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Tristan (Thomas Mann)

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Tristan ist eine 1903 erschienene Novelle des deutschen Schriftstellers Thomas Mann.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Inhalt

[Bearbeiten] Vorstellung der Protagonisten

Der einsame Schriftsteller Detlev Spinell hat sich in das Sanatorium Einfried zurückgezogen. Als Literat war er erfolglos geblieben. Seine einzige Veröffentlichung bestand in einem schmalen Roman „gedruckt auf einer Art von Kaffeesieb-Papier, mit Buchstaben von denen jeder aussah wie eine gotische Kathedrale“, der in „mondänen Salons (…) voller erlesener Gegenstände“ spielte. Überhaupt ist Spinell ein seltsames ästhetisches Empfinden zueigen, das ihn häufig aus fragwürdigem Anlass in ein „Wie schön! Gott, sehen Sie, wie schön“ ausbrechen lässt. Auch im Haus Einfried schreibt er mit Leidenschaft, bekommt auf seinen umfangreichen Postausgang aber höchst selten Antwort. Der Klinikleiter, Dr. Leander, verachtet seinen merkwürdigen Gast, und einer der Patienten nennt ihn gar den „verwesten Säugling“.

Eines Tages trifft Gabriele Klöterjahn ein, die Gattin eines hanseatischen Kaufmanns. Seit der Geburt ihres kraftstrotzenden und damit ganz nach seinem Vater geratenen Sohnes Anton hat die kränkliche Frau Probleme mit der Luftröhre, möglicherweise auch mit der Lunge, die sie hier im Sanatorium zu kurieren gedenkt. Bald gesellt sich die farblose, schwerhörige Rätin Spatz an ihre Seite, deren Funktion sich darauf beschränkt, alles, was ihre Gefährtin sagt, zu bestätigen.

Spinell fühlt sich sehr bald von Frau Klöterjahn angezogen, fragt sie neugierig über Herkunft und Umfeld aus. Er erfährt, dass sie früher Klavier gespielt habe, dies aber aufgegeben habe. Weiter erzählt Frau Klöterjahn, wie sie ihren Mann kennengelernt habe: Mit Freundinnen sei sie im elterlichen Garten gesessen, „jämmerlich verwildert und verwuchert und von zerbröckelten, vermoosten Mauern eingeschlossen (…) in der Mitte ein Springbrunnen, von einem dichten Kranz von Schwertlilien umgeben“. Sie hätten gehäkelt, als ihr plötzlich ihr Vater einen jungen Geschäftsfreund vorgestellt habe, in den sie sich verliebt habe und den sie gegen den Widerstand ihrer Eltern geheiratet habe. Spinell zeigt sich von der Gartenszene tief beeindruckt und schmückt sie schwärmerisch mit Details aus. Gewiss hätten sie gesungen, und wenn er, Spinell, dabei gewesen wäre, hätte er in Gabrieles Haar eine „kleine, goldene Krone, ganz unscheinbar, aber bedeutungsvoll“ blinken sehen. Angetan von seiner neuen Bekanntschaft beteuert Spinell, dass die „Peitsche verdient“, wer die ehemalige Frau Eckhof mit ihrem nunmehrigen Namen Klöterjahn nennen wollte.

[Bearbeiten] Der Klaviernachmittag

Während eines Schlittenausflugs der anderen Patienten trifft Spinell im Salon Frau Klöterjahn in Gesellschaft der gelangweilten Rätin Spatz. Nach einigem Zureden gelingt es ihm, sie zu etwas Klavierspiel zu überreden. Nach einigen Nocturnes entdeckt Spinell die Partitur von Wagners Tristan und Isolde. Frau Klöterjahn wählt das Sehnsuchts-, dann das Liebesmotiv, „spielte mit preziöser Andacht, (…) hob demütig (…) das Einzelne hervor, wie der Priester das Allerheiligste über sein Haupt erhebt. (…) Zwei Kräfte, zwei entrückte Wesen strebten in Leiden und in Seligkeit nacheinander und umarmten sich in dem verzückten und wahnsinigen Begehren nach dem Ewigen und Absoluten“. Nicht einmal der gespensterhafte kurze Auftritt der verwirrten Patientin Höhlenrauch vermag das überwältigende Erlebnis zu stören. Kurz vor Rückkehr der Ausflugsgesellschaft fällt Spinell vor Gabriele auf die Knie.

[Bearbeiten] Der Brief

Da sich Frau Klöterjahns Zustand verschlechtert, kehrt ihr Gatte wieder, bringt das Söhnlein Anton auf dem Arm. Der Anblick der beiden naiv-vitalen Menschen wird Spinell zur Qual. Noch ganz unter dem Eindruck des gemeinsamen Klaviernachmittags schreibt er an Klöterjahn einen gedrechselten Brief. Wortreich beschwört er das ihm aus Gabrieles Erzählungen bekannte Idyll im Eckhofschen Schwertliliengarten herauf, die „rührende und friedevolle Apotheose, getaucht in die abendliche Verklärung des Verfalls“, um sodann Klöterjahn einen „unbewußten Typus“ zu schelten, einen „plebejischen Gourmand“, der besitzen und entweihen will statt ehrfurchtsvoll zu „schauen“. „Die müde, scheue, in erhabener Unbrauchbarkeit blühende Schönheit des Todes“ habe er „in den Dienst des gemeinen Alltags (…) erniedrigt.“. Während Gabriele dahinsterbe, würde der kleine Anton „die niedrige Existenz seines Erzeugers“ fortsetzen.

Daraufhin sucht Klöterjahn den Dichter persönlich auf, bezeichnet ihn als „Hanswursten“ und „Feigling“, zitiert dabei fortwährend in verballhornender Weise aus Spinells Brief, den er einen „Wisch voll blödsinniger Injurien“ nennt. Dass Spinell ein verschrobenes Subjekt sei, sei ihm aus Gabrieles Briefen bekannt, seine Intrigen würden ihm indes nichts nützen, vielmehr behalte er, Klöterjahn, sich rechtliche Schritte vor. Er habe, wie er mehrfach beteuert, „das Herz auf dem rechten Fleck“. Sein Wortschwall wird erst durch das Eintreten der Rätin Spatz beendet, die Klöterjahn an das Bett seiner Frau ruft. Deren Zustand habe sich dramatisch verschlechtert, sie leide nun doch an der Lunge. Dass ihr Tod bevorsteht, bleibt unausgesprochen, wird dem Leser aber zur Gewissheit.

Während des anschließenden Spaziergangs trifft Spinell mit dem kleinen Anton Klöterjahn zusammen, den angesichts dessen „ein Anfall animalischen Wohlbefindens packte“. Spinell macht kehrt und geht von dannen, „mit dem gewaltsam zögernden Schritt jemandes, der verbergen will, dass er innerlich davonläuft“.

[Bearbeiten] Interpretation

[Bearbeiten] Thematik

Zentrales Thema der Novelle ist der Konflikt zwischen zu Krankheit und Tod neigender Geistigkeit des Künstlertums einerseits und der vital-lebensfrohen Körperlichkeit der „realen“ Bürgerwelt, zwei Prinzipien die durch die Hauptprotagonisten, den Dichter und hanseatischen Kaufmann, idealtypisch repräsentiert werden. Das Thema hat Thomas Mann wiederholt beschäftigt, in ganz besonderem Maße im Zauberberg.

Auch im Übrigen enthält der Tristan einige Vorgriffe auf das ungleich berühmtere Hauptwerk seines Autors. Unübersehbar sind die Parallelen zwischen dem Haus Einfried, ein Einsamkeit und Frieden verheißendes Sanatorium für Lungenkranke, und dem in den Davoser Alpen gelegenen Berghof. Der gebieterisch-autoritäre Klinikleiter Hofrat Behrens klingt im Tristan bereits als Dr. Leander an. Auch die „Liegekuren“, die „ganz in Decken und Pelzwerk verpackte“ Patienten dem „sonnigen Frost auf der Terrasse“ aussetzen, die schrulligen Mitbewohner, die Winterausflüge in die Umgebung, all das greift der Welt des Zauberbergs vor.

Überwölbt wird das ganze durch das den Zeitgenossen nicht zuletzt aus Wagners Oper bekannte Tristan-Motiv, die Symbolik einer unglücklichen Liebe, die in den Tod führt. Thomas Mann parodiert hier den Wagner-Kult am Anfang des 20.Jahrhunderts, nicht aber Wagners Werk selbst.

[Bearbeiten] Figuren

[Bearbeiten] Spinell

Mit Detlev Spinell karikiert Thomas Mann den amoralischen Ästhetizismus. Der Schriftsteller hat nicht mehr als ein Buch vorzuweisen, mehr ein Heft als ein Buch, gedruckt in übergroßen Lettern. Der Text beschreibt schwulstig erlesene Kunstgegenstände und üppige Interieurs. Das schmale Œuvre kompensiert Spinell, indem er banale Gelegenheiten zum Anlass nimmt, in theatralische Schwärmerei über Schönheit auszubrechen. In seiner Erscheinung wirkt er nicht sehr vital, nicht viril, eher kastradenhaft. Groß, plump, mit großen Füßen und ohne Bartwuchs wird er hinter seinem Rücken "der verweste Säugling" genannt. Frühlingsluft macht ihn „matt und zur Verzweiflung geneigt“, der gemeinsamen fröhlichen Schlittenfahrt verschließt er sich. Mit Spinell greift Thomas Mann das Décadence-Motiv auf, wonach Geist und Bildung häufig mit Krankheit einhergingen, während gesunde und naive Menschen den Geist nicht nötig haben.

Sein Name deutet auf ein Mineral hin, lässt aber auch Anklänge an „Spinner“ erkennen, womöglich auch an „Spinne“. Spinell umspinnt Gabriele, verführt sie zu dem für sie tödlichen Klavierspiel. Moralische Skrupel hat Spinell dabei nicht. Kunst und Schönheit bedeuten ihm mehr als Leben und Gesundheit.

Vorlage für die äußere Erscheinung Spinells soll der Schriftsteller Arthur Holitscher gewesen sein.

[Bearbeiten] Herr Klöterjahn

Herr Klöterjahn verkörpert Lebenstüchtigkeit und Vitalität. Er hat „das Herz auf dem rechten Fleck“, weiß Wörter wie „Kaffee“ oder „Bottersemmeln“ in einer genussvollen Art auszusprechen, die Spinell Unbehagen bereitet. „Klöten“ ist das niederdeutsche Wort für Hoden. Dem Leser bleibt kein Zweifel, dass Klöterjahn einst in seinem Sohn seine unverfälschte Fortsetzung finden wird. Insofern ist es kein Wunder, dass der kränklich-welke Spinell den Namen schmäht, ungeachtet er – anders als sein eigener – in der Welt Kredit verleiht.

Gegenüberstellungen wie Spinell und Klöterjahn, allerdings noch nicht so ironisiert, hat Thomas Mann schon vorher motivisch ausgeführt: Hanno Buddenbrook und sein Freund Kai Graf Mölln, Tonio Kröger und dessen Schulfreund Hans Hansen.

[Bearbeiten] Gabriele Klöterjahn

Gabriele Klöterjahn, die „femme fragile“, trägt den überirdisch-zarten Namen des Erzengels Gabriel. Zu Beginn der Novelle steht sie vollständig unter dem Einfluss ihres Mannes, wird häufig auch lediglich als „Herrn Klöterjahns Gattin“ bezeichnet. Wenn sie auch in ihrer Jugend geistigen und kulturellen Dingen durchaus aufgeschlossen gewesen war und etwa Klavier gespielt hatte, war sie der Faszination ihres tatkräftigen Gatten sehr bald erlegen, hatte ihn insbesondere bewusst und gegen den Widerstand ihrer Eltern erwählt und sich seiner Lebensart angepasst. Spinell gelingt es, die Relikte in Gabrieles Persönlichkeit freizulegen; während sie am Klavier des Sanatoriums den „Tristan“ spielt tritt ihr eigentliches Wesen wieder zutage, das sie freilich aus der selbstsicheren Welt ihres Mannes weg und letztlich in den Tod führt.

[Bearbeiten] Literatur

  • Thomas Mann, Tristan, in: Der Tod in Venedig und andere Erzählungen, Frankfurt 1954, ISBN 3596200547
  • Jehuda Galor, Tristan, in: Interpretationen Thomas Mann, Stuttgart 1993, ISBN 3150088100
  • Wolfdietrich Rasch, Thomas Manns Erzählung Tristan, in: ders., Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart 1967, S. 146-185.
  • Peter Paintner: Erläuterungen zu Tristan Tonio Kröger Mario und der Zauberer. Bange, Hollfeld, 1984, ISBN 3-8044-0307-7
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