêveries d'un promeneur solitaire (Träumereien eines einsamen Spaziergängers), 1782
  • Dictionnaire de Musique, Paris 1768
Ausgaben
  • Kurt Weigand (Übers.) (Hrsg.): Schriften zur Kulturkritik. 5. Auflage. Meiner, Hamburg 1995, ISBN 978-3-7873-1200-9 (Franz.-dt.).
  • Lettres élémentaires sur la botanique (Zehn botanische Lehrbriefe für eine Freundin). 1978 (Insel-Taschenbuch 366).
  • Heinrich Meier (Hrsg.): Diskurs über die Ungleichheit. Schöningh, Paderborn 1984, ISBN 3-8252-0725-0 (Krit. Ausg. d. integralen Textes).
  • Henning Ritter (Hrsg.): Schriften. Hanser, München 1978, ISBN 3-446-12503-5.
  • Dictionnaire de Musique, Nachdruck Hildesheim etc. 1969
  • J.J. Rousseau, Musik und Sprache; Ausgewählte Schriften, übersetzt von D. Gülke und P. Gülke; Wilhelmshaven etc. 1984

Literatur

  • Winfried Böhm, Frithjof Grell (Hrsg.): Jean-Jacques Rousseau und die Widersprüche der Gegenwart. Ergon, Würzburg 1991, ISBN 3-928034-06-5.
  • Jörg Bockow: Erziehung zur Sittlichkeit – Das Verhältnis von praktischer Philosophie und Pädagogik bei Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant.
  • David Edmonds, John Eidinow: Rousseau's Dog. Two Great Thinkers at War in the Age of Enlightenment. Harper Collins (Ecco), New York 2006, ISBN 0060744901. und Faber & Faber, London 2006, ISBN 0571224059 (deutsch: Frühjahr 2008) (über R. und David Hume) Inhaltsangabe (engl.): [1]
  • Nils Ehlers: Der Widerspruch zwischen Mensch und Bürger bei Rousseau. Cuvillier, Göttingen 2004, ISBN 3-86537-306-2.
  • Iring Fetscher: Rousseaus politische Philosophie. Suhrkamp, Frankfurt/M 1989, ISBN 3-518-27743-X.
  • Maximilian Forschner: Rousseau. Alber, Freiburg 1977, ISBN 3-495-47349-1.
  • Christiane Landgrebe: "Ich bin nicht käuflich" – Das Leben des Jean-Jaques Rousseau. Beltz, Weinheim 2004, ISBN 3-407-85784-5.
  • Günther Mensching: Rousseau zur Einführung. Junius, Hamburg 2003, ISBN 3-88506-384-0.
  • Martin Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen. Göttingen 1959.
  • Hermann Röhrs: Jean-Jacques Rousseau. Vision und Wirklichkeit. 3. Auflage. Böhlau, Köln [u.a.] 1993, ISBN 3-412-12592-X.
  • Robert Spaemann: Rousseau – Bürger ohne Vaterland. Piper, München 1980 u.ö..
  • Jean Starobinski: Rousseau. Eine Welt von Widerständen. München 1988, u.ö., ISBN 3-596-10255-3.
  • Ulrich Steinvorth: Stationen der politischen Theorie. 3. Auflage. Reclam, Stuttgart 1994, S. 97–132, ISBN 3-15-007735-4.
  • Dieter Sturma: Jean-Jacques Rousseau. C. H. Beck, München 2001, ISBN 3406419496.

Weblinks

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Commons: Jean-Jacques Rousseau – Bilder, Videos und/oder Audiodateien
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