Regelpoetik
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Eine Regelpoetik geht von dem Standpunkt aus, dass die Dichtkunst nach Handwerksregeln ausgeübt werden solle. Im Unterschied zu einer gewöhnlichen Poetik hat eine Regelpoetik den Charakter einer Gebrauchsanleitung.
Im Zeitalter des Barock ist diese Auffassung weit verbreitet, was mit dem Erfolg und der normativen Kraft des französischen Absolutismus zusammenhängt. Versionen deutschsprachiger Regelpoetik im 17./18. Jahrhundert, beeinflusst von der französischen Klassik, gibt es von Martin Opitz bis zu Johann Christoph Gottsched. Vorgeblich orientierte sich die Regelpoetik des Barocks an der griechischen Antike, was bei genauerer Betrachtung nur bedingt zutrifft. Zu den Vorschriften der französischen Klassik gehörte etwa, dass ein Dramatiker sich an die "aristotelischen Einheiten" des Orts, der Zeit und der Handlung halten solle, was manchmal sehr eng ausgelegt wurde: Der Ort sollte nicht wechseln, die Zeit der Handlung einen Tag nicht überschreiten und die Handlung aus einem einzigen Handlungsstrang bestehen.
Des weiteren ist die Regelpoetik von Diskussionen darüber geprägt, ob künstlerische Vorbilder (z. B. das antike Epos) oder ein natürliches Geschehen (z. B. geschichtliche Vorgänge) dichterisch nachgeahmt werden sollten. In seiner Schrift Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730) weist Gottsched auf die Koppelung vom Wirklichkeitsprinzip (Historie) und Nachahmungsprinzip (Erfundenes) hin, da die Handlung seiner Meinung nach der Wirklichkeit nachempfunden sein müsse.
Die barocke Regelpoetik trug dazu bei, dass die scheinbar regellosen Dramen William Shakespeares im 17. und 18. Jahrhundert gering geschätzt wurden. Zunächst Empfindsamkeit und Rokoko, heftiger dann Strömungen vor der französischen Revolution wie der Sturm und Drang, und vor allem die Romantik wandten sich dann gegen die Regeln des Ancien régime.
Im 19. Jahrhundert bekam die Regelpoetik wiederum Aufwind durch das Aufstreben einer journalistischen Kunstkritik und die politischen Tendenzen der Restauration. Karikatur eines Regelpoetikers ist Beckmesser aus Die Meistersinger von Nürnberg (1868) von Richard Wagner.