Volkszählungs-Urteil
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Als Volkszählungsurteil wurde eine Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1983 (AZ. 1 BvR 209, 269, 362, 420, 440, 484/83) bekannt, mit der das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der Menschenwürde etabliert wurde. Das Urteil gilt als Meilenstein des Datenschutzes. Anlass war eine für April bis Mai 1983 geplante, aufgrund des Verfahrens erst 1987 modifiziert durchgeführte Volkszählung in der Bundesrepublik Deutschland.
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[Bearbeiten] Entwicklung
Nach den Bestimmungen des Volkszählungsgesetzes sollte im Frühjahr 1983 eine Volkszählung in Form einer Totalerhebung stattfinden. Die Erfassung sollte durch Beamte oder Beauftragte der öffentlichen Verwaltung von Tür zu Tür erfolgen, da ein Registerabgleich durch die Behörden als zu fehleranfällig angesehen wurde. Neben der vollständigen Kopfzählung war auch die Erhebung weiterer Angaben beabsichtigt.
Gegen das Gesetz wurden mehrere Verfassungsbeschwerden erhoben. Am 12. April 1983 fand die erste mündliche Verhandlung vor dem ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts statt, welcher am darauf folgenden Tag per Erlass einer einstweiligen Anordnung die Durchführung des Volkszählungsgesetzes bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden aussetzte (BVerfGE 64, 67).
Sowohl die Bundesregierung als auch alle Länderregierungen mit Ausnahme des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg hielten das Gesetz und das Vorhaben für verfassungsgemäß.
Dem widersprach das Bundesverfassungsgericht: Nach weiteren mündlichen Verhandlungen am 18. und 19. Oktober 1983 stellte es in seinem Urteil vom 15. Dezember 1983 (BVerfGE 65, 1) fest, dass zahlreiche Vorschriften des Gesetzes erheblich und ohne Rechtfertigung in Grundrechte des Einzelnen eingriffen. Diese Vorschriften erklärte es für nichtig und das gesamte Gesetz für verfassungswidrig, da es die Beschwerdeführer in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzte. Das Bundesverfassungsgericht leitete dieses Recht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit) und aus Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes (Unantastbarkeit der Menschenwürde) ab.
[Bearbeiten] Kernaussage
Die Anerkennung des informationellen Selbstbestimmungsrechts als von der Verfassung geschütztes Gut begründet das Bundesverfassungsgericht aus der Gefährdung der freiheitlichen Grundordnung durch vom Betroffenen unbeherrschte Datensammlungen unter den Bedingungen moderner Informationstechnik. Wer nicht wisse oder beeinflussen könne, welche Informationen bezüglich seines Verhaltens gespeichert und vorrätig gehalten werden, passe aus Vorsicht sein Verhalten an. Dies beeinträchtige nicht nur die individuelle Handlungsfreiheit sondern auch das Gemeinwohl, da ein freiheitlich demokratisches Gemeinwesen der selbstbestimmten Mitwirkung seiner Bürger bedürfe. Die zentrale Stelle der Entscheidung (unter C II 1 a) lautet:
„Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. […] Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist. Hieraus folgt: Freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus. Dieser Schutz ist daher von dem Grundrecht des Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG umfaßt. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.“
Informationelle Selbstbestimmung bedeutet damit Herrschaft des Betroffenen über alle Daten und jede Verwendung. Einschränkungen sind nur auf gesetzlicher Grundlage zulässig. Ausdrücklich stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass es „kein belangloses Datum“ gebe. Vielmehr bedürfe die Verwendung aller personenbezogener Daten einer besonderen Rechtfertigung.
[Bearbeiten] Auswirkungen
Einfluss hatte das Volkszählungsurteil insbesondere auf die Novelle des Bundesdatenschutzgesetzes von 1990 und die jeweiligen Datenschutzgesetze der Länder.
Daneben wurde das Bundesstatistikgesetz und die entsprechenden Ländergesetze sowie unzählige Gesetze über Einzelstatistiken nach den Vorgaben des VZ-Urteils gestaltet, dies geht hin bis zu einer Welle baulicher Maßnahmen zur Datensicherheit in den entsprechenden Ämtern.
Dennoch dürfte die ehrgeizige Forderung der Entscheidung vom Vorabend des Orwell-Jahres 1984, den Bürger zum Herren über seine Daten zu machen, nicht erfüllt worden sein.
[Bearbeiten] Literatur
- Ernst Benda, Helmut Simon, Konrad Hesse, Dietrich Katzenstein, Gisela Niemeyer, Hermann Heußner, Johann Friedrich Henschel: BVerfGE 65, 1. In: Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts (Hrsg.): Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. 65, Mohr, Tübingen, S. 1-71, ISSN 0433-7646 (Die wesentlichen Ausführungen zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung beginnen mit Seite 44.)
[Bearbeiten] Siehe auch
[Bearbeiten] Weblinks
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