Nikolai Iwanowitsch Bucharin
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Nikolai Iwanowitsch Bucharin (russisch Николай Иванович Бухарин, wiss. Transliteration Nikolaj Ivanovič Bucharin; * 27. September / 9. Oktober 1888 in Moskau; † 13. März 1938 in Moskau, erschossen) war ein russischer Politiker, marxistischer Wirtschaftstheoretiker und Philosoph.
Rückblicke auf und Schriften über Nikolai I. Bucharin haben eine bedeutende Rolle in der Neuschreibung der Geschichte Russlands gespielt. Besonders seine Werke von 1924 bis 1929, wo er die damalige Entwicklung des Marktes unterstützte, boten zum einen eine scheinbare Alternative gleichermaßen zum Stalinismus und zur trotzkistischen Tradition des revolutionären Sozialismus an. Zum weiteren wurden diese Arbeiten ab Mitte der 1980er Jahre, als die Kommunistische Partei der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow die Umstrukturierung der Wirtschaft (Perestroika) einleitete, neu publiziert, um als theoretisches Fundament für die Öffnung des bis dahin staatskapitalistischen Marktes zu dienen.
Nikolai Bucharin war ein prominenter Anhänger, Teilnehmer und Unterstützer der russischen Revolutionen 1905 und 1917. Er war ab 1906 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Russlands/Bolschewiki. Von 1917 bis 1929 war er Herausgeber der Parteizeitung Prawda (Wahrheit). In dieser Zeit veröffentlichte er auch seine bedeutendsten Werke, die ein Zeugnis von seinem politischen Umschwung vom extremen voluntaristischen, linksradikalen Flügel zum extremen anti-voluntaristischen, rechten Flügel der Partei, ablegen. Die aktuelle politische Lage im Russland des Bürgerkriegs, aber vor allem Bucharins Methode eines mechanistischen Marxismus dienten als Angelpunkt für seine Wandlung.
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[Bearbeiten] Leben - Biographisches
[Bearbeiten] Kindheit und Jugend
Nikolai Bucharin wurde 1888 als zweiter Sohn von Liubov Ivnavova und Ivan Gavrilovich Bucharin in Moskau geboren. Seine Eltern und seine zwei Brüder, Vladimir und Pyotr gehörten der russischen Mittelklasse an. Liubov und Ivan lehrten beide an einer Grundschule in Moskau. Sein Vater fand später jedoch eine Anstellung als Steuerprüfer. Den größten Teil seiner Kindheit verbrachte Nikolai in Moskau, vier Jahre auch in Bessarabien, einem Gebiet welches heute auf dem Staatsgebiet Moldawiens und der Ukraine liegt.
Schon als 16jähriger Schüler eines Moskauer Gymnasiums radikalisierte er sich in Folge des Russisch-Japanischen Krieges (1904-1905) und der russischen Revolution 1905. 1906 wurde er auch Mitglied der illegalen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR)/Bolschewiki. Als er 1907 das Gymnasium mit ausgezeichneten Noten abschloss, inskribierte er an der Universität Moskau Wirtschaftswissenschaft. Gemeinsam mit Grigori Sokolnikow organisierte er die nationale Jugendkonferenz 1907 in Moskau.
[Bearbeiten] Im Exil
Durch seine politischen Aktivitäten in der (jung-)kommunistischen Bewegung, aus der später die Komsomol (Jugendorganisation der Bolschewiki) hervorging, und seine Teilnahme an der Moskauer Parteileitung ab 1909 wurde die russische Geheimpolizei (Okhrana) des Zarenregimes auf ihn aufmerksam. In dieser Zeit lernte er auch seine spätere Lebensgefährtin Nadjeschda Mikhailovna Lukina kennen. Nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt 1911 musste er nach Onega in Archangelsk ins Exil. Er floh jedoch zunächst nach Deutschland, und zog später weiter nach Österreich, in die Schweiz, nach Schweden, Norwegen, Dänemark und in die USA. Im Westen setzte er sein begonnenes Wirtschaftswissenschaftsstudium fort, begann Philosophie und Soziologie zu studieren und setzte sich mit den philosophischen Schriften des Empiriokritizisten, Alexander Malinovsky (besser bekannt als Alexander Bogdanow), auseinander. Später, 1922, sollte dazu seine „Theorie des historischen Materialismus“ entstehen, wo er Bogdanows Empiriokritizismus aus einem deterministisch-materialistischen Standpunkt kritisiert.
In Wien 1913 lernte er auch Stalin kennen, dem er als Dolmetscher half. Gemeinsam mit Nikolai Krylenko und Elena Rozmirovich gab er bald nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine russische Zeitung namens „Zvezda“ (Stern) heraus und später, in den USA, gemeinsam mit Leo Trotzki und Alexandra Kollontai die Zeitung „Novy Mir“ (Neue Welt).
In dieser Zeit in Wien beschäftigte er sich mit einer systematischen Kritik an der Wiener Schule der Nationalökonomie und der von dieser vertretenen Grenznutzentheorie. Daraus resultierte sein Buch „Die politische Ökonomie des Rentners“ (1914). Außerdem entwickelte er 1914/15 seine Imperialismustheorie und verfasste das Manuskript zu seinem wohl bedeutendstes Buch „Imperialismus und Weltwirtschaft“, welches aber erst nach der Oktoberrevolution 1917 mit einem Vorwort von Lenin veröffentlicht wurde.
[Bearbeiten] Nach der Oktoberrevolution
Nach der Fertigstellung in Schweden wurde Nikolai Bucharin verhaftet, sein Manuskript wurde konfisziert. Im März 1917 durfte Bucharin nach Moskau zurückkehren.
Zurück in Russland, er war bereits ein anerkannter marxistischer Theoretiker, wurde er bald in das Zentralkomitee der Bolschewiki gewählt. Außerdem wurde er 1917 Chefredakteur der Parteizeitung „Prawda“. Nach der Oktoberrevolution und zur Unterzeichnung des Friedensvertrags von Brest-Litovsk 1918 führte Bucharin die linksradikale Opposition, die keinen Frieden mit Deutschland wollte, innerhalb der Bolschewiki an.
Mit der Realisierung, dass die russische Revolution isoliert bleibt, änderte er seine Meinung in das dialektische Gegenteil des linksradikalen Voluntarismus und wurde ein wichtiger Vertreter der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP), in der er die Möglichkeit des Aufbaus einer staatssozialistischen Wirtschaft verwirklicht sah. Nach dem Tode Lenins wurde Bucharin 1924 Mitglied des Politbüros der Bolschewiki, wo schon ein theoretischer Kampf um die Zukunft der neu gegründeten UdSSR und die NÖP entbrannt war. Bucharin unterstützte Stalin und war sein wichtigster Vordenker und Vertreter der Theorie zum Aufbau des Sozialismus in einem Land. Ab 1926 wurde er zum Vorsitzenden der Kommunistischen Internationale (Komintern) berufen – im selben Jahr wurden Kamenew, Sinowjew und Trotzki aus dem Politbüro entfernt.
[Bearbeiten] Während der Konterrevolution
Ab 1928 opponierte er gegen Stalins Kollektivierungen der Landwirtschaft, woraufhin er 1929 vom Politbüro und als Vorsitzender der Komintern entfernt wurde. Ab 1929 führte Bucharin gemeinsam mit Jay Lovestone aus den USA die Interne Kommunistische Opposition, welche besser bekannt war unter dem Namen Rechte Opposition, an. Er durfte aber, anders als viele Trotzkisten, in der Partei bleiben und wurde zum Direktor des Instituts für industrieökonomische Forschungen. 1934 wurde er nach offizieller Aufgabe seiner Position – er dachte so in der KPdSU verbleiben und den aufkommenden Faschismus im Westen bekämpfen zu können - von Stalin rehabilitiert und sollte von nun bis Januar 1937 Herausgeber der russischen Tageszeitung "Iswestija" (Nachrichten) sein. Außerdem arbeitete er 1936 am Entwurf der russischen Verfassung mit.
In Folge einer Hetzkampagne – er sollte als Spion Kontakt zur österreichischen und schwedischen Polizei gehabt haben und an einem Komplott gegen Lenin beteiligt gewesen sein – wurde er im März 1937 verhaftet und im dritten Moskauer Schauprozess gegen den „Block der Rechten und Trotzkisten“ am 13. März 1938 verurteilt und erschossen.
[Bearbeiten] Wirken
Nikolai Bucharin war laut Lenin (vgl. 'Testament') nicht nur der „Liebling der ganzen Partei“, sondern auch ein „überaus wertvoller und bedeutender Theoretiker“.
Diesen Ruf verdankte er vor allem seinen Werken zur Ökonomie vor der Oktoberrevolution 1917: Die politische Ökonomie des Rentners. Die Wert- und Profittheorie der österreichischen Schule (1913/14) und Imperialismus und Weltwirtschaft (1914/15).
Doch auch später im und nach dem Tod der russischen Revolution und der Bürokratisierung der KPdSU(B) war Bucharin ein bedeutender Theoretiker, wenn auch gleich im Dienste der stalinistischen Konterrevolution. Hier ist einerseits vor allem sein Werk zur Neuen Ökonomischen Politik: Die Ökonomik der Transformationsperiode (1920) und The Present Period and the Basis of Our Policies (1925) in dem er die Möglichkeit des Sozialismus in einem Lande als Theorie für Stalin vorbereitet bzw. später verteidigt und andererseits die Artikelserie Nieder mit der Fraktionsmacherei (1925), in der er die Zerschlagung der Demokratie und die Bürokratisierung der Partei unterstützte.
All seinen Arbeiten lag jedoch eine Schwäche zugrunde – seine Einseitigkeit. Diese kommt in seinem theoretischen Beitrag zum Marxismus, Theorie des historischen Materialismus. Gemeinverständliches Lehrbuch der Marxistischen Soziologie (1922), am deutlichsten zum Ausdruck.
In Folge werden nun Stationen in seinem Wirken, als „Linksradikaler“ und seinem Umschwung als „Rechter Abweichler“ diskutiert und versucht einen Einblick in sein marxistisches Denken zu geben, durch welches unter anderem sicher an seine Veränderung von einem Pol zum anderen erklärbar wird. Doch zuvor wird hier kurz auf seine bedeutenden ökonomischen Schriften, hier vor allem auf Imperialismus und Weltwirtschaft eingegangen, da diese auch heute noch von großer Relevanz sind.
[Bearbeiten] Die politische Ökonomie des Rentners
Zwei Jahre seiner Studienzeit, zwischen 1912 und 1914, verbrachte Bucharin in Wien, um, wie er meinte, eine „systematische Kritik der theoretischen Ökonomie der neuesten Bourgeoisie zu geben.“ Dazu studierte er die Literatur der Theoretiker der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, hier vor allem Eugen von Böhm-Bawerk. Dieser lehrte zu jener Zeit gerade an der Universität Wien und Nikolai Bucharin ließ sich nicht die Chance entgehen, einige Vorlesungen zum Thema der Grenznutzentheorie bei ihm zu besuchen. Das Ergebnis dieser systematischen Kritik – die Manuskripte zu seinem Buch Die politische Ökonomie des Rentners – wurde von den österreichischen Ordnungshütern bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges konfisziert. Bucharin musste fliehen.
In Lausanne setzte er seine Arbeit fort und brachte schließlich doch sein Buch heraus. Die politische Ökonomie des Rentners gilt als wahres Handbuch des Marktmechanismus, wie es in der marxistischen Literatur kein zweites gibt.
In diesem gelang ihm nicht nur sein Anliegen der systematischen Kritik der Grenznutzentheorie, er schildert und kritisiert auch das überflüssige Leben der „Rentnerbourgeoisie“: „Der konsumierende Rentner hat ausschließlich Reitpferde, Teppiche, duftende Zigarren, Tokajer-Wein vor Augen. Wenn er einmal von Arbeit spricht, so meint er die ‚Arbeit’ des Blumenpflückens oder die Besorgung einer Theaterkarte.“
[Bearbeiten] Imperialismus und Weltwirtschaft
Nach dem Kollaps der Zweiten Internationalen in der Frage der Unterstützung des Ersten Weltkrieges war sein Meisterwerk Imperialismus und Weltwirtschaft der wahrscheinlich wichtigste Beitrag die marxistische Theorie wieder auf die Beine zu stellen.
Die Theoretiker der Zweiten Internationalen, allen voran Rudolf Hilferding und Karl Kautsky, argumentierten, dass der ausgebrochene Weltkrieg nur eine Abweichung, ein Unfall außerhalb des Charakters der normalen Entwicklung des Kapitalismus sei. Sozialismus als höhere Stufe zum Kapitalismus, so meinten sie, konnte nur in friedlichen Zeiten erreicht werden, bis dahin mussten die ArbeiterInnen zum Schutz ihres eigenen Vaterlandes antreten. Imperialismus war für sie keine ökonomische Phase, sondern eine kurze Phase einer kapitalistischen Politik, die gegen den ökonomischen Trend verläuft. Diese Politik wird aufgrund der normalen und friedlichen Entwicklung des Kapitalismus, jedoch bald durch die kapitalistische Entwicklung zum Ultraimperialismus ersetzt, wo Kriege zwischen Nationalstaaten aufgrund der Internationalisierung des Kapitals der Vergangenheit angehören werden. Kautsky argumentierte:
- „Für die Fortsetzung des Rüstungswettlaufs nach dem Weltkrieg gibt es keine ökonomische Notwendigkeit, auch nicht vom Standpunkt der kapitalistischen Klasse selbst, mit Ausnahme von gewissen Rüstungsinteressen. Im Gegenteil, die kapitalistische Wirtschaft wird genau durch diese Auseinandersetzungen ernsthaft bedroht. Jeder weitsichtige Kapitalist muß heute seinen Kameraden zurufen: Kapitalisten aller Länder, vereinigt Euch!“
Bucharin vernichtet diese Argumentation in seinem Buch und behauptet, dass Imperialismus eine in der Natur des Kapitalismus liegende Fortführung des kapitalistischen Konkurrenzkampfes auf Weltmaßstab ist. Deshalb müssen wir, bevor wir zur „Frage des Imperialismus, seines ökonomischen Charakters und seiner Zukunft“ kommen, die Frage der „Weltwirtschaft“ erklären. Diese Weltwirtschaft kann nach Bucharin „als ein System von Produktionsverhältnissen und entsprechenden Austauschverhältnissen im internationalen Ausmaß definiert werden.“ Bucharin machte in dieser zwei Prozesse aus: Die Internationalisierung und die Nationalisierung des Kapitals.
Ein Weltmarkt mit Weltpreisen, wo sich Weltangebot und Weltnachfrage gegenüberstehen, ist entstanden. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung findet zunehmend nicht mehr nur innerhalb eines Nationalstaates statt, sondern immer mehr auf internationaler Ebene. Künftig, Marxens Analyse über das Verhältnis von Stadt und Land folgend, bildet sich immer mehr eine Differenz zwischen fortschrittlichen Industriestaaten und rückschrittlichen Agrarstaaten heraus. Die kapitalistischen Widersprüche, die innerhalb der Nationalstaaten existierten, verschwanden nicht einfach, sie werden auf einer größeren, internationalen Ebene reproduziert. Dies hat zur Folge, dass kapitalistische Krisen von nun an auf Weltebene entstehen.
Doch gleichzeitig zur Internationalisierung läuft ein weiter Prozess der Nationalisierung ab. Die Tendenz der Konzentration und Zentralisation des Kapitals und die Organisierung des Kapitals durch die Verschmelzung von Industriekapital und Bankkapital zu einem Finanzkapital „erzeugen eine außerordentlich starke Tendenz zur Umwandlung der gesamten nationalen Wirtschaft in eine gewaltige kombinierte Unternehmung unter der Leitung der Finanzmagnaten und des kapitalistischen Staates“ (Bucharin, Nikolai: Imperialismus und Weltwirtschaft)
Für Bucharin nahmen die nationalen Wirtschaftseinheiten nun die Form von „staatskapitalistischen Trusts“ an. Die Ziele der kapitalistischen Ökonomie und des kapitalistischen Staates sind nicht mehr nur miteinander in Verbindung, wie in der Vergangenheit, sie sind organisatorisch regelrecht verflochten. Diese Verflechtung beinhaltet nun eine neue Methode der Auseinandersetzung im Konkurrenzkampf – den bewaffnete Kampf zwischen Nationalstaaten, den imperialistischen Krieg. Die kapitalistische Konkurrenz zwischen den einzelnen Kapitaleinheiten sorgt dafür, dass es keine, wie Kautsky vorgeschlagene, Möglichkeit auf eine friedliche kapitalistische Entwicklung mehr gibt.
Eine Schwäche seines Buches war sicherlich, dass er seine Theorie etwas zu genau nahm. Nach seiner Theorie war die Erde sauber in fortschrittliche Industriestaaten (ein staatskapitalistischer Trust) oder rückschrittlichen Staaten (ein Agrarland):
- „Die Verschiedenheit zwischen „Stadt“ und „Land“ und die „Bewegung dieses Gegensatzes“, die früher innerhalb der Grenzen eines Landes erfolgte, wird jetzt auf einer gewaltig erweiterten Stufenleiter reproduziert. Von diesem Standpunkt erscheinen bereits ganze Länder und zwar die Industrieländer als „Stadt“, während die agrarischen Gebiete das „Land“ darstellen.“ (Bucharin, Nikolai: Imperialismus und Weltwirtschaft)
Diese Theorie ignoriert natürlich die Ungleichheiten innerhalb der einzelnen Länder, was sich auch in den späten 1920er Jahren, als Bucharin Vorsitzender der Komintern war, auswirkte, da die Welt für ihn in ein Weltproletariat und in eine Weltbourgeoisie aufgeteilt war.
[Bearbeiten] Der imperialistische Staat & Staatskapitalismus
Weiters glaubte Bucharin, dass die staatskapitalistischen Trusts nur mehr von außerhalb gestört werden können. Es existieren keine widersprüchlichen Entwicklungen in ihrem Inneren mehr: „Der Prozess der Organisation lässt die Anarchie zwischen den einzelnen Bestandteilen der nationalökonomischen Mechanismen allmählich verschwinden“ Kapitalismus wurde hier nicht mehr als widersprüchliches System sozialer Beziehungen, sondern als System der Organisation verstanden.
Er dachte an das letzte Stadium des Kapitalismus und portraitierte ihn als uniforme Struktur:
- „Ein System eines kollektiven Kapitalismus ist geschaffen … Der eigenständige kapitalistische Staat verschwindet: er wird zu einem Verbandskapitalisten, einem Mitglied einer Organisation: Er muss nicht länger konkurrieren, sondern mit seinen Landsmännern kooperieren; … innerstaatlicher Wettbewerb stirbt aus.“ (Bucharin, Nikolai: Imperialismus und Weltwirtschaft)
Diese These lief erstens völlig konträr zu der Anschauung der Zweiten Internationalen um Kautsky. Der Staat konnte nicht einfach übernommen werden, weil er mit der Ökonomie untrennbar verflochten, sondern musste zerschlagen werden.
Und zweitens entwickelt diese, seine Theorie eine neue Anschauung über die Möglichkeiten, welche Formen der Kapitalismus annehmen kann. Kapitalismus war nicht nur bestimmt durch Privateigentum, es war möglich, dass Kapitalismus solche staatskapitalistischen Formen annehmen konnte, ohne seine ausbeuterische Eigenschaft zu verlieren. Ironischerweise gab er damit auch eine Analyse der ökonomischen Verhältnisse für Stalins Russland wider, die der Realität mehr entsprach als seine Analyse über das „sozialistische“ stalinistische Russland. Bucharin war somit ein Vordenker einer Theorie zum Staatskapitalismus.
[Bearbeiten] Die nationale Frage
Weiters war in seiner Theorie diese Epoche eine, in der kleine Staaten von großen Staatseinheiten verschlungen werden. Deshalb konnte die Bekämpfung der Unterdrückung von Nationen nur mehr in einem Kampf gegen den Imperialismus stattfinden. Eine Abweichung, wie der Kampf um nationale Befreiung, war für Bucharin zwecklos. Es lenke die Arbeiterklasse vom wirklichen Kampf gegen Imperialismus ab und dürfe daher nicht unterstützt oder müsse sogar verhindert werden. Stalin nutzte diese Theorie als Rechtfertigung, um die russischen Teilrepubliken an Russland zu binden.
Lenin beispielsweise sah in den einzelnen nationalen Befreiungsbewegungen eine Möglichkeit für die Arbeiterklasse, selbst aktiv zu werden und auch nach der nationalen Befreiung sich mit dem Erreichten nicht zufrieden zu geben und weiter zu kämpfen. Die Frage der nationalen Befreiungskämpfe trennte Bucharin und Lenin bis zu dessen Tod.
Diese Differenz und die scholastische Analyse des Imperialismus auf einer sehr hohen, abstrakten Ebene, aber doch inspiriert von Bucharin schrieb Lenin seine Imperialismustheorie in seinem Buch Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus: Gemeinverständlicher Abriss (1917) nieder.
[Bearbeiten] Linksradikalismus
Arbeiter und Soldaten hatten im Februar 1917 die Romanov-Dynastie gestürzt und die bürgerliche Demokratie mit ihrer eigenen Demokratie – den Räten (Sowjets) – herausgefordert. Als Bucharin diese fantastischen Neuigkeiten hörte, reiste er sofort nach Russland zurück. Nach seiner Ankunft im April wurde er – mittlerweile bekannt für seine theoretischen Schriften – umgehend in die lokale Moskauer Führung der Bolschewiki gewählt. Anders als andere führende Mitglieder der Bolschewiki, wie Stalin oder Kamenew, unterstützte Bucharin Lenins April-Thesen, welche für „Alle Macht den Räten“ aufriefen.
Nach der erfolgreichen Oktoberrevolution wurde Bucharin in die Verfassunggebende Versammlung gewählt. Seine Rede auf dieser Versammlung 1918 zeigt, wie inspiriert und begeistert er war:
- „Genossen, wir müssen uns jetzt an unsere Verantwortung erinnern. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich die aktuelle Geschichte der Menschheit ein Moment des Durchbruchs befindet, der noch nie da war – nicht in der Zeit des 30jährigen Krieges, nicht in den Tagen der großen französischen Revolution, nicht in einem der bürgerlichen Befreiungskriegen wurde ein so großer Schritt vorwärts gemacht, wie heute. Genossen, wir schaffen jetzt gerade die Basis des menschlichen Lebens für ein Jahrtausend.“
Bucharin war, wie die meisten Bolschewiki zu dieser Zeit, überzeugt, dass die Revolution in Russland nur erfolgreich sein kann, wenn sie sich auf weltweiter Ebene ausbreitet. So meint er in Das ABC des Kommunismus, welches er 1920 gemeinsam mit Evgenij Preobraschensky geschrieben hat:
- „Die kommunistische Revolution kann nur als Weltrevolution siegen. Wenn z.B. die Arbeiterklasse in irgendeinem Land sich der Macht bemächtigte, in anderen Ländern aber das Proletariat, nicht aus Furcht, sondern aus Überzeugung dem Kapital ergeben bliebe, würden schließlich die großen räuberischen Staaten dieses Land erwürgen.“
Doch die Revolution in anderen Ländern, wie zum Beispiel Deutschland oder auch Österreich-Ungarn wurden niedergeschlagen und Russland blieb isoliert. Sozialismus als nächster Schritt nach dem Kapitalismus benötigt jedoch eine weltweite Kooperation und eine weltweite Arbeitsteilung. Stattdessen war die russische Arbeiterklasse nur ein winziger Teil des weltweiten Proletariats in einem noch immer feudal-dominierten Land.
In so einer Situation mussten taktische Entscheidungen getroffen werden, welche sich im Spannungsfeld zweier Pole bewegen. Zum einem was gerade nötig ist und zum anderen was gerade möglich ist. Eine Möglichkeit in diesem Feld zu agieren, war das Nötige zum Prinzip zu erheben und das Mögliche zu ignorieren. Lenin bezeichnete solch eine Politik als linksradikal.
Bucharins Ökonomismus leitete ihn zu dieser Politik. Die „eiserne Logik“ der Theorie des Imperialismus diktierte was zu tun sei, ungeachtet dessen, was zu dieser Zeit möglich war.
Diese Politik wirkte sich vor allem auf die Friedensverhandlungen zwischen Deutschland und Russland aus und im späteren Kriegskommunismus:
[Bearbeiten] Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk
Während Lenin und Trotzki zu dieser Zeit die Einflüsse auf und Lösungsansätze für die russische Revolution innerhalb und außerhalb Russland begriffen und suchten, bestand für Bucharin die (einzige) Hauptaufgabe der Bolschewiki darin, die Revolution auf die ganze Welt auszuweiten. Hier half ihm seine ökonomische Schrift über den Imperialismus weiter. Er erklärte 1918 in seinen Thesen des Peterburger Komitee der KPdSU(B), dass Europa zum Schauplatz der internationalen Klassenkämpfe werden müsse. Hier sollte der Kampf um die Revolution zwischen dem Weltproletariat und der Weltbourgeoise stattfinden.
Ein ausgehandelter Friede des ersten Arbeiterstaates in Russland mit dem kapitalistischen Deutschland war für ihn ein Verrat an der Weltrevolution. Die Mehrheit der Bolschewiki war nicht dieser Meinung. Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Brest-Litowsk im Februar 1918 traten Bucharin und drei andere Mitglieder des Zentralkomitees und weitere drei der Kandidaten-Mitglieder aus dem Zentralkomitee der Partei zurück. Sie begründeten ihre Entscheidung damit, dass die Entscheidung der Unterzeichnung „unter dem Druck kleinbürgerlicher Elemente und ihren Anliegen“ zustande kam und, dass dies der „Ruin des Proletariats, von Demoralisierung bis zum Selbstmord“ war.
Dieser einseitige Internationalismus ließ sie die Probleme innerhalb Russlands, wie die soziale Misslage, oder den aufgekommen Bürgerkrieg, vergessen, ihre Antwort war die "sofortige Einführung" (sic!) sozialistischer Produktion.
[Bearbeiten] Kriegskommunismus
Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages 1918 brach in Russland der Bürgerkrieg aus. Die Periode von 1918 bis 1921 ist als die des Kriegskommunismus bekannt geworden. Kriegskommunismus erwuchs aus einem außerordentlich hoffnungslosen Kampf um die Errungenschaften der Revolution.
Obwohl die Rote Armee siegreich aus diesem Bürgerkrieg hervorging, kostete dieser Sieg einen schrecklichen Preis. 180.000 Arbeiter sind in diesem Bürgerkrieg gefallen. 3 Jahre lang wurde ein Großteil des Produzierten, wie zum Beispiel 60% des Fisches, Fleisches und des Zuckers, an die Front geschickt. Hunger verbreitete sich über das ganze Land. Die industrielle Arbeiterklasse wurde auf die Hälfte dezimiert. (2,6 Mio -> 1,2 Mio). Die Sterberate zum Beispiel in Petersburg vervierfachte sich.
In dieser Zeit (1920) schrieb Bucharin sein Buch Die Ökonomik der Transformationsperiode. Darin rechnete er mit der Theorie über die Natur des Zusammenbruchs des Kapitalismus ab. Er forderte hier wiederum vor allem die Zweite Internationale, um Kautsky, heraus, welcher dachte, dass der Übergang zum Sozialismus ein schmerzloser, sanfter und schrittweiser Weg über das Parlament sei.
Er argumentierte, dass Revolutionen eine unvermeidliche Notwendigkeit waren, da Prozesse hin zu einer höheren Lebens- und Produktionsweise durch kapitalistische Krisen regelmäßig unterbrochen werden. Langfristig konnte der Fortschritt nur siegen, wenn Kapitalismus zerschlagen wurde.
Diese Zerschlagung des Kapitalismus, so Bucharin, verursacht jedoch große (ökonomische) Kosten. Wo die Theorie aufhört und die Verteidigung der Praxis hier anfängt, lässt sich sicherlich schwer sagen. Doch, so prophezeite er, werden kapitalistische Kategorien, wie Markt, Preis und Ware im Kommunismus verschwinden. So erklärt er auch die Phasen der Revolution:
- Die ideologische Revolution
- Die wirtschaftlichen Bedingungen zerstören die Ideologie des Bürgerfriedens. Die Arbeiterklasse wird ihrer selbst als Klasse bewusst und strebt zur Macht.
- Die politische Revolution
- Die ideologische Revolution schlägt um in Aktion, in „Bürgerkrieg“ und dem Kampf um die politische Macht. Der politische Apparat der Bourgeoise wird zerstört. Er wird durch ein neues System, dem Diktatur des Proletariats ersetzt.
- Die ökonomische Revolution
- Die Diktatur des Proletariats, welches die konzentrierte Macht der Arbeiterklasse darstellt, handelt als großer Hebel zum wirtschaftlichen Fortschritt. Die kapitalistische Produktionsweise wird zerschlagen, ein neues Model an Produktionsverhältnisse wird geschaffen. Die Basis für die sozialistische Gesellschaft ist gelegt.
- Die technische Revolution
- Das Wachstum der Produktivkräfte tritt ein.
Als generelles Konzept verwendet ist dies eventuell nützlich, aber nicht als Beschreibung der Situation in Russland um 1920. So wird dieses Buch auch heute noch als Triumph des revolutionären Denkens angesehen – sicherlich mit Recht. Es hatte jedoch diese eine Schwäche: Bucharin dachte damit die aktuelle Situation Russlands zu beschreiben. Russische Arbeiter haben die Staatsmacht übernommen, sie waren aber aufgrund der Armut, der Isolation und des Bürgerkrieges nicht in Stande gewesen eine sozialistische Wirtschaft aufzubauen.
So erklärt Bucharin angesichts der Dezimierung der Arbeiterklasse in Russland, während des Bürgerkriegs am dritten Komintern-Kongress 1921:
- „Wenn die Diktatur des Proletariats erreicht ist – und wenn die Partei wirklich eine kommunistische ist, also das Interesse der Arbeiterklasse ausdrückt, dann ist die Diktatur der Partei gleich mit der Diktatur der Klasse selbst, auch dann wenn die Partei selbst deklassiert ist und die diktatorische Kommunistische Partei ihre Macht fortsetzt.“ (zitiert nach The Tragedy of Bukharin [eigene Übersetzung aus dem Englischen])
Trotz einer allgemeinen Gültigkeit zu einem gewissen Grad, leidet Die Ökonomik der Transformationsperiode an Bucharins eigener Tendenz zur einseitigen Abstraktion und einem Mangel an dialektischem Verständnis. Gesellschaftliche Veränderungen wurden immer in einer fundamentalen Theorie erklärt, anstatt sie im Fluss eines allgemeineren Prozesses zu begreifen.
[Bearbeiten] Seine Methode
Trotz seines Rufes als „überaus wertvoller und bedeutender Theoretiker“, meinte Lenin in seinem Testament online lesen weiter, dass die Anschauungen Bucharins „nur mit sehr großen Bedenken zu den völlig marxistischen gerechnet werden“ können, denn „in ihm steckt etwas Scholastisches“ und er meint weiter: „er hat die Dialektik nie studiert und, glaube ich, nie vollständig begriffen“.
Von der Richtigkeit dieser Aussage (über)zeugt Bucharins philosophisches Werk Theorie des historischen Materialismus. Gemeinverständliches Lehrbuch der Marxistischen Soziologie, wo seine Methode, welche stark an einer undialektische Einseitigkeit leidet, selbstbewusst ausargumentiert wird.
Bucharin schrieb dieses Buch in derselben Zeit, als er auch Die Ökonomik der Transferperiode geschrieben hat – also 1920/1921. 1922 wurde es schließlich publiziert. Es ist eines der meist gelesenen Werke Bucharins, außerdem wurde es in viele Sprachen übersetzt. Es gibt einen wertvollen Einblick in seine Methode und gilt auch als ein konstantes Element in Bucharins Denken und seinem politischen Handeln, in dessen ein Ursprung seines Umschwunges vom linksradikal-voluntaristischen Flügel zum rechtsreformistischen antivoluntaristischen Flügel liegt.
In seiner einseitigen Methode musste er sich stets für das Eine oder das Andere entscheiden, anstatt allen Aspekten zweier dialektischen Gegensatzpaaren Respekt zu erweisen und ihren gegenseitigen Kampf und Einfluss anzuerkennen. An folgenden Thesen wird dieser mechanische Ansatz gut sichtbar.
[Bearbeiten] Der historische Materialismus als Soziologie
Anders als bei Marx, Lenin oder andere später vor allem westlichen MarxistInnen war für Bucharin der historische Materialismus nicht die Analyse des Flusses - oder der Veränderungen in - einer Gesellschaft, welche durch objektive und subjektive Bedingungen vor sich geht, sondern eine Wissenschaft, die wie jede andere auch auf wissenschaftlich bestimmbaren Gesetzen beruht. Damit wird der historische Materialismus für ihn zu einer Soziologie – eine Gesellschaftswissenschaft, die nach dem Auseinandernehmen der verschiedenen gesellschaftlichen Prozesse, welche in anderen Wissenschaften untersucht werden, und dem neuerlichen Zusammensetzen dieser, mechanisch bestimmt werden kann. Dazu Bucharin, in der Theorie des historischen Materialismus:
- „Unter den Gesellschaftswissenschaften gibt es zwei wichtige Wissenschaften, die nicht ein Einzelgebiet des gesellschaftlichen Lebens, sondern das ganze Leben der Gesellschaft in all seiner Kompliziertheit betrachten; … Solche Wissenschaften sind die Geschichte einerseits und die Soziologie andrerseits. … Die Geschichte verfolgt und beschreibt, wie der Strom des gesellschaftlichen Lebens zu der und der Zeit an dem und dem Orte verlief. … Die Soziologie dagegen wirft allgemeine Fragen auf. … Daraus wird ersichtlich, in welchem Verhältnis Geschichte und Soziologie zueinander stehen. Da die Soziologie die allgemeinen Gesetze der menschlichen Entwicklung auffindet, so dient sie als Methode für die Geschichte.“ (Theorie des historischen Materialismus S. 6-7)
Da die Wissenschaften in einer Klassengesellschaft ihrerseits in zwei Klassen zerfallen, definiert er den historischen Materialismus als die Soziologie der ArbeiterInnenklasse.
Menschen machen nicht mehr „ihre eigene Geschichte … unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“, wie Marx es in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte beschrieb. Vielmehr sind die Menschen und ihr Verhalten bei Bucharin Wesen, die von dem „gesellschaftlichen Resultat“, welches „ein unbewußtes elementares Etwas“ ist, bestimmt – ungeachtet deren Ziele.
Durch die Unterbetonung der Menschen als Subjekt, als Handelnde, in der Gesellschaft fällt er nicht nur auf einen vulgärmaterialistischen Standpunkt eines Feuerbach zurück, es veranlasst ihn auch den Menschen als „lebendige Maschine[n]“ (Proletarische Revolution und Kultur) zu betrachten, die ungeachtet irgendwelchen Zielen in den ökonomischen Verhältnissen determiniert sind.
[Bearbeiten] Kausalitätsprinzip (gegen Teleologie)
Natürlich bestreitet Bucharin nicht, dass sich Menschen Ziele (Griech.: telos; Teleologie: Die Lehre der zielbestimmten Ordnung von Gegenständen und Ereignissen) setzen können. Doch ein Ziel setzt jemanden voraus, der oder die sich dieses Ziel setzt, dass können Menschen zwar tun, aber ungeachtet dieses persönlich gesetzten Zieles gibt es kein messbares Gesetz, dass erweist, dass dieses Ziel realisiert wird und sich so auf die Gesellschaft auswirkt. Auf der Ebene der Gesellschaft kann es so etwas wie einen vorgegebenen Plan oder ein Ziel schon gar nicht geben, da es kein übergesellschaftliches Wesen, wie einen Gott, gibt, nach dessen Zielen die Gesellschaft handelt. So lehnt er die Auswirkungen von Zielen grundsätzlich ab:
- „Vor allem müssen wir uns gegen den Begriff des Zieles wenden, das von niemandem gesetzt wird. Das ist genau dasselbe, als würde man von Gedanken ohne denkende Wesen … reden. In Wirklichkeit ist die Sache so, daß, wenn Menschen von einem ‚innewohnenden’ Ziele reden, sie stillschweigend auch das Vorhandensein einer gewissen subtilen und unfassbaren ‚inneren Kraft’ voraussetzen, die sich dieses Ziel steckt. Diese geheimnisvolle Kraft hat äußerlich wenig zu tun mit jenem Gott, den man sich grob als bärtigen Greis ausmalt, aber eigentlich ist hier unsichtbar ebenfalls ein Gott im Spiele. … Die Teleologie … führt hier schnurstracks zur Theologie. ... “ (Theorie des historischen Materialismus S. 16).
Die Gesetzmäßigkeiten der Erscheinungen der Gesellschaft stellen sich also nicht auch als ziel- oder zweckbestimmter Ordnung der Ereignisse dar, sondern lediglich als ursächliche Gesetzmäßigkeiten. Jede Sache oder jedes Ereignis hat eine Ursache. Diese strikte Ablehnung der Teleologie macht beispielsweise jegliche Organisation von Individuen der Gesellschaft, welche bestimmte Ziele verfolgt, wie zum Beispiel politische Parteien, irrelevant.
Zu dem argumentiert Nikolai Bucharin, dass die Handlungen der Individuen direkt von einer ökonomischen Basis bestimmt werden.
[Bearbeiten] Determinismus (gegen Indeterminismus)
Vor allem der Determinismus hatte die größten Auswirkungen auf die Entstellung des Marxismus der Theoretiker im stalinistischen Russland. Bucharin war gemeinsam mit Bogdanow, der Begründer der äußerst heterogen auftretenden russischen philosophischen Gruppe der „Mechanisten“, welche meinten, dass die Phänomene der Welt im Prinzip vollständig auf physikalische Phänomene „reduziert“, oder zumindest auf diese zurückgeführt werden können:
- „Die Veränderungen im Organismus, die physiologische Ursache hat einen bestimmten Wunsch erzeugt.“ (Theorie des historischen Materialismus S. 27)
Die Begründung liegt in der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Erscheinungen:
- „Wenn die gesellschaftlichen Erscheinungen gesetzmäßig sind und wenn sie das Resultat von menschlichen Handlungen sind, so müssen also auch die Handlungen jeder Einzelperson von irgendetwas abhängig sein. Man kommt also dazu, dass der Mensch und sein Wille nicht frei sind, sondern gebunden, ebenfalls Gesetzen unterworfen sind.“ (ebda. S. 25)
Der einzig richtige Standpunkt ist für Bucharin der Determinismus, wobei er diesen vom Fatalismus Kautsky’scher Prägung unterscheidet. Denn „der Fatalismus ist der Glaube an das blinde, unvermeidliche Los, das ‚Schicksal’, das über allem lastet, dem alles unterworfen sei.“ Anstatt des blinden, unvermeidlichen Los setzt er die blinde, unvermeidliche historische Notwendigkeit.
Sein Verständnis des Marxismus verneint den Willen des Menschen nicht grundsätzlich, der Wille des Menschen ist aber direkt und unmittelbar von seinem ökonomischen Sein bestimmt. Der Marxismus erklärt den Willen des Menschen und er kann ihn erklären, weil er unvermeidlich aus einer historischen Notwendigkeit erwächst:
- „Wenn die Marxisten die kommunistische Partei organisieren und in den Kampf führen, so ist dies ebenfalls ein Ausdruck der historischen Notwendigkeit, die sich eben durch den Willen und die Handlungen der Menschen ausdrückt.“ (ebda. S. 47).
Seine einseitige Antwort auf die Frage nach entweder ‚Kausalität oder Teleologie’ oder ‚Determinismus oder Indeterminismus’ - „Wir müssen also entscheiden welcher Standpunkt der richtige ist.“ – führt zu einem völlig mechanischen Marxismus in der marxistische Dialektik keinen Platz hat. In ähnlicher mechanischer Weiser beschreibt er seine Interpretation der Dialektik.
[Bearbeiten] Gleichgewicht (gegen dialektischer Kampf)
Nach der Oktoberrevolution und dem kapitalistisch-wirtschaftlichen Kollaps in Russland stellte sich Bucharin die Frage, wie es die Gesellschaft schafft, trotz des Kollaps zu überleben, und was die Basis für ein stabiles Sozialsystem sei.
Von Marx beeinflusst, argumentiert Bucharin, dass Veränderungen durch interne Widersprüche, beziehungsweise ihrem Kampf zu Stande kommen. Doch während Marx in seinem dialektischen Materialismus die Veränderung betont, betont Bucharin die Stabilität – das Gleichgewicht der Widersprüche. Er entwickelt seine Theorie durch seine Beobachtungen in der Naturwissenschaft.
Tiere sind an ein bestimmtes Milieu angepasst. Der Fisch ans Wasser. Der Maulwurf an die Erde. Würde die Tiere in ein anderes Milieu geworfen, würden sie sofort zu Grunde gehen. Ähnlich ist es auch bei den Bewegungen der Himmelskörper. Die Erde kreist um die Sonne und fällt nicht auf sie darauf.
- „Eine ähnliche Erscheinung nehmen wir schließlich auch in der Gesellschaft wahr. Ob recht oder schlecht, die Gesellschaft existiert in der Natur: mehr oder weniger ist sie an sie ‚angepaßt’, befindet sich so oder so im Gleichgewicht mit der Natur. Auch die verschiedenen Teile der Gesellschaft sind immerhin, soweit die Gesellschaft lebt, so aneinander angepasst, daß ihre gleichzeitige Existenz möglich ist: wie viel Jahre bestand doch der Kapitalismus mit den Kapitalisten und den Arbeitern! Aus allen diesen Beispielen, wird ersichtlich, daß es sich eigentlich um eines und dasselbe, nämlich um das Gleichgewicht handelt.“ (ebda. S. 74)
Dieses Gleichgewicht ist nicht absolut unveränderlich – er beschreibt es als Gleichgewicht in Bewegung. Die dialektische Triade von These, Antithese und Synthese wird bei Bucharin verformt, so dass das ursprüngliche Gleichgewicht, die These, von einer außerhalb ihr liegenden Antithese verneint wird und so zu einer höheren Ebene (ein neues Gleichgewicht), der Synthese gelangt. Veränderung fließen nicht mehr, wie bei Heraklit, Hegel oder Marx, sie hüpfen von einer stabilen Ebene zur nächsten.
Diese Anschauung deckt sich mit seiner Anschauung als Kriegskommunist, wo er meinte, dass das kapitalistische Gleichgewicht im Westen nur durch einen revolutionären Krieg von außerhalb aus der Bahn geworfen werden konnte.
Während für Lenin beispielsweise aufgrund seiner marxistisch-dialektischen Sichtweise die Möglichkeit bestand, dass die Diktatur des Proletariats und Staatskapitalismus nebeneinander existieren konnten, existierte für Bucharin ein ganz klarer Bruch zwischen dem einem Gleichgewichtssystem (Diktatur des Proletariats) und dem anderen (Staatskapitalismus).
So ist es nicht allzu verwunderlich, dass während des Kriegskommunismus Bucharin alles daran setzte, dass die gesellschaftliche Notwendigkeit in der nächsten Ebene vollzogen wird und er sich in völlig voluntaristischer Weise in den Kampf stürzte, dass sich die Vorbestimmung erfüllte. Doch als für ihn die nächste Stufe - durch die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik 1921 – erreicht worden war, setzte er alles daran, dass dieses neue Gleichgewicht (der Sozialismus) nicht gestört wird. Er wurde so zu einem wichtigen Vertreter der Neuen Ökonomischen Politik – die Sicht auf ihre kapitalistische Tendenz war aufgrund seiner philosophischen Anschauung für ihn versperrt.
[Bearbeiten] „Rechter Abweichler“
Im Dritten Moskauer Schauprozess wurde er 1938 schließlich in der Anklage gegen den „Block der Rechten und Trotzkisten“ als Verräter, als „rechter Abweichler“ hingerichtet. Nach dem Rückzug Lenins aus der Politik – er war schwer krank – 1923, bildete er zunächst gemeinsam mit Stalin einen Block gegen die TrotzkistInnen. Vor allem in der Frage der Neuen Ökonomischen Politik opponierte Bucharin strikt gegen Trotzki, für den die NÖP, nur im Rahmen von einer Taktik gesehen wurde, die die NÖP als taktischen Schritt zurück empfand, um Kraft für die Fortführung der Revolution zu tanken. Bucharin dachte, dass mit der NÖP eine sozialistische Wirtschaft wuchs. Als Stalin die privatkapitalistischen Tendenzen der NÖP erkannte, reagierte er um 1928, um sich und die sich neu geschaffene herrschende Bürokratenklasse zu verteidigen, mit der Abkehr von der NÖP und der „Kollektivierung“ (in Machtnahme vom bürokratischen Staat) der Landwirtschaft. Für Bucharin war die Abkehr von der NÖP eine Abkehr vom Aufbau des Sozialismus in Russland. Er opponierte gegen Stalin.
[Bearbeiten] Die Neue Ökonomische Politik (NÖP)
Bucharins erste Reaktion auf die NÖP 1921 war immer noch die eines Kriegskommunisten. Zunächst dachte er, dass die NÖP nötig ist, um den hungernden Bauern Zugeständnisse zu machen, das sie sonst das Schicksal der ungarischen Revolution folgen würden. Doch in seinem Buch Der Weg zum Sozialismus, 1925 portraitierte er die NÖP als Abkehr vom direkten Weg zum Kommunismus, ein Umweg über eine solche „unorthodoxe“ Politik musste gemacht werden, wie er auch am XVI. Kongress der KPdSU formulierte:
- „Ich wiederhole, ich bestehe darauf, die Notwendigkeit der Kriegspolitik führte unweigerlich zum Fall der Produktion in der ökonomischen Sphäre, doch jetzt wo das politische Ziel erreicht ist, wo unsere Macht gefestigt und die Diktatur des Proletariats errichtet ist – die Hegemonie des Proletariats ist ein sicheres Faktum und jetzt besteht nur mehr die Notwendigkeit die Produktivität voranzutreiben, um die Diktatur des Proletariats aufzubauen.“ (zitiert nach The Tragedy of Bukharin [eigene Übersetzung aus dem Englischen])
Die historische Notwendigkeit – jetzt wo „Sozialismus“ erschaffen ist – besteht darin, die Produktivität voranzutreiben.
Am elften Parteitag der KPdSU 1922 stellte Bucharin fest, dass „wir unsere eigen staatssozialistische Produktion“ selbst aufbauen. Hier verneinte er erstmals seinen Internationalismus und folgerte, dass der Aufbau des Sozialismus in einem Land möglich ist. In Der Weg zum Sozialismus setzte er noch eines drauf:
- „Je mehr wir selbst expandieren .. umso größer wird die proletarische Teilung [der Arbeit], und wenn wir weiter wachsen, werden wir am Ende des Tages die kapitalistische Produktion aufschlucken. Dieser Tag wird den finalen Sieg des Kommunismus markieren.“
[Bearbeiten] Sozialismus in einem Land
Stalin hatte die Theorie des Sozialismus in einem Lande in seinem Text Zu den Fragen des Leninismus entwickelt. Bucharin lieferte mit seinem Engagement für die Neue Ökonomische Politik und seinen Werken Die Ökonomik der Transferperiode und Der Weg zum Sozialismus eine Vorlage für Stalins Theorie. Eine Begründung, warum der Aufbau des Sozialismus möglich war gab Stalin selbst nicht. Auch die intellektuelle Verteidigung dieser Theorie übernahm Bucharin, er versucht es wie folgt zu erklären:
- „Wegen der Klassenunterschiede innerhalb unseres Landes, wegen unserer technischen Rückständigkeit [werden wir] nicht zugrunde gehen, … den Sozialismus [können wir] selbst auf dieser elenden technischen Basis aufbauen, … dieses Wachstum des Sozialismus [wird] vielleicht viel langsamer vor sich gehen, … wir [werden] in seinem Aufbau vielleicht nur mit Schneckenschritten vorwärts schreiten, aber wir werden ihn vollenden.“ (Bucharin in einem Diskussionsbeitrag auf dem 14. Parteitag der KPdSU(B) im Dezember 1925, zitiert nach Trotzki, Leo: Sozialismus in einem Lande; Trotzki Schriften 1.2, S.995)
Durch die Isolation der russischen Revolution und des damit einhergehenden Absterbens entwickelten sich starke innerparteiliche Oppositionen gegen den aktuellen politischen Kurs (am berühmtesten wohl die TrotzkistInnen). Die Antwort Stalins und Bucharins war die Säuberung der Partei:
- „Besteht aber eigentlich eine wirkliche Gefahr einer kleinbürgerlichen Umgestaltung unserer Partei? Ja, sie besteht. Warum besteht sie? Weil das Proletariat selbst sich zersplittert und „verkleinbürgerlicht“. Um diesen Prozeß zu liquidieren, [müssen] wir gleichzeitig unsere Partei säubern.“ (Bucharin, Nikolai I.: Die Partei der Arbeiterklasse, 1921.)
[Bearbeiten] Kampf gegen die Parteidemokratie
Selbst Bucharin, der als Herausgeber der "Prawda" auf Seiten der Führung stand, beschrieb das typische Funktionieren der Partei als völlig undemokratisch:
- „...die Sekretäre der örtlichen Organisationen werden für gewöhnlich von den Distriktkomitees ernannt; dabei muß man beachten, daß die Distriktkomitees noch nicht einmal nach der Zustimmung der örtlichen Organisationen für die Kandidaten fragen, sondern sich damit begnügen, diesen oder jenen Genossen zu ernennen. Bei der Abstimmung benutzt man gewöhnlich die sicherste Methode. Man fragt die Versammlung "Wer ist dagegen?" und je nach dem, ob einer mehr oder weniger Angst hat, dagegen zu sprechen, wird dann der vom Distriktkomitee ernannte Kandidat gewählt...“
Doch diese innerparteiliche Diktatur, von Trotzki stark kritisiert, war für Bucharin im Kampf gegen die innerparteilichen Fraktionen notwendig. Bucharin verfasste dazu in der Prawda eine Artikelserie namens Nieder mit der Fraktionsmacherei. Anfangs unterstütze Bucharin Stalin mit diesem Kurs, doch später als er sich gegen Stalins „Kollektivierung“ wandte, traute er sich – er wusste, wie die Säuberung durchgeführt wurde – nicht mehr offen zu opponieren.
[Bearbeiten] Bucharinismus nach Bucharin
Seit Gorbatschows Perestrojka galt das Bucharinsche Modell vielen als historische Alternative zum Stalinismus. Grundlage für diese Sichtweise ist, dass Bucharin die ideologische Grundlage der sogenannten Neuen Ökonomischen Politik (NÖP oder russisch NEP) lieferte, die Kleinunternehmertum zuließ, um die katastrophalen Folgen des Bürgerkriegs aufzufangen, 1928 aber mit Beginn der Zwangskollektivierung endete. Dabei wird aber übersehen, dass Bucharin selbst jede Abweichung von der Parteilinie energisch bekämpfte und der Herausbildung des totalitären stalinistischen Systems ideologisch den Boden bereitete. (vgl. Söndgen, Klaus, Bucharinismus und Stalinisierung. Zur politischen Bedeutung N.I. Bucharins in der Übergangsperiode 1927-1929, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 43 (1995) H.1, S. 78-96)
[Bearbeiten] Werke (Auswahl)
- Die politische Ökonomie des Rentners. Die Wert- und Profittheorie der österreichischen Schule (1913/14)
- Imperialismus und Weltwirtschaft (1914/15) - online lesen
- Das Programm der Kommunisten (Bolschewiki) (1918)
- Das ABC des Kommunismus (gemeinsam mit Eugen Preobraschenski 1919) - online lesen
- Die Ökonomik der Transformationsperiode (1920)
- Theorie des historischen Materialismus. Gemeinverständliches Lehrbuch der marxistischen Soziologie (1922)
- Der Weg zum Sozialismus (1925)
- Der Imperialismus und die Akkumulation der Kapitals (1925).
- Bucharin, Lenin, Trotzki, Stalin, Sinowjew, Preobrascheskij u.a (Originaltexte) in: Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-1928, herausgegeben und eingeleitet von Ulf Wolter, 5 Bände, Verlag Olle & Wolter, Berlin 1975-1978, ISBN 3-921241-08-1
- Literatur von und über Nikolai Iwanowitsch Bucharin im Katalog der DDB
[Bearbeiten] Literatur
[Bearbeiten] Sekundärliteratur
- Löwy, Adolf G., Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Leben und Werk Nikolai Bucharins, Wien 1990.
- Hederer, Wladislaw, Nikolai Bucharin. Bibliograpie. Mainz 1993
- Söndgen, Klaus, Bucharinismus und Stalinisierung. Zur politischen Bedeutung N.I. Bucharins in der Übergangsperiode 1927-1929, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 43 (1995) H.1, S. 78-96
- Bucharina, Anna Larina, Nun bin ich schon weit über zwanzig. Erinnerungen, Göttingen 1989
[Bearbeiten] Englischsprachige Sekundärliteratur
- Cohen, Stephen: Bukharin and the Bolshevik Revolution: A political biography, Oxford 1971.
- Anna Larina, This I cannot forget: The Memoirs of Nikolai Bukharin’s Widow, New York 1993.
- Gluckstein, Donny: The Tragedy of Bukharin, London 1994.
[Bearbeiten] Weblinks
- Literatur von und über Nikolai Iwanowitsch Bucharin im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Link zu Bucharins Werken
- Ebenso Werke Bucharins
- Brief Bucharins kurz vor seiner Verurteilung
Personendaten | |
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NAME | Bucharin, Nikolai Iwanowitsch |
ALTERNATIVNAMEN | in russische Sprache: Николай Иванович Бухарин |
KURZBESCHREIBUNG | sowjetischer Politiker und marxistischer Theoretiker |
GEBURTSDATUM | 9. Oktober 1888 |
GEBURTSORT | Moskau |
STERBEDATUM | 15. März 1938 |
STERBEORT | Moskau |