Sowjet
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Sowjet (russisch: cове́т = Rat) ist die Bezeichnung für bestimmte Verwaltungsorgane in der UdSSR. Ursprünglich waren Sowjets die aus den Revolutionen von 1905 und 1917 hervorgegangenen basisdemokratischen Selbstverwaltungsorgane der Arbeiter, Bauern und Soldaten. Im krassen Widerspruch zur Grundidee des Rätesystems wurden die 1936 von Stalin eingeführten machtlosen parlamentarischen Führungsgremien ebenfalls Sowjets genannt.
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[Bearbeiten] Entwicklung bis 1936: Selbstverwaltung in Arbeiterkomitees
Als Sowjet bezeichneten sich in der russischen Revolution von 1905 bis 1907 Arbeiterkomitees der Betriebe und in Stadtteilen, die Funktionen der politischen und militärischen Macht ausübten. Sie bildeten sich spontan; Trotzki, der während dieser Etappe als Vorsitzender des Petersburger Sowjets wirkte, konstatierte, dass sie im Zuge der kommenden Revolution überall im Russischen Reich Sowjets bilden würden.
Dieser apriorischen Einschätzung entsprechend bildeten die überall aus dem Boden sprießenden Arbeitersowjets nach der russischen Februar-Revolution von 1917 eine Gegenregierung zur bürgerlichen provisorischen Kerenski-Regierung. Mit der Zuspitzung der sozialen Konflikte und der Entwicklung der revolutionären Gärungsprozesse schwenkten die zuerst stark mit den Menschewiki sympathisierenden Sowjets nahezu linear nach links, bis die Kommunistische Partei Russlands (Bolschewiki) um Lenin und Trotzki schließlich den größten Einfluss auf die in den Sowjets organisierten Arbeiter hatten. In der mit der Theorie der permanenten Revolution konformen Oktoberrevolution erklärte sich der von bolschewistischen Arbeiterdelegierten dominierte Allrussische Sowjetkongress zur neuen Obersten Instanz Russlands.
Das ursprüngliche Organisationsprinzip waren die Betriebe, Dörfer, Armeeeinheiten, weshalb man von einer dem Parlamentarismus überlegenen "Rätedemokratie" sprach. Infolge des Bürgerkrieges konnte das Sowjetsystem aber nur in beschränktem Maße wirken, zwar konnten entgegen vorherrschender Darstellungen durchaus freie Diskussionen geführt, friedliche Demonstrationen geplant und Arbeiterorganisationen aufgestellt sowie auf kommunaler Ebene die Macht direkt von den Arbeitern und Bauern ausgeübt werden, jedoch konnte die bolschewistische revolutionäre Staatsführung fundamentale Oppositionsbewegungen oder antibolschewistische Strömungen nicht vollkommen akzeptieren. Allerdings ist zu bemerken, dass zu dieser Zeit in der Sowjetgesellschaft verhältnismäßig große Freizügigkeit herrschte, etwa wurden sich selbst als "Arbeiteropposition" deklarierende, in Wahrheit im Falle der Übernahme der Staatsführung für den Arbeiterstaat tödliche Bewegungen keineswegs verfolgt, solange sie nicht zu Aufständen aufriefen oder Gewalt anwendeten, wie zum Beispiel die Sozialrevolutionäre oder diverse anarchistische Zirkel. Die Jahre bis 1923 waren also von der Notwendigkeit straffer Organisation in Bezug auf die militärische Lage und die wirtschaftliche Not geprägt, was die ursprüngliche Hegemonie der Sowjets einschnürte.
Ab 1923, also in einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, begannen die Rufe unter den Arbeitern nach der Wiederherstellung der Sowjetdemokratie immer lauter zu werden, was jedoch von der zunehmend auf die eigenen Privilegien bedachte Bürokratie, deren Macht zum einen aus temporär angelegten Maßnahmen, wie dem Verbot der Parteien und Fraktionen, und zum anderen aus im Grunde genommen illegalen Prozessen, wie der im Bürgerkrieg erfolgten und von revolutionären Bolschewiki, Anhängern des durch einen Schlaganfall paralysierten Lenin und des an der Front beschäftigten Trotzki, scharf attackierten Verschmelzung des Partei- und Staatsapparates. Nach dem Tode Lenins begann die Bürokratie, verkörpert durch das Triumvirat Stalin-Bucharin-Kamenew, ihr Machtmonopol und ihre sozialen Vorteile massiv auszubauen, während sie die Arbeitermassen politisch expropriierte. Die Linke Opposition, eine Organisation unter der Leitung Trotzkis, versuchte bis 1936, zuerst eine großangelegte Reform, dann eine zweite Revolution mit dem Zwecke der Wiederherstellung der vollen Sowjetdemokratie, des Mehrparteiensystems, der Abschaffung der Bürokratie an sich etc. zu erreichen. Diese Organisation artikulierte im Grunde die Forderungen der Arbeiter, was zur Folge hatte, dass die Linke Opposition eine im Stillen vom Proletariat gefeierte, halblegale Untergrundpartei wurde. Die herbeigesehnte zweite Revolution wurde jedoch hauptsächlich während der Großen Säuberung blutig zerschlagen, ihre Aktivisten deportiert und die Arbeiterklasse gewaltsam völlig demoralisiert.
Siehe auch: Räterepublik, Arbeiterstaat; in der deutschen Geschichte: Arbeiter- und Soldatenrat, Novemberrevolution
[Bearbeiten] Entwicklung seit 1936: „Parlament“
Das Jahr 1936 markierte das Ende der Sowjetidee, denn in der neuen Stalinschen Verfassung wurde das basisdemokratische Rätesystem auch formell abgeschafft, und durch machtlose konventionelle Parlamente (Trotzki: "Eine Karikatur eines Parlamentes!") ersetzt.
Die Verfassung von 1936 führte das allgemeine und gleiche Wahlrecht für alle Bürger der UdSSR ein. Auf allen Verwaltungsebenen wurden fortan Sowjets der Deputierten der Werktätigen in geheimer Abstimmung direkt gewählt. Ihre Bezeichnung wurde mit der Verfassung von 1977 in Sowjets der Volksdeputierten geändert.
- Die Sowjets der Volksdeputierten – der Oberste Sowjet der UdSSR, die Obersten Sowjets der Unionsrepubliken, die Obersten Sowjets der autonomen Republiken, die Regions- und Gebietssowjets der Volksdeputierten, die Sowjets der Volksdeputierten der autonomen Gebiete und der autonomen Kreise, die Bezirks-, Stadt- und Stadtbezirks-, Siedlungs- und Dorfsowjets der Volksdeputierten - bilden das einheitliche System der Organe der Staatsmacht. (Artikel 89 der Verfassung von 1977)
Die Kandidaten wurden von der KPdSU, ihrer Jugendorganisation Komsomol und der Gewerkschaft unter Kontrolle der Parteiorgane aufgestellt. Bis 1987 gab es keine Gegenkandidaten.
[Bearbeiten] Oberster Sowjet der UdSSR
Das höchste Staatsorgan der UdSSR, der Oberste Sowjet, umfasste zwei gleichberechtigte Kammern, den Unionssowjet und den Nationalitätensowjet, die bei gleicher Sitzungsperiode im Fünfjahresrhythmus von den Bürgern der UdSSR gewählt wurden.
- Die Wahl des Nationalitätensowjets erfolgte nach Unionsrepubliken (je 32 Deputierte), autonomen Republiken (je 11 Deputierte), autonomen Gebieten (je 5 Deputierte) und autonomen Kreisen (je 1 Deputierter). Der Nationalitätensowjet hatte also ab den 60er Jahren 750 Mitglieder.
- Der Unionssowjet wurde gemäß der Verfassung von 1936 nach Wahlkreisen mit je 300.000 Einwohnern gewählt. Die dadurch leicht variierende Mitgliederzahl wurde in der Verfassung von 1977 auf die Zahl der Sitze im Nationalitätensowjet festgeschrieben, im Unionssowjet saßen also 750 nach Wahlkreisen mit gleicher Einwohnerzahl gewählte Deputierte.
Der Oberste Sowjet tagte zweimal im Jahr. Er wählte aus den eigenen Reihen 24 Mitglieder in das Präsidium des Obersten Sowjets, dem außerdem die Vorsitzenden des Obersten Sowjets der Unionsrepubliken von Amts wegen angehörten. Das Präsidium des Obersten Sowjets war ständiges legislatives Organ, sein Vorsitzender Staatsoberhaupt. Außerdem wählte der Oberste Sowjet den Ministerrat (bis zum 16. März 1946 Rat der Volkskommissare genannt), der den Exekutiv- und Verwaltungsbereich der Regierung bildete.
[Bearbeiten] Oberste Sowjets der Unionsrepubliken
Analog gab es auf Republikebene die Obersten Sowjets der Unionsrebubliken, die als höchstes Staatsorgan den Ministerrat der jeweiligen Republik wählten. Sie bestanden jedoch nur aus einer Kammer. Die Vorsitzenden der Obersten Sowjets der Unionsrepubliken gehörten von Amts wegen dem Obersten Sowjet der UdSSR an, die Vorsitzenden der Ministerräte der Unionsrepubliken auch dem Ministerrat der UdSSR.
[Bearbeiten] Umgangssprachlich: „die Sowjets“
Umgangssprachlich bezeichnete der Terminus „die Sowjets“ im deutschsprachigen Raum die Machthaber der Sowjetunion oder – seltener – die Bevölkerung der Sowjetunion.
[Bearbeiten] Siehe auch
[Bearbeiten] Literatur
- Valentine Rothe: "Der russische Anarchismus und die Rätebewegung 1905". Campus Verlag, Frankfurt 1978.